Von Liebe und Hoffnung. Raphaela Höfner

Von Liebe und Hoffnung - Raphaela Höfner


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ein erneuter Angriff kommen? Jacob sank auf dem Boden zusammen und rang nach Luft. Bei jedem Atemzug, der durch seine Lungen strömte, versuchte er, sich mehr zu beruhigen. Wie bei einem Boxkampf. Als er den Kopf hob und in die Klasse blickte, bemerkte er, dass alle wie erstarrt waren. In den Gesichtern der Mitschüler stand das Entsetzen. Hannah löste sich aus ihrer Versteinerung, kam auf ihn zu und ging neben ihm in die Hocke.

      »Bist du in Ordnung?«, fragte sie besorgt und legte ihm ihre Hand auf die Schulter. Sie war eiskalt. Jacob nickte.

      »Ich glaube schon.« Sein Hals fühlte sich immer noch an, als wäre ein Strick um ihn gelegt.

      »Kommen Sie schnell, Herr Direktor.« Erst jetzt fiel ihm auf, dass die Klassenzimmertür offenstand. Elsa eilte herein, dicht gefolgt vom Direktor.

      »Was ist hier bitteschön los?« Der Direktor blickte von der Klasse auf Völkl und seine Augen blieben dann an Jacob hängen, der noch am Boden kauerte. »Völkl! Was ist hier los? Ich habe gehört, dass Sie ein Kind gewürgt haben!«

      »Diszipliniert«, korrigierte Völkl. Offenbar hatte er sein Selbstvertrauen zurückgewonnen.

      »Kommen Sie sofort in mein Büro! Ihr beide auch«, meinte er und deutete auf Jacob und Hannah. »Natürlich nur, wenn du mitkommen kannst und willst.« Die Sanftheit in seiner Stimme erschreckte Jacob. Kaum einer der Lehrer hatte ein freundliches Wort für ihn übrig. Nur Spott, Beleidigungen, Zorn.

      Sie folgten dem grauhaarigen Mann in sein Büro.

      »Rufen Sie Dr. Sedlmayr an«, sagte er zu seiner Sekretärin, die sofort den Hörer in die Hand nahm und in einem Buch blätterte, um die Nummer herauszusuchen.

      »Ich möchte erst allein mit den Kindern sprechen. Dann sind Sie an der Reihe«, meinte er an Völkl gerichtet. Der schnaubte wie ein Rhinozeros und verschränkte zornig die Arme.

      »Bitte, kommt rein und nehmt Platz.«

      Im Raum stand ein großer Schreibtisch mit Stühlen auf beiden Seiten. Die Wände zierten Landschaftsbilder. Zögerlich traten die beiden Kinder auf die Stühle zu und setzten sich.

      »Was hat sich vorhin im Klassenzimmer ereignet?« Keiner traute sich zu antworten. »Ihr müsst keine Angst vor mir haben. Ihr dürft offen mit mir reden.« Sein Lächeln war warm und wirkte echt, doch Jacob war in letzter Zeit misstrauisch geworden. Man konnte niemandem mehr trauen. Vor allem nicht in der Schule.

      »Herr Völkl hat heute ein neues Unterrichtsfach begonnen«, antwortete Hannah stattdessen. Sie schien weniger misstrauisch, aber sie hatte auch noch keine Demütigungen am eigenen Leib erfahren. Bis heute. »Rassenkunde. Dabei hat er die äußeren Merkmale eines Juden aufgelistet, aber auch Charakterzüge, die einen Juden angeblich beschreiben.« Angeblich? Also dachte Hannah nicht so. Jacob fiel ein Stein vom Herzen. Sie wiederholte beinahe alle Wörter, die an der Tafel gestanden hatten.

      »Dann musste erst ich nach vorne kommen.« Der Direktor zog die grauen, buschigen Augenbrauen nach oben, unterbrach das Mädchen aber mit keiner Silbe.

      »Herr Völkl hat anhand meines Aussehens ein arisches Mädchen beschrieben. Er ist dabei auch auf meine Geschlechtsmerkmale eingegangen.« Der Direktor verschluckte sich beinahe an seinem Kaffee. Mit ihm gab es offenbar doch wenigstens einen Menschen an dieser Schule, der noch klar denken und fühlen konnte.

      »Dann ist Jacob plötzlich neben mir gestanden, um mir aus der Patsche zu helfen.« Sie lächelte ihm von der Seite zu und ihre Augen glitzerten dabei.

      »Was geschah weiter?«, wollte der Direktor wissen.

      »Herr Völkl hat ganz schreckliche Sachen gesagt, dann ist er plötzlich auf Jacob losgegangen, hat ihn gegen die Tafel gepresst und ihm die Kehle zugedrückt.«

      Bevor der Direktor antworten konnte, riss jemand die Tür von außen auf und Völkl trampelte ins Zimmer.

      »Mir reicht diese Warterei. Ja, ich habe dem Bengel hier eine Lektion erteilt. Er hat einen Lachanfall bekommen und somit meinen Unterricht lächerlich gemacht. Irgendwie musste ich dem Ganzen ja Einhalt gebieten.«

      »Haben Sie den Jungen gedemütigt? Vor der gesamten Klasse?«

      »Gedemütigt, gedemütigt. Irgendjemand muss die Jugend doch aufklären. Woher soll sie sonst das Wissen bekommen? Der Führer gibt vor, dass wir über die Juden informieren.«

      »Nicht auf diese Art und Weise«, zischte der Direktor, und plötzlich befanden sich Hannah und Jacob inmitten einer verbalen Auseinandersetzung. »An meiner Schule werden Kinder nicht gedemütigt! Auch Juden sind Schüler meiner Schule und haben das Recht, respektiert zu werden. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«

      Im selben Moment klopfte es an der Tür, und Georg Sedlmayr trat ein. Er sah besorgt aus, eilte sofort auf seine Tochter zu und stellte sich schützend hinter sie.

      »Alles in Ordnung?«, fragte er seine Tochter. Hannah nickte. Jacob merkte, dass sie sich freute, ihren Vater zu sehen und er musste zugeben, dass es ihm selbst auch so ging. »Und bei dir, Jacob?« Auch dieser nickte.

      Der Direktor erzählte Georg Sedlmayr schnell von den Ereignissen, der mit jedem Wort zorniger wurde.

      »Was sind Sie nur für ein Lehrer? Ein Pädagoge!?«, griff Sedlmayr Völkl offensiv an. »Wie weit ist es denn schon gekommen? Wollen Sie den Jungen das nächste Mal auspeitschen wie im Mittelalter? Oder an die Wand nageln? Genug ist genug.«

      »Sie sollten besser Ihre Zunge hüten« rief Völkl und seine ohnehin schon breite Brust spannte sich vor Wut. »Ich habe gute Kontakte zur SA. Die werden Sie genauer unter die Lupe nehmen, wenn Sie hier so einen Aufstand veranstalten.«

      »Diesen Aufstand veranstalten Sie schon selbst. Ein richtiges Kasperltheater. Tut mir leid, Herr Direktor, aber ich muss den Jungen mitnehmen und untersuchen. Vielleicht ist er nach dem Angriff ernsthaft verletzt worden. Das würde die Schule in ein ganz schlechtes Licht rücken, wenn an die Öffentlichkeit dringt, dass hier Kinder gewürgt werden. Und die Lehrer auch noch damit durchkommen.«

      Völkl schluckte schwer, dann blieb ihm der Mund offen stehen. Ihm fiel keine passende Antwort mehr ein.

      »Ich bitte Sie, von einer Meldung an die Zeitung abzusehen«, begann der Direktor. Also jetzt bezog er doch Stellung für eine Seite.

      »Das hängt ganz davon ab, wie weiter mit jüdischen Schülern hier umgegangen wird.« Sedlmayr nahm Hannah am Arm und zog auch Jacob auf die Beine. »Auch meine Tochter ist vor der gesamten Klasse gedemütigt worden. So etwas dulde ich nicht! Sie werden mit Konsequenzen rechnen müssen.« Der Direktor erbleichte.

      »Davon können wir doch sicherlich absehen. Aber ich finde auch, dass Herr Völkl den beiden eine Entschuldigung schuldet.« Völkl erschrak, als hätte der Direktor gerade sein Todesurteil laut ausgesprochen.

      »So?«, meinte Sedlmayr trocken. Er blieb stehen und sah dem Lehrer tief in die Augen.

      »Kommt nicht wieder vor«, knurrte er in Hannahs Richtung und marschierte dann mit donnernden Schritten aus dem Raum.

      »Habe ich mir schon gedacht«, murmelte Sedlmayr und verabschiedete sich vom Direktor.

      Hannah und Jacob gingen zusammen mit ihm aus dem Büro, holten noch schnell ihre Schultaschen aus dem Klassenzimmer und fuhren dann mit ihm zu seiner Arztpraxis. Dr. Sedlmayr schien die Art Mensch zu sein, die man sich in seiner Nähe wünschte, wenn es Probleme gab.

      »Dieser gottverdammte Sedlmayr!« Winters Hände zitterten vor Wut, als er den Hörer in der Kanzlei auf die Gabel hängte. Völkl, ein Lehrer aus dem Humanistischen Gymnasium, hatte ihn über die Vorkommnisse informiert. Nur weil er den Unterricht umsetzen wollte, wie ihn der Führer vorschrieb, hatte ihm eines der jüdischen Bälger einen Strich durch die Rechnung gemacht. Und er war damit durchgekommen. Der Direktor selbst hatte sich gegen seinen Lehrer verschworen und einem Mädchen und einem Juden geglaubt. Unmöglich.

      Winter ging ins benachbarte Büro und berichtete Erwin Holzer von Völkls Erzählungen. Auch dieser schüttelte fassungslos den Kopf. Die Stimmung bei ihnen war ohnehin


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