Vom klugen Umgang mit Gefühlen. Heinz-Peter Röhr

Vom klugen Umgang mit Gefühlen - Heinz-Peter Röhr


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häufiger Kontrollverluste erleben, leiden fast immer an einer grundsätzlichen emotionalen Labilität. Ein nicht gelöster Konflikt, eine Kränkung, die nicht verarbeitet wurde, eine Zurückweisung, eine Störung der Selbstwertentwicklung. Wenn es zu einer dauerhaften Veränderung kommen soll, gilt es, sich mit den Wurzeln dieser Labilität zu beschäftigen, tiefer zu bohren und das Selbstwertgefühl in das Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken, genauer: Die Entwicklung des Selbstwertgefühls.

      Die meisten Menschen haben das Gefühl, dass sie immer die Kontrolle über ihr Verhalten, ihr Denken und Fühlen haben. Psychologische Experimente beweisen nachdrücklich das Gegenteil. Das subjektive Gefühl, selbstbestimmt zu leben, ist weitgehend eine Illusion, ob uns das passt oder nicht. Was wir denken, wie wir uns kleiden, was wir essen, wird von vielen Faktoren bestimmt. Wir leben in einer Zeit, in der bestimmte Denkmuster vorherrschen, die wir unbewusst übernehmen. (Zu jeder Zeit gab es typische Denkmuster; so auch jetzt.) Wie sehr beispielsweise Werbung manipuliert, weiß eigentlich jeder, allerdings hat dieses Wissen zum Vergnügen der Werbeindustrie keine große Wirkung, wir lassen uns weiter »einlullen«. Experten gehen davon aus, dass in den sozialen Medien schon jetzt die Manipulation extrem ist und zerstörerische Kräfte die Demokratie gefährden können.

      Was im großen Stil in der Gesellschaft passiert, gelingt auch im persönlichen Bereich. So saß ich einmal mit einer Gruppe Patienten zum Kaffeetrinken in einem Restaurant. Plötzlich erklärte Frau H., eine spielsüchtige Patientin, dass sie nicht im Raum bleiben könne. Ein Glücksspielautomat in der Ecke mache typische Signale, die sie magisch anzögen. Es sei einfacher für sie, wenn sie den Raum verlasse.

      Ich hatte das Geräusch bis dahin nicht bemerkt, jetzt wurde mir klar, dass der Automat tatsächlich in zeitlichen Abständen mit einer Melodie »Lockrufe« produzierte, für die ich keine »Antenne« hatte. Für Spielsüchtige sind diese Signale jedoch verheerend, da der Drang zum Spielen unwiderstehlich wird. Dieses Arrangement ist nicht die einzige hinterhältige Maßnahme der Spielindustrie, um Spielsüchtige zu verführen. Wenn Frau H. aus der Klemme kommen wollte, müsste sie lernen, dieses Signal zu hassen. Sie müsste augenblicklich realisieren, welches Elend sie durch ihre Spielsucht ertragen musste. Ihr Gehirn würde sie auf diese Weise »umprogrammieren«. Der erste Schritt, den Raum zu verlassen, war richtig; mit etwas Abstand zu einer neuen Haltung zu kommen, wäre die nächste Aufgabe. Hier lässt sich Grundsätzliches erkennen: Solange Frau H. sich diesem lockenden Signal ausgeliefert fühlt, ist sie in der Opferrolle. Die innere Überzeugung lautet: Das Signal ist stärker als ich. Sobald es ihr gelingt, das Signal zu hassen, ist sie in der »Täterrolle«. Die innere Überzeugung lautet: Ich gebe meine Selbstkontrolle nicht an primitive Verführungstechniken ab, ich bin frei, weil ich nicht mehr spiele. Ich hasse Spielautomaten, weil sie mein Leben vergiftet haben.

      Bestimmte Auslöser können zum Kontrollverlust führen. Das gilt tragischerweise auch für Gedanken. Bei Frau H. ist es die Nähe zu einem Glücksspielautomaten, der einen starken Impuls auslöst. Es ist nicht schwierig, diese grundsätzlich zu meiden, indem man sich nicht in ihre Nähe begibt. Für Spielsüchtige während der ersten Phase ihrer Abstinenz ist diese Distanz eine ratsame Maßnahme.

      Das Gehirn produziert permanent Gedanken, und man trägt es immer bei sich. Darum ist es eventuell viel schwieriger, von Gedanken, die zu Kontrollverlusten führen, abstinent zu werden, zumal es einen Magneten zu geben scheint, der diese Gedanken förmlich anzieht. Aber auch hier ist es ratsam, auf das Problem zuzugehen und genau zu erforschen, welche Auslöser dies sind, wie sie benannt werden können. Sie gehören auf den Prüfstand, damit sie einer realistischen Bewertung zugänglich werden. Aus Angst vor der Angst wollen Betroffene mit den entsprechenden Auslösern möglichst nicht in Berührung kommen. Damit ist das eigentliche Problem beschrieben. Aber gerade die Konfrontation und die Auseinandersetzung mit dem Auslöser nimmt das Drama und damit schon viel von der Angst. Ein realistischer Blick auf das Problem hilft, die Dinge anders und besser einzuordnen. Auch hier geht es darum, die Opferrolle zu verlassen und in die Täterrolle zu gelangen. Ohne dass es zu einem Umlernprozess im Gehirn kommt, ist Veränderung nicht denkbar.

      2. Amygdala-Klärung – eine Selbsthilfemethode

      Amygdala-Klärung nenne ich eine Methode, die hilft, die Fehlreaktionen des Mandelkerns zu korrigieren. Sie ist mir bei den Recherchen zum emotionalen Kontrollverlust bewusst geworden. Wer weiß, welche Funktion die Amygdala hat, kann sein Verhalten und seine emotionalen Reaktionen besser verstehen. Wenn es darum geht, mehr Kontrolle über die eigenen Reflexe zu bekommen, ist eine gewisse Form der Aufmerksamkeit hilfreich. Vielen Menschen spielt die Amygdala einen Streich, nämlich dann, wenn sie Alarmzeichen sendet, die zu Angst, Wut oder sonstigen Überreaktionen führen, die der momentanen Situation jedoch nicht angemessen sind. Die Amygdala ist leider sehr häufig für falsche Signale verantwortlich. Sie kann sogar großes Unheil anrichten, nämlich dann, wenn sie ständig Angstsignale sendet, obwohl dafür kein Anlass vorhanden ist.

      Das Leben der meisten Menschen wäre viel einfacher und angenehmer, wenn sie auf ihre unrealistischen, unpassenden, unangemessenen Ängste verzichten könnten. Diese sind überflüssig, können aber das gesamte Leben vergiften.

      Fast jeder kennt die Situation, dass ihn ein mulmiges Gefühl beschleicht, wenn er auf einem hohen Turm steht, in einen tiefen Abgrund schaut, im Fernsehen eine dramatische Szene gezeigt wird, das Flugzeug rasant abhebt. Obwohl man sich in völliger Sicherheit befindet, will die Furcht nicht sofort weichen. Schuld ist die Amygdala, die spontan eine Situation erkannt hat, die als gefährlich identifiziert wurde. Jetzt geht es um die richtige Einschätzung. Zunächst kann man der Amygdala ein Kompliment machen, nämlich, dass sie funktioniert. Solche Einschätzungen, wie sie in diesem Augenblick passieren, können Leben retten. In wirklich gefährlichen Situationen brauchen wir spontane Impulse, die zum Handeln führen. Die Amygdala hat die Aufgabe, das tatsächliche Geschehen mit gespeicherten Inhalten zu vergleichen und Alarm zu schlagen, wenn Gefahr erkannt wird. Nachdenken ist zu umständlich, wertvolle Sekunden sind verloren, und möglicherweise wären dramatische Nachteile entstanden. Während der Autofahrt taucht plötzlich ein Hindernis auf, nur der spontane Tritt auf die Bremse kann einen Unfall verhindern. Der versierte Autofahrer macht dies, ohne nachzudenken. Im Neokortex (der Ort des logischen Denkens) wird die Situation erst anschließend analysiert: Gerade noch mal Glück gehabt; das war knapp; gut, dass ich so wach war … Aber eventuell ist die Chemie im Körper immer noch in Aufruhr, der Schock sitzt tief, die Knie zittern, im Magen ein flaues Gefühl … Allmählich kann man sich wieder beruhigen. Die realistische Einschätzung führt dahin, dass man sich wieder sicher fühlt.

      Was kann man tun, wenn plötzlich ein unliebsames Gefühl entsteht, das nicht ins Geschehen passen will? Man lenkt die Aufmerksamkeit auf die Amygdala und darauf, was hier gerade geschieht.

      Frau T. wird zu ihrem Vorgesetzten gerufen. Spontan überfällt sie Angst, sie fragt sich: Was will er von mir? Werde ich mög­licherweise kritisiert? Habe ich etwas falsch gemacht? Dabei sind ihre Befürchtungen unberechtigt, denn als souveräne Mitarbeiterin waren die Kontakte mit ihrem Chef stets angenehm. Nachdem sie sich mit der Methode Amygdala-Klärung vertraut gemacht hat, stellt sie sich selbst die Frage, ob der Mandelkern ihr gerade wieder einen Streich spielt. Nach kurzem Überlegen ist sie sicher, dass dem so ist. Sie atmet tief durch und lässt ein Grinsen auf ihrem Gesicht erscheinen. Die Ängste verschwinden, sie wird neugierig und überlegt, dass sie mit allem fertigwerden wird.

      Nicht selten stammen Ängste aus der Kindheit und belasten die Psyche im Hier und Jetzt. Hinzu kommen die zusätzlichen Selbstabwertungen, weil man »solche Ängste« hat, weil man sich klein und wenig selbstsicher fühlt. Mithilfe von Amygdala-Klärung wird eine realistische Einschätzung der Situation möglich (»Es ist ja nur die Amygdala, die mir gerade einen Streich spielt, das muss ich nicht ernst nehmen«) und die Angst verschwindet. Frau T. fühlt sich mutiger und kompetenter, als sie ihrem Vorgesetzten entgegentritt. Werden alte Ängste bewältigt, fühlen Menschen sich erwachsener und sicherer. Dies bedeutet, dass sie mehr positive Kontrolle über ihre Ängste gewonnen haben.

      Schon wenn die Frage gestellt wird: Spielt mir die Amygdala gerade einen Streich?, wird die Aufmerksamkeit auf das realistische Denken gerichtet, der Neokortex wird aktiviert. Frau T. kennt diese und ähnliche


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