Von Liebe und Hoffnung. Raphaela Höfner
schnell das Weite und schlängelte sich unter einen moosbewachsenen Stein. Die Singvögel waren wieder da und pfiffen ihre Melodien durch die Wälder. Der Weg war nicht besonders steil, dennoch fielen immer mehr Mädchen zurück, die von Vroni ein Donnerwetter zu erwarten hatten. Als die Bäume langsam lichter wurden, sah Hannah eine Holzhütte, vor der ein großes Lagerfeuer brannte. Elsa, Anni und Matilda quiekten wieder auf, sodass ihr Echo durch den ganzen Wald hallte und ein paar Vögel erschrocken aufflatterten. Mit ungeahnten Kräften begannen sie einen Wettlauf, wer als erste am Feuer war. Hannah schüttelte nur den Kopf. Auch andere Mädchen rannten vor Vorfreude lachend an ihr vorbei und sie stellte überrascht fest, dass sie selbst nun die letzte in der Gruppe war.
»Hallo.«
Das Mädchen fuhr erschrocken herum und sah Jacob, der mit dem Rücken gegen einen der Baumstämme gelehnt stand. Seine Füße steckten in hohen Stiefeln, die voller Erde und durchnässt waren.
»Bist du durch den Wald gerannt?«, fragte Hannah ohne eine Begrüßung.
»Was ist schlimm daran?«
»Ich mein ja bloß. Was machst du überhaupt hier? Du darfst doch gar nicht an den Treffen teilnehmen.«
»Darf ich den Wald auch nicht mehr betreten? Ist das jetzt deiner Meinung nach auch verboten?« Er sah sich um und hob die Hände nach oben. »Dein Wald. Euer Wald!« Er wies mit einem Kopfnicken auf die Gruppe, die oben beim Lagerfeuer war.
»So ein Blödsinn! Geh doch meinetwegen in den Wald. Ich verstehe zwar nicht wieso, aber es ist mir auch egal.«
»Auch wenn es dich nichts angeht, aber ich prüfe die kaputten Bäume. Der Bauer, dem sie gehören, gibt mir Geld, wenn ich es ihm melde.«
»Aha.« Hannah blickte gelangweilt auf ihre Fingernägel.
Jacob lehnte auf einmal nicht mehr am Baum, sondern ging auf sie zu und blieb vor ihr stehen.
»Du bist jetzt also eine von denen.« Spott troff aus seiner Stimme.
»Besser eine von denen, als allein im Wald herumlaufen. Du bist doch ständig allein. Keiner will mehr mit dir befreundet sein.« Sobald die Worte aus ihrem Mund gesprudelt waren, bereute sie Hannah sofort. Jacob sah aus, als wäre er geschlagen worden. Betreten senkte er den Kopf und besah seine Schuhspitzen.
»Weißt du, was das Schlimmste ist? Weißt du es? Ich dachte, du wärst meine Freundin. Aber ich habe mich geirrt.« Er sah ihr direkt in die Augen, während er sprach: »Komm, geh, lauf zu deinen neuen Freunden. Die warten auf dich.« Er drehte sich um und rannte davon.
»Jacob! Jetzt bleib doch stehen! Jacob!«, rief Hannah ihm nach, doch er war bereits zwischen den Bäumen verschwunden. Tränen brannten wie Säure in ihren Augen. Sie fühlte sich schuldig und sie wusste, dass er recht hatte. Noch vor wenigen Wochen hatten sie sich fast jeden Tag nach der Schule getroffen. Jetzt schien sie keine Zeit mehr für ihn zu haben. Die Treffen des BDM fanden immer häufiger statt, und die anderen sahen es nicht gerne, wenn sie sich mit einem Juden traf. Doch war ihr das nicht immer egal gewesen? War sie wirklich eine von ihnen geworden? Hannah wollte Jacob nachlaufen, ihn suchen, doch wo sollte sie anfangen? Sie stapfte in die Richtung, in die er verschwunden war.
»Jacob?« Immer wieder rief sie seinen Namen. Immer lauter und lauter. Keine Antwort. Mittlerweile war die Hose bis zu den Knien voller Matsch. Kälte und Nässe krochen in ihre Schuhe. Alles egal. Als sie Salz im Mund schmeckte, merkte Hannah erst, dass sie weinte. Er war weg.
Das Mädchen ging zurück auf den Wanderweg und marschierte zur Hütte hinauf, den lauten und fröhlichen Stimmen entgegen. Den Liedern, die sie jetzt anstimmten. All ihre neuen Freunde waren dort oben. Sie würden sich bestimmt schon fragen, wo sie blieb.
Je näher sie auf die Gruppe zutrat, umso einsamer fühlte sich Hannah. Jetzt hatte sie ihren einzigen ehrlichen Freund verloren. Einen Freund, den sie seit Kindertagen kannte. Einen Freund, der immer für sie da gewesen war. Hannah fühlte sich elend.
Anfang April 1933
Von Weitem sah man schon, dass die Flagge der Nationalsozialisten vor der Schule im Wind flatterte. Jacob und Simon hielten kurz inne, als sie den Pausenhof betraten, sahen sich an und liefen dann wortlos weiter. Was würde auf sie zukommen? Bereits jetzt waren sie im Klassenzimmer in die letzte Reihe verbannt worden, in der eigentlich nur diejenigen Platz nehmen mussten, die schlechte Zensuren schrieben. Je besser man war, desto weiter rückte man nach vorne. So hatte der Lehrer sofort einen Überblick, wer zu den Dummköpfen und wer zu den schlauen Füchsen gehörte. Jetzt war alles anders. Jacob saß ganz hinten. Nicht weil er dumm war. Nicht weil er schlechte Noten schrieb. Einzig und allein, weil er Jude war.
Ein paar Mitschüler beobachteten, wie sie auf die Fahne reagieren würden, doch Jacob hatte gelernt, seine Wut zu schlucken. Gefühle auszublenden. Zu ignorieren. Obwohl es bei einem Boxkampf hauptsächlich darum ging, den Gegner K.O. zu schlagen, musste man seine Emotionen im Griff behalten. Gingen sie mit einem durch, verlor man. Auch im richtigen Leben. Zeigte man Schwäche, verlor man. So einfach war das.
Jacob fiel es schwer, einige Mitschüler nicht zu beachten, die die Hacken zusammenschlugen und ›Heil Hitler‹ donnerten, als die beiden Jungen an ihnen vorbeigingen. Jacobs Blick wanderte über die Fenster im ersten Stock, in dem sich das Lehrerzimmer befand, und er sah Völkl hinter der Scheibe, der sie beobachtete. Jacob hielt seinem Blick stand, so lange, bis er durch die Eingangstür geschritten war.
Simon klopfte ihm aufmunternd auf den Rücken, bevor er die Treppen nach oben ging, während Jacob gleich nach rechts in den Gang bog, der zu seinem Klassenzimmer führte.
Hannah war schon da. Seit ihrer Begegnung im Wald hatten sie kaum mehr miteinander gesprochen. Sie trug ihr blaues Dirndlkleid mit einer weißen Leinenbluse. Ihr Vater nahm sie in letzter Zeit immer mit zur Schule, wenn er in die Praxis fuhr. Hannah und ihre Freundinnen kicherten und lachten vergnügt. Sie nahm keinerlei Notiz von ihm, als er sich an ihrem Rücken vorbeidrückte und sich auf seinen Platz in der letzten Reihe fallen ließ.
Draußen im Gang hallten die Stiefel des Lehrers. Völkl war auf dem Weg in die erste Stunde. Alle Kinder liefen sofort auf ihre Plätze. Hannah setzte sich neben ihre Freundin Elsa in die erste Reihe. Die beiden schienen wie siamesische Zwillinge verwachsen, man sah sie kaum noch getrennt.
Sobald Völkl über die Türschwelle trat, sprangen alle auf und rissen den rechten Arm nach oben. »Heil Hitler«, riefen sie wie aus einem Mund.
»Heil Hitler«, kam es zurück. Stille kehrte ein.
»Packt eure Sachen weg. Anstelle von Biologie haben wir ab heute ein neues Fach.« Er blickte in die Runde. »Rassenkunde.«
Jacob merkte, wie ihm die Wärme ins Gesicht schoss und sein Herz trommelte. Rassenkunde? Das konnte nicht Völkls Ernst sein.
»Ihr wisst, dass es bei Hunden verschiedene Rassen gibt. Ein Schäferhund, der sehr gelehrig ist, dem man viel beibringen kann, ist nicht mit einem Dackel zu vergleichen. Auch bei Pferden gibt es stolze Reitpferde, mit denen man Preise gewinnen kann, und es gibt gewöhnliche Ackergäule, die einen Pflug ziehen. Hier würde keiner die Tatsache in Frage stellen, dass es Unterschiede zwischen den Rassen gibt, obwohl alle zur selben Tierart gehören.«
Die Klasse lauschte. Viele Kinder hingen interessiert an Völkls Lippen. Jacob beobachtete Hannah, die an ihren Fingernägeln kaute. Er kannte sie schon zu lange. Es war Unsicherheit. Wusste sie, worauf das Ganze hinauslaufen würde? Mochte sie ihn womöglich doch noch?
»Jetzt stellt sich mir die Frage, weshalb es bei Tieren zu dieser Einteilung kommen kann, aber beim Menschen nicht, wo es doch auch bei uns unübersehbare Unterschiede gibt. Auch bei uns gibt es sogenannte Schäferhunde, eine Elite. Und es gibt sogenannte Promenadenmischungen. Viecher, bei denen man besser daran täte, sie als Welpen in einer Regentonne zu ersäufen.«
Herbert Bauer nickte eifrig und drehte sich zu Jacob um. Dem Jungen fiel der Boxkampf ein, bei dem Herbert geschworen hatte, ihn vollständig zu zerstören. Der Zeitpunkt dafür schien näher zu rücken.
»Auch beim Menschen kann man schon allein das Aussehen