Von Liebe und Hoffnung. Raphaela Höfner

Von Liebe und Hoffnung - Raphaela Höfner


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      Sie stützte die Ellenbogen auf dem Fenstersims ab und winkte Sofia zu, die gerade dabei war, den Kies aus der Wiese einzusammeln und ihn wieder auf die Einfahrtsstraße zu werfen. Hannah entfernte einen Fussel von ihrer blütenweißen Bluse. Heute trug sie nicht wie sonst den dunkelblauen Rock, wenn sie zu einem der Treffen des Jungmädelbunds ging, sondern eine dunkelblaue Hose. Ihren Hals zierte ein schwarzes Halstuch mit einem Lederknoten. Die Uniform eines deutschen Mädels. Ihre goldblonden Haare waren wie üblich zu zwei langen Zöpfen geflochten, die ihre Mutter zu Affenschaukeln gebunden hatte. Hannah warf einen letzten Blick in den Spiegel und stellte verzweifelt fest, dass die weiße Bluse gar nicht zu ihrer Gesichtsfarbe passte. Die Haut schimmerte elfenbeinfarben, die Lippen waren blutleer. Allein auf ihre Augen war Verlass. In der ganzen Stadt kannte sie kein Mädchen, das so blaue Augen hatte wie sie. Hastig eilte sie die Treppen nach oben und huschte ins Schlafzimmer der Eltern. Dort stand der große Schminktisch ihrer Mutter. Das Mädchen fischte nach einem roten Lippenstift und tupfte ihn sich auf den Zeigefinger. Bloß nicht erwischt werden. Theresa hielt Schminke für zwölfjährige Mädchen für vulgär. Vorsichtig strich Hannah über ihre Lippen, die endlich einen leichten Rotton erhielten. So sah sie etwas besser aus. Hoffentlich würde es den anderen Mädchen nicht auffallen, dass sie mit Schminke nachhelfen musste.

      Sie legte alles genau so hin, wie sie es vorgefunden hatte, ließ die Tür exakt den Spaltbreit offen, wie Theresa es zu tun pflegte, und eilte dann wieder nach unten. Punkt zehn Uhr. Die Türglocke schrillte. Sie nahm sich eine Jacke vom Haken und trat aus der Haustür. Vor dem Eingangstor erkannte sie Elsa, die ihr zuwinkte.

      »Aufpassen«, rief ihr Sofia auf Russisch zu, als sie für Hannah das Tor öffnete.

      »Ich passe doch immer auf.«

      »Oh, deine Lippen! Wie schön! Hast du Lippenstift drauf?«, schwärmte Elsa, sobald Hannah durchs Tor war.

      »So ein Quatsch.« Ertappt schielte sie zu Sofia hinüber, die wissend die Augenbrauen hochzog und ihr halbseitiges Lächeln lächelte. Bevor sie ins Auto einstieg, flüsterte sie Sofia noch zu: »Verrat mich besser nicht. Mama würde toben.«

      »Ich habe gesagt aufpassen, und du aufgepasst. Sie dich nicht erwischt.« Dann legte sie den Finger auf die Lippen und schloss das Tor.

      Hannah nahm neben Elsa auf der Rückbank Platz. Dabei achtete sie genau darauf, dass sie ihre Hose nicht zerknitterte, obwohl das völliger Unsinn war, da die erste Bergwanderung in diesem Jahr anstand. Wahrscheinlich würde sie hinterher aussehen, als hätte sie sich in einem Schweineauslauf gesult.

      »Guten Morgen, Fritz.« Fritz war so etwas wie eine männliche Sofia. Er arbeitete für Elsas Familie, da beide Elternteile berufstätig waren. Ihr Vater schenkte ihm sogar so viel Vertrauen, dass er das Auto, mitsamt seiner Tochter darin, fahren durfte.

      »Ich wünschte, ich würde so aussehen wie du«, meinte Elsa. Wie bitte? Weshalb sollte Elsa das wollen? Sie war ein Stück größer als Hannah, hatte haselnussbraune Augen und leicht rötliche Haare, die sich wellten. Wenn sie einen Pferdeschwanz trug und die Sonne daraufschien, sahen die Haare aus wie ein Fuchsschwanz. Neidisch stellte Hannah fest, dass sich unter der Bluse ihrer Freundin die ersten Rundungen abzeichneten. Man konnte schon von einem richtigen Busen sprechen, während sie selbst noch den Körper eines Kindes hatte. Elsa war zwar zehn Monate älter, aber es schien Hannah trotzdem ungerecht.

      »Hat deine Mutter dir erlaubt, dass du den Lippenstift benutzen darfst?« Nachdem Elsa ihre beste Freundin war und sie sie ohnehin schon erwischt hatte, zog Hannah es vor, nicht weiter zu schwindeln.

      »Bist du verrückt? Natürlich nicht.«

      Elsa hielt sich kichernd die Hand vor den Mund. »Vielleicht treffen wir heute auf die Jungs. Wenn du einen von ihnen küsst, bekommt er auch ganz rote Lippen.«

      Bei der Vorstellung quiekte Hannah los wie ein Meerschweinchen. Jemanden küssen? Einen Jungen? Allein der Gedanke daran ließ ihr die Röte ins Gesicht schießen.

      Elsa amüsierte sich weiter. »Du wirst ja schon ganz rot. Wen würdest du denn gerne küssen?« Hannah zuckte die Schultern.

      »Jetzt komm schon. Sag es.« Elsa ließ nicht locker.

      »Ich weiß es ehrlich nicht. Sind wir nicht auch noch ein wenig jung?«

      Ihre Freundin schüttelte lachend den Kopf. »Natürlich nicht! Ich habe schon einige Jungen geküsst. Anni und Matilda auch schon. Es macht wirklich jede«, erklärte sie altklug. Hannah kam sich in dem Moment richtig dumm vor. Ein Kleinkind neben Elsa, die bereits einige Jungen geküsst und schon fast den Körper einer Frau hatte. »Naja, ist nicht schlimm. Das kannst du heute nachholen.«

      »Danke, aber ich entscheide selbst, wann ich wen küssen will.« Endlich erwachte Leben in ihr. Elsa entging Hannahs scharfer Unterton nicht und endlich verstummte ihr albernes Gelächter.

      »War doch nicht böse gemeint«, begann sie entschuldigend, doch Hannah blickte stur aus dem Fenster. Warum zum Teufel hatte sie sich den dämlichen Lippenstift ins Gesicht gemalt. Anscheinend kam das einer Einladung zum Küssen gleich. Sie wischte ihn sich vom Mund und verrieb die Farbe an ihrem Handrücken.

      »Soll ich dir sagen, wen ich schon geküsst habe?«

      »Von mir aus.« Hannah wunderte sich, dass Elsa solche Gespräche vor Fritz führte, der sie doch nur daheim zu verraten brauchte.

      »Ich habe Martin, Lenz, Hans …« Elsa überlegte angestrengt und zählte mit den Fingern mit. »Achja, und Alois geküsst.«

      »Vier«, stellte Hannah fest. Was würde ihre Mutter von ihr halten, wenn sie wüsste, dass ihre Tochter schon vier Jungen geküsst hatte? Was würde sie von Elsa halten? Ihrer besten Freundin. Eine Dirne in ihren Augen. Ein Flittchen. Theresa Sedlmayr würde ihr mit sofortiger Wirkung den Kontakt verbieten. Jetzt war es umso wichtiger, dass Fritz den Mund hielt.

      »Soll ich dir sagen, wen ich am liebsten küssen würde?«

      »Wen?«

      »Herbert.« Elsas Augen glitzerten merkwürdig und sie leckte sich mit der Zunge über die Lippen.

      »Bauer?«

      »Ja natürlich Herbert Bauer. Sieht er nicht gut aus?«, schwärmte Elsa weiter.

      »Er ist doch zwei Jahre älter als du.« Herbert erschien vor Hannahs innerem Auge. Groß. Breit. Riesige Bärentatzen. Grimmige Augen.

      »Das ist ja gerade das Gute. Glaubst du, ich küsse irgendwelche Babys? Ich würde alles dafür geben, Herberts Lippen zu berühren. Alles.«

      »Dann mach es doch einfach.«

      »Einfach?« Elsa lachte spitz auf. »Fast alle Mädchen finden ihn toll. Da wird er sich ja nicht gerade mich aussuchen.« Sie klang resigniert.

      »Schau mal, wir sind gleich da«, rief Hannah schnell, um das Thema zu wechseln. Sie wollte nicht zu viele Gedanken an Herbert Bauer verschwenden. Er war ihr bisher immer grob vorgekommen. Sicher nicht der ideale Kusspartner.

      Am Wanderparkplatz warteten schon einige andere Mädchen. Eine der Leiterinnen winkte, als das Auto zum Stillstand kam. Anni und Matilda rannten wie junge Hunde auf sie zu und fielen erst Elsa und dann Hannah um den Hals. Matildas Haare dufteten nach Rose. Jetzt, wo Hannah wusste, dass ihre Freundinnen auf der Suche nach einem Kusspartner waren, machte es Sinn, dass sich alle hübsch gemacht hatten.

      »Du glaubst nicht, wer schon oben auf der Hütte ist«, schrie Anni beinahe.

      »Die Jungs. Sie sind vor zwanzig Minuten los, um oben Feuer zu machen«, kreischte Matilda. Elsa und die beiden anderen Mädchen fassten sich an den Händen und hüpften auf und ab. Hannahs Gedanken schweiften ab, und auf einmal sah sie Jacob vor sich, wie er beim Gekreische von Mädchen den Kopf schüttelte. Warum musste sie jetzt an ihn denken?

      »Abmarsch«, rief ihre Leiterin, die sich mit dem Namen Vroni vorgestellt hatte. Hannah ließ sich absichtlich etwas zurückfallen, da sie die Gespräche über Jungen viel zu anstrengend fand. Außerdem konnte sie sowieso nicht mitreden. Ein unwissendes kleines


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