Jüdische Altertümer. Flavius Josephus
Preis für das Getreide, den sie in ihren Säcken gefunden, nicht behalten, sondern wieder mitgebracht hätten, obgleich niemand darum gewusst habe. Sie seien also weit entfernt davon gewesen, etwas Böses zu tun. Doch wollten sie, anstatt einfach zu leugnen, sich lieber einer Durchsuchung unterziehen, und sie wollten gern jede Strafe erleiden, wenn einer von ihnen des Diebstahls überführt würde. Denn da sie sich keines Verbrechens bewusst waren, hatten sie Mut und glaubten ihrer Sache ganz sicher zu sein. Die Reiter nahmen die vorgeschlagene Untersuchung an, doch sagten sie, derjenige müsse allein die Strafe erleiden, der des Diebstahls überführt würde. Darauf schritten sie zur Untersuchung, und nachdem sie das Gepäck der anderen in Ordnung gefunden, kamen sie endlich zu dem des Benjamin, wohl wissend, dass in seinem Sacke der Becher versteckt sei. Doch wollten sie sich den Anschein geben, als ob sie mit aller Gewissenhaftigkeit zu Werke gegangen seien. Die anderen aber waren, da sie selbst von ihrer Sorge befreit waren, nur wegen Benjamins noch etwas bekümmert. Voller Hoffnung indes, man werde auch ihm nichts nachweisen können, warfen sie ihren Verfolgern schon freimütig vor, diese seien schuld daran, dass sie nicht bereits einen guten Teil ihrer Reise hinter sich hätten. Als aber bei der Durchsuchung des Gepäckes Benjamins der Becher sich fand, fingen sie an zu jammern und zu klagen, zerrissen ihre Kleider und beweinten nicht nur ihren Bruder, weil er bald die Strafe für den Diebstahl zu erleiden hätte, sondern auch ihr eigenes Schicksal, weil sie das dem Vater bezüglich Benjamins gegebene Versprechen nun nicht halten könnten. Vermehrt wurde ihr Leid noch dadurch, dass, als sie schon allem Unheil entronnen zu sein wähnten, widriges Geschick sie noch in dieses Unglück gestürzt habe. Und sie bekannten sich als Urheber nicht nur des Unglückes ihres Bruders, sondern auch der Trauer ihres Vaters, den sie wider seinen Willen veranlasst hatten, den Knaben mit ihnen zu schicken.
8. Die Reiter ergriffen darauf den Benjamin und führten ihn zu Joseph zurück; die anderen Brüder aber folgten ihnen. Da nun Joseph den Benjamin gefangen genommen und die Brüder in Trauer um ihn versunken sah, sprach er zu ihnen: »Was denkt ihr, ihr Nichtswürdigen, von meiner Menschenfreundlichkeit und voll Gottes Vorsehung, da ihr solches gegen euren Wohltäter und Gastfreund verüben konntet?« Sie aber erboten sich, die Strafe für Benjamin zu erleiden, riefen sich auch ins Gedächtnis zurück, wie frevelhaft sie gegen Joseph gehandelt, und priesen ihn glücklich, dass er (wenn er gestorben sei) den Mühsalen des Lebens entrückt sei. Sei er aber noch am Leben, so erlitten sie jetzt die Strafe, die Gott ihnen für ihre Freveltat auferlegt; und sie nannten sich des Vaters Unheil und Verderben, weil sie zu seinem Leid um Joseph noch die Trauer um Benjamin hinzugefügt hätten. Besonders heftige Vorwürfe machte ihnen Rubel. Joseph aber erklärte, er wolle die anderen ziehen lassen, da sie ja nichts verbrochen hätten, und mit der Bestrafung des Knaben allein zufrieden sein. Denn es sei nicht weise gehandelt, diesen den Unschuldigen zu Gefallen freizulassen, noch sie zugleich mit dem offenkundigen Dieb zu bestrafen. Alsdann versprach er ihnen beim Abzug sicheres Geleit. Sie waren hierüber bestürzt und vor Schmerz sprachlos. Judas aber, der den Vater beschwätzt hatte, den Knaben mit ihnen ziehen zu lassen, und der überhaupt entschiedenen und tatkräftigen Charakters war, entschloss sich, für das Wohlergehen des Bruders der Gefahr zu trotzen, und sprach: »Unrecht haben wir gegen dich, o Landpfleger, begangen und Strafe verdient, der wir uns alle unterziehen wollen, obgleich nur der Jüngste die Schuld trägt. Eigentlich müssten wir seinetwegen an unserer Rettung verzweifeln, aber doch lässt uns deine Güte noch einige Hoffnung hegen und eröffnet uns Aussicht auf Befreiung aus der Gefahr. Sieh daher nicht uns an noch die Tat, die wir verbrochen, sondern lass walten deine Herzensgüte und Tugend. Den Zorn aber, von dem kleinliche Menschen sich in allen Lebenslagen so leicht hinreißen lassen, weise ab von dir, lasse dich nicht von ihm überwinden und überantworte nicht die dem Verderben, die um ihr Heil nicht selbst Sorge tragen können, dasselbe von dir vielmehr flehentlich erbitten. Denn nicht zum ersten Mal zeigst du dich freigebig gegen uns, sondern du hast uns, als wir zu dir kamen, um Getreide zu kaufen, dazu Gelegenheit gegeben und uns so viel davon überlassen, als nötig war, um unsere Familie vor dem Hungertode zu bewahren. Es ist aber kein Unterschied, ob du dich der Darbenden annimmst und sie vor dem Untergang bewahrst oder ob du die von Strafe freisprichst, von denen die Menschen glauben, dass sie gefehlt haben, und die sie um der Wohltätigkeit willen beneiden, welche du ihnen erzeigst. Es ist ganz dieselbe Gnade, wenngleich sie in verschiedener Weise erzeigt wird. Erhalte also die, welche du bis jetzt gespeist hast, und rette uns das Leben, wie du uns vor dem Hungertode bewahrt hast. Es ist ebenso groß und bewunderungswürdig, uns das Leben zu schenken, als es durch Freigebigkeit vor dem Untergange zu bewahren. Ich halte dafür, dass Gott dir nur den Weg zur Vermehrung deines Ruhmes hat zeigen wollen, als er uns in dieses Unglück stürzen ließ, damit du nämlich ebenso viel Ruhm erlangest durch Vergebung des Unrechtes, das wir dir zugefügt, wie du schon erworben hast durch menschenfreundliche Unterstützung derer, die aus anderen Gründen deiner Hilfe bedurften. Denn es ist etwas Großes, denen zu helfen, die in Not sind; doch noch viel größer und herrlicher ist es, die zu begnadigen, die sich durch Frevel Strafe zugezogen haben. Und wenn es schon zu großem Lobe gereicht, kleinere Vergehen zu verzeihen, so reicht es doch fast an Gott selbst heran, den Zorn zu bezähmen und denjenigen zu verzeihen, die uns beleidigt und so das Leben verwirkt haben. Hätten wir nicht einen Vater, der sich um Josephs Tod abhärmt und der sich so schwer um den Verlust seiner Kinder grämt, so hätte ich nicht so viele Worte um unser Leben verloren, wenn ich es nicht in Ansehung deiner Güte getan hätte, der du es für erhaben hältst, denen das Leben zu schenken, die nach ihrem Tode niemand beweinen würde; vielmehr hätten wir mit Gleichmut die Strafe erlitten, die du über uns verhängen würdest. Jetzt aber, da wir nicht mit uns selbst Mitleid haben, obzwar wir noch jung sind und noch wenig von des Lebens Genüssen gekostet haben, sondern vielmehr mit unseres Vaters Greisenalter, bitten wir dich inständig und flehentlich, du wollest uns das Leben schenken, das wir durch unsere Übeltat gegen dich verwirkt haben. Denn unser Vater ist nicht schlecht und hat auch uns nicht so erzogen, sondern er ist ein rechtschaffener und ehrbarer Mann, der ein solches Geschick nicht verdient hat und jetzt wegen unserer langen Abwesenheit von Kummer und Sorgen gequält wird. Wenn er aber von unserem Tode und dessen Ursache Kunde erhielte, so würde er umso eher wünschen, aus dem Leben scheiden zu können; er würde sich verzehren in Trauer, und unsere Schmach würde seinen Tod beschleunigen und überdies ihn in Trostlosigkeit sterben lassen, da er doch jetzt schon, noch ehe er Nachricht über uns erhalten, fast von Sinnen ist. Bedenke dies doch, und wenn auch unsere Tat deinen Zorn erregt hat, so lass dem Vater zulieb Gnade walten und dein Mitleid mit ihm größer sein als unsere Ruchlosigkeit. Habe Rücksicht auf sein Greisenalter; er würde, wenn wir umkämen, in Verlassenheit leben und sterben. Denn indem du so handelst, ehrst du auch deinen eigenen Vater und dich selbst, und mit Freuden wirst du seinen Namen tragen. Dazu verleihe dir seine Gnade Gott, der Vater aller; denn auch ihm wirst du mit solcher liebevollen Gesinnung Ehre erweisen, wenn du nämlich Mitleid hast mit unserem Vater und bedenkest, was er durch den Verlust seiner Kinder leiden würde. Bei dir steht es daher, uns das Leben, das Gott uns gegeben hat, und das du uns jetzt nehmen kannst, wiederum zu schenken und so an Güte sein Ebenbild zu werden, so viel du das vermagst. Schön ist es, eine so große Macht zu anderer Nutzen und nicht zu ihrem Schaden zu gebrauchen und, wenn man andere verderben kann und das Recht dazu hat, dieses nicht auszuüben, gleich als wäre es nicht vorhanden, sondern seine Gewalt nur zum Heile anderer zu verwenden. Und je mehr Menschen man beglückt, desto größeren Ruhm erwirbt man sich selbst. Du kannst uns jetzt alle retten, wenn du unserem Bruder verzeihst, was er gegen dich gefrevelt. Denn auch uns wird es nicht mehr möglich sein zu leben, wenn er die Todesstrafe erleidet, da wir ohne ihn nicht zum Vater zurückkehren dürfen. Darum verhänge über uns dieselbe Strafe, gleich als ob wir Genossen seines Verbrechens wären; denn wir wollen dasselbe Schicksal erleiden, das unserem Bruder bevorsteht. Es ist uns lieber, mit ihm verurteilt zu werden und zu sterben, als dass wir nach seinem Tode uns in Trauer aufreiben. Ich will nicht davon reden, dass er noch jung und sein Verstand noch nicht ausgebildet und dass es deshalb nach menschlicher Sitte schicklich ist, ihm eher Verzeihung zu gewähren. Vielmehr will ich das alles deiner Beurteilung anheim stellen und zum Schluss meiner Rede kommen, damit, wenn du uns verurteilst, es meine eigene Schuld sei, dass ich nicht alles gesagt habe, was deinen Zorn gegen uns mildern könnte, dass hingegen, wenn du uns lossprichst, du das Bewusstsein habest, dies in deiner Güte und Milde getan zu haben. Denn dann schenkst du uns nicht nur das Leben, sondern erweisest uns auch die Gnade, uns für besser zu halten, als wir sind, und bist mehr auf unser Wohl bedacht als wir selbst. Hast du also beschlossen, ihn