Von Liebe und Hoffnung. Raphaela Höfner
den Tisch und lief am Tischbein herunter. Sofia hatte die Situation sofort erfasst und wischte das Holz trocken, bevor die Flüssigkeit Flecken hinterlassen konnte.
»Was für eine Feierlichkeit?«, drang die Stimme des Vaters schmerzhaft laut in Hermanns Ohr, da er links neben ihm saß. Meist hatte er die Gewohnheit, sich beim Essen zurückzuziehen, zu schweigen und den anderen den Vortritt bei den Gesprächen zu überlassen, doch dieser Kommentar der Mutter hatte ihn aufhorchen lassen, beinahe rasend gemacht.
»Ich habe dir doch Bescheid gesagt. Der Termin steht schon seit Wochen in unserem Kalender. Sofia sollte auch die ganze Wäsche und unsere Ausgeh-Garderobe vorbereiten. Die Schürzen und Hemden bügeln, die Schuhe putzen.«
»Kommt gar nicht in Frage, dass wir da hingehen. Wir feiern zu Hause Geburtstag! Wie jedes Jahr!«
Hermann blickte zwischen seiner Mutter und seinem Vater hin und her. Eine Auseinandersetzung auf Augenhöhe. Ein offener Kampf. Auch Hannah war von ihrem Stuhl hochgefahren und knetete krampfhaft die Finger im Schoß.
»Der Empfang ist im Rathaus. Jeder, der Rang und Namen hat, wird dort sein. Wir können auf gar keinen Fall absagen. Erich Winter würde sich vor den Kopf gestoßen fühlen.«
»Ich will mitgehen«, mischte sich Karl ein, doch ein vernichtender Blick seines Vaters brachte ihn sofort zum Schweigen.
»Mir ist vollkommen egal, wie der sich fühlt! Wir kennen den Mann doch nicht einmal.«
»Natürlich kennen wir ihn. Du hast seine Frau behandelt und ihn selbst auch!« Theresa unterstrich ihre Aussage, indem sie mit dem Zeigefinger auf ihren Mann deutete.
»Das heißt noch lange nicht, dass ich ihn kenne. Es wäre mir auch egal, wenn er zum Mann im Mond ernannt worden wäre.«
Theresa schnalzte mit der Zunge. »Dass du so abfällig von so einer wichtigen Persönlichkeit sprichst. Und das vor den Kindern!«
»Wichtige Persönlichkeit?« Georg schüttelte den Kopf.
»Jeder wird dort sein«, wiederholte Theresa, ihre Stimme wurde immer lauter, und sie begann, jedes Wort einzeln zu betonen. »Spätestens am Montag werden uns alle fragen, wo wir gewesen sind. Die Kinder werden in der Schule durchlöchert. Aber schön. Wenn du es so haben willst, dann bleib du meinetwegen zu Hause, während wir uns schick machen und auf den Empfang gehen. Ich lasse mir nicht nachsagen, dass ich eine so wichtige Einladung ignoriert habe!«
Georg Sedlmayr schlug noch einmal mit der Faust auf den Tisch, doch seine Lippen blieben stumm. Theresa reckte überlegen das Kinn hoch und rührte in ihrer Teetasse. Sie hatte gewonnen.
Nachdem das Frühstück beendet war, ging Hermann auf sein Zimmer. Er wollte die Zeit bis zum Nachmittag nutzen, um in seinen neuen Büchern zu schmökern. Sein Zimmer blickte Richtung Süden in den Garten hinaus, und so hatte er freie Aussicht auf die Berge. Regale, in denen sich unzählige Bücher türmten und reihenweise Ordner nebeneinander standen, in denen er Zeitungsausschnitte und Bilder sammelte, nahmen eine ganze Wandseite ein. Liebevoll strichen Hermanns Finger über die abgenutzten Buchrücken, während er mit der anderen Hand seine neuen Schätze an ihren Platz im Bücherdschungel stellte. Die Bettdecke war stets akkurat gefaltet, er tat das selbst jeden Morgen, sodass Sofia es nicht erledigen musste. Außerdem mochte er es, wenn das Bett genau so gemacht war, dass sich die Decke und das Kissen nicht berührten. Exakt zwei Handbreit. Er ließ sich auf die Fensterbank sinken und öffnete den medizinischen Atlas. Sein Vater würde sich freuen, wenn Hermann in seine Fußstapfen treten und die Praxis übernehmen würde, und auch er selbst spürte, dass das sein Lebensweg war. Hermann wollte Menschen helfen. Nach wenigen Minuten war er tief versunken in die Lektüre.
Ein sanftes Klopfen an der Tür riss ihn aus seinen Gedanken.
»Hermann?« Sofia steckte vorsichtig den Kopf herein. »Du musst machen dich fertig. Für die Empfang.« Wie schnell die Zeit vergangen war. Die Zeiger der Uhr rasten, wenn er eines seiner Bücher verschlang. Hermann nickte ihr zu und ging ins Badezimmer, um sich seine Haare zu machen. Karl kam ihm schon entgegen. Er hatte sich einen Seitenscheitel frisiert und sah wie ein richtiger Hitlerjunge aus. Der Stolz war ihm anzusehen.
»Versuch es auch einmal mit den Haaren. Sie sind bestimmt nicht zu kurz«, sagte sein Bruder und drückte ihm Pomade in die Hand. Hannah erschien am Treppenrand und lächelte Hermann zu. Wie Theresa es sich gewünscht hatte, trug sie nun das weinrote Dirndl.
»Ich bin gleich so weit«, rief er seiner Schwester zu, die nickte und nach unten ging.
Als Hermann seine Haare endlich in die gewünschte Position gebracht und gebändigt hatte, eilte auch er nach unten. Seine Mutter reichte ihm mit einem Lächeln die neue Trachtenjacke, die er sich überwarf. Darunter blitzten noch die eingestickten Rosen auf seinen breiten Hosenträgern hervor. Das Stadtwappen.
Georg Sedlmayr saß mürrisch im Eingangsbereich, und fast bildete Hermann sich ein, ihn knurren zu hören.
»Na dann wollen wir mal in die Höhle des Löwen«, brummte er, doch Theresa überhörte seinen spitzen Kommentar.
Sofia half Theresa in ihren Mantel und legte einen Wollschal um ihren Hals. Dann öffnete sie die Tür und verabschiedete sich.
Die Kinder quetschten sich zu dritt auf die Rückbank des Wagens, während Theresa vorne auf dem Beifahrersitz Platz nahm. Der Motor schnurrte, und Georg Sedlmayr steuerte das Auto aus der Einfahrt. Am Rande der Straße verhüllten die vollen Äste der Obstbäume die Sicht auf den Himmel. An den wilden Apfelbäumen waren die Knospen aufgesprungen, ein zartes Weiß und ein tiefes Rosarot.
Die Sonne schien warm und freundlich durch die Fensterscheibe, und Hermann schirmte seine Augen ab. Was würde sie wohl erwarten? Bisher kannte er Erich Winter nur aus der Zeitung. Ein paarmal hatte sein Vater über ihn gesprochen, doch selten ein gutes Wort verloren. Er hatte recht. Sie kannten ihn überhaupt nicht.
Der Wagen rüttelte über die Straßen, und Hermann stellte staunend fest, dass viele Bürger auf den Beinen waren. Die meisten trugen prachtvolle Tracht. Die Männer und Jungen Lederhosen, Wadenwärmer und grob gestrickte Trachtenjacken, die Frauen und Mädchen Dirndlkleider mit auffälligen Schürzen. Wie freizügig die neue Mode doch war. An den Menschenmassen erkannte er, weshalb es seiner Mutter so wichtig gewesen war, persönlich beim Empfang zu erscheinen.
Georg Sedlmayr parkte das Auto vor seiner Praxis, da diese nur wenige hundert Meter vom Rathaus entfernt war. Gemeinsam schlossen sie sich der Menschentraube an.
Vor dem Rathaus standen die Bäume in voller Blüte. Die Hakenkreuzflagge hing träge am Fahnenmast. Es war vollkommen windstill. Rechts und links neben dem roten Teppich reihten sich Jungen der Hitlerjugend auf, und Hermann erspähte ein paar bekannte Gesichter. Sie alle streckten den rechten Arm nach oben und schlugen die Hacken zusammen. Einige Mädchen hielten eine bunte Blume in der Hand und winkten fröhlich. Eine Hochstimmung.
Applaus brandete auf und Hermann sah, wie einige Männer vom Rathaus nach draußen traten und den Hitlergruß machten. Alle trugen Uniformen und am Oberarm eine Binde mit dem Hakenkreuz. Der junge Mann in der Mitte musste Erich Winter sein. Selbst aus der Entfernung sah man sein Lächeln und er winkte der Menge verhalten zu. Hermann hatte ihn sich irgendwie größer vorgestellt. Eine große Persönlichkeit. Doch waren nicht auch kleine Männer in der Geschichte zu großen Taten fähig gewesen? Napoleon. Er war das beste Beispiel.
Eine Blaskapelle setzte ein und die Musik wehte zu ihm herüber. Das Summen einer Biene an seinem Ohr mischte sich zu den Trompetenklängen und Hermann schnippte sie sich von der Schulter. Ärgerlich flog sie weiter.
»Wir müssen näher ran«, sagte Theresa Sedlmayr, als die Kapelle verstummte und zog ihren Mann am Ärmel. »Wir haben schließlich eine Einladung.« Sie bahnte sich ihren Weg durch die Menge und die anderen Familienmitglieder hatten Mühe, ihr zu folgen. Elegant wiegte sie die Hüften hin und her, ignorierte Ausrufe, wenn sie jemanden anrempelte, und schaffte es tatsächlich bis ganz nach vorne.
Winter und die anderen Männer waren bereits wieder im Inneren des Rathauses verschwunden.
Theresa hielt den Wachen