Von Liebe und Hoffnung. Raphaela Höfner

Von Liebe und Hoffnung - Raphaela Höfner


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das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Mit den Händen klammerte er sich an seiner Tischkante fest. So fest, dass die Knöchel weiß wurden.

      »Beschäftigen wir uns heute erst einmal mit den äußeren Merkmalen eines Juden. Ein Neger ist schon fast zu einfach. Da könnte mir ein Kleinkind alle Unterschiede sofort aufzählen. Glücklicherweise haben wir auch keinen in der Klasse sitzen.« Er schien in Gedanken zu sein und schüttelte angewidert den Kopf. »Ich werde beim Direktor einen Klassenausflug beantragen, damit wir gemeinsam eine Völkerschau besuchen können. Dann hat jeder von euch die Möglichkeit, sich selbst ein Bild zu machen.« Er rieb die Hände aneinander. »Aber jetzt zu den Juden. Die kennt ihr ja aus dem täglichen Leben. Merkmale?«, fragte Völkl in die Klasse.

      Herberts Hand schoss so schnell in die Luft wie eine Kanonenkugel. Sein Hintern berührte schon gar nicht mehr die Sitzfläche seines Stuhles.

      »Ja, bitte, Herbert?«

      »Juden sind raffgierig, betrügerisch und hinterhältig«, sprudelte es aus ihm heraus und er bleckte die Zähne zu einem kalten Lächeln, während er wieder Jacob anstierte.

      »Ich wollte zwar vielmehr auf die äußeren Merkmale hinaus, aber das ist natürlich alles richtig, was du gesagt hast.« Völkl nahm die Kreide aus dem Behälter und schrieb das Wort ›Jude‹ mit großen Lettern an die Schiefertafel. Außen herum notierte er die Adjektive, die Herbert gerade genannt hatte.

      »Noch jemand?«

      Zögerlich wachte die Klasse auf und immer mehr Kinder hoben die Hand, um zu antworten.

      »Christusmörder«, rief ein Junge aus der zweiten Reihe.

      Das Wort schien Völkl besonders gut zu gefallen, da er es sogar doppelt unterstrich. Um das Schlagwort ›Jude‹ sammelten sich nun mehr und mehr Begriffe. Jedes der Wörter schmerzte wie ein Peitschenhieb, und Jacob wünschte sich in diesem Moment, dass es noch einen wie ihn in der Klasse gäbe. Einen zweiten Juden, damit er die Gemeinheiten leichter ertragen konnte. Geteiltes Leid.

      Alle schienen etwas zu sagen zu haben, bis auf Hannah. Ihre Hand blieb unten, die Lippen unbewegt. So keimte trotz allem etwas Freude in ihm auf, dass Hannah stumm blieb.

      »Jetzt haben wir die Charakterzüge der Juden besprochen. Aber es gibt natürlich auch die Äußerlichkeiten, an denen ihr einen Juden sofort erkennen könnt.«

      Herbert streckte die Hand wieder nach oben. Endlich hatte er ein Fach gefunden, in dem auch er punkten konnte. Sonst gehörte er nicht zu den hellen Köpfen in der Klasse. Nicht umsonst drehte er die zweite Ehrenrunde.

      Jacobs Wut schlug um in Hass. Hass auf Herbert, der selbstgefällig grinste und so viele Gemeinheiten sagte. Hass auf den Lehrer, der dieses dämliche Fach angefangen hatte. Hass auf die Schule. Hass auf sich selbst, da er Jude war. Tränen stachen in seinen Augen, doch er konnte sich nicht die Blöße geben und losheulen. Er musste weit weg von hier. An einen Ort, an dem es ihm gutging. Wie war es mit dem Wald? Jacob versuchte, das Harz der Kiefern zu riechen. Den Gesang der Vögel zu hören. Den Ausblick vom Gipfel eines Berges zu sehen.

      »Hakennase. Engstehende Augen. Kurze Stirn. Wulstige Lippen. Dunkle, krause Haare.«

      Völkl nickte beeindruckt. »Ausgezeichnet, Herbert. Ich trage dir deine erste Eins in Rassenkunde ein. Ich nehme an, dass du auch schon mit deinen Eltern viel über dieses Thema gesprochen hast?« Herbert nickte eifrig.

      Hannahs beste Freundin Elsa, die hervorragend malen konnte, durfte nach vorne kommen und ein Portrait eines Juden zeichnen.

      »Vergiss die Plattfüße und die krummen Beine nicht, Elsa«, erinnerte sie Völkl. An der Tafel prangte nun eine entsetzliche Karikatur, die eher einem Dämon glich als einem Menschen.

      »Hannah?« Das Mädchen zuckte zusammen, als hätte es gerade einen Stromschlag erhalten. »Komm bitte nach vorne.«

      Mit einem Mal war Jacob wieder da. Seine Gedanken, die ihn weit weggetragen hatten, waren zurück. Zurück in der Realität. Zurück im Klassenzimmer. Hannahs Mund stand leicht offen und ihre Finger zitterten, als sie neben den Lehrer trat.

      »Eine arische Schönheit«, lobte der Lehrer, als wäre Hannah ein Gemälde und kein Mensch aus Fleisch und Blut. Er nahm den Zeigestab heraus und Hannahs Wangen färbten sich in Erwartung eines Hiebs kalkweiß. »Blaue Augen. Blonde Haare. Ein symmetrisches Gesicht.« Das Ende des Zeigestabs berührte fast ihr Gesicht. »Schlanker Körperbau. Gerade Beine.« Jacobs Blick fiel auf ihre Füße, die in geschlossenen Sandalen steckten.

      »Noch ist ihr Becken schmal, aber es wird etwas breiter werden, damit sie dem Führer schon in ein paar Jahren arische Kinder gebären kann. Dafür muss sie sich natürlich mit einem arischen jungen Mann paaren.« Hannahs Gesichtsfarbe glich einer Chilischote und sie schielte auf Völkl, während der den Zeigestab an ihrer Hüfte hoch und runter führte. »Auch die anderen Geschlechtsmerkmale sind noch nicht richtig ausgereift.«

      Jacob war völlig klar, worauf Völkl als nächstes zeigen würde. Er schien komplett übergeschnappt zu sein. Solche Themen wurden sonst hinter vorgehaltener Hand besprochen. Im Flüsterton. Nicht beim Namen genannt.

      Jacob musste ihr aus dieser Situation helfen. Koste es, was es wolle. Wie automatisiert bewegten sich seine Beine und er ging zwischen den Bänken nach vorne. Einige starrten ihn überrascht an, als er an ihnen vorbeischritt.

      »Was zum Teufel suchst du hier vorne?«, herrschte ihn Völkl an. In Hannahs Gesicht standen Überraschung und Entsetzen gleichermaßen.

      »Sie wollten doch mit den Äußerlichkeiten des Juden weitermachen. Ich dachte, dass ich schon einmal vorkomme, jetzt, wo der Arier fertig ist.«

      Völkl kniff die Augen zusammen, sofern das bei seinen kleinen Schlitzen überhaupt noch möglich war. Aber er nickte.

      Jacob stellte sich neben Hannah.

      »Du kannst dich wieder hinsetzen«, flüsterte er ihr zu, doch sie schüttelte den Kopf und blieb neben ihm stehen.

      Die ersten Kinder meldeten sich. Völkl rief natürlich Herbert auf.

      »Deformation der Beine!«

      »Richtig. Das zeigt die Unfähigkeit zum Marschieren«, erklärte Völkl fachmännisch. »Fast schon krankhaft. Typische Skelettverformungen, Anfälligkeiten für Krankheiten. Froschbauch. Zwergwuchs. Quadratschädel. Mangelnder Muskeltonus. X- oder O-Beine. Henkelohren. Nicht zu vergessenen der ammoniakalische Windelgeruch.«

      Die Klasse tobte vor Lachen.

      »Die Plattfüße kommen daher, dass der Jude immer auf Wanderschaft ist. Er ist zur Heimatlosigkeit verdammt und irrt rastlos in der Welt umher.« Völkls Augen hatten einen irren Glanz angenommen. Seine Stimme überschlug sich fast, so sehr war er in Ekstase.

      »Dann die Kopfform eines Juden. Ein auffällig deformierter Schädel.«

      Jacob konnte nicht anders. Er brach in schallendes Gelächter aus, klopfte sich auf die Schenkel und deutete von dem schrecklichen Gemälde an der Tafel auf sich selbst. Totenstille. Man hätte eine Stecknadel fallen hören.

      Völkl baute sich vor Jacob auf und fletschte dabei die Zähne wie eine Raubkatze. Zum Angriff bereit.

      »WAS IST SO LUSTIG?«, brüllte er, so laut er konnte. Da Jacob nicht augenblicklich verstummte, packte ihn Völkl am Kragen und knallte ihn mit dem Rücken gegen die Tafel. Die Kreideablage drückte sich schmerzhaft in Jacobs Rücken. Das Gesicht des Lehrers war seinem so nahe, dass sein unangenehmer Atem über seine Haut strich. Völkls Augen quollen beinahe aus ihren Höhlen und seine dicken Wurstfinger krallten sich in Jacobs Hals, der nach Luft japste.

      »Dir wird das Lachen schon vergehen, Bürschlein!«, zischte er Jacob ins Ohr. Seine Füße berührten kaum noch den Boden. Die Sekunden fühlten sich wie Stunden an. Würde Völkl ihn umbringen? Sauerstoff. Er brauchte Sauerstoff!

      »Hören Sie auf!« Eine leise Stimme drang an Jacobs Ohren. »Hören Sie sofort auf! Sie bringen ihn um!« Die Stimme wurde lauter, bis sie in einem Schrei gipfelte. Hannahs Stimme.


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