Great Green Thinking. Jennifer Hauwehde

Great Green Thinking - Jennifer Hauwehde


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      1Ab einem bestimmten Zeitpunkt in ihrer Karriere werden (die meisten, nicht alle) sehr, sehr reiche Menschen (die in der Regel über ein oder mehrere Unternehmen verfügen) von Arbeitenden zu Verwaltenden: Sie arbeiten wenig bis gar nicht mehr selbst, sondern organisieren alles darum herum – Leute einstellen und feuern, Gespräche mit wichtigen Menschen führen, in der Folge über genauso wichtige strategische Dinge entscheiden. Die eigentliche Arbeit (am Produkt oder der Dienstleistung) erledigen längst andere, untergeordnete Menschen.

      2Bis es so weit gekommen ist, dass eine Person durch ihren vermeintlich genialen Einfall berühmt und reich wird, hat sie von unzähligen und meist nicht gesehenen Arbeitsstunden anderer pro-fitiert. Von Menschen, die Vordenker:innen-Arbeit geleistet haben. Von anderen, welche die technische Infrastruktur zur Verfügung stellen. Von denen, die ihre kleinen Lokale als Rückzugsort betreiben und erlauben, dass man dort die Batterien wieder aufladen kann. Von wieder anderen, die Bürgersteige sauber halten und dafür sorgen, dass wir nicht kollektiv im selbst produzierten Dreck ersticken. Von dem:der Partner:in, der:die kostenlos und selbstverständlich die Care-Arbeit für den eigenen Nachwuchs übernimmt. Von den Pfleger:innen, die sich um die Gesundheit der Eltern nach einem Oberschenkelhalsbruch kümmern. All diese Arbeit ist Voraussetzung dafür, dass einige wenige in der Gesellschaft durch privilegierte Kopfarbeit in der Lage sind, zu dem beizutragen, was gemeinhin als »Fortschritt« verstanden wird. Sie läuft ununterbrochen im Hintergrund ab, erfährt allerdings wenig bis keine Beachtung.

      Aus dieser Perspektive ist unsere Erzählung von den Leuten, die in Garagen geniale Ideen hatten und deswegen alleine den Lauf der Geschichte verändert haben, eine Lüge: Sie stehen nicht nur auf den Schultern von Ries:innen, sondern auf denen der gesamten Gesellschaft. Warum bekommen also nur sie so unverhältnismäßig viel Geld und Einfluss? Es sollte in unser aller Interesse liegen, diese Verhältnisse zu ändern.

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       GESPRÄCH MIT DER POLITIKWISSENSCHAFTLERIN PROF. DORIS FUCHS

       ALLE IN EINEN TOPF UND KRÄFTIG UMRÜHREN?

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       Von Jennifer Hauwehde

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      Transformation heißt das Zauberwort. Die liegt aber unter anderem auch deshalb in so weiter Ferne, weil wir uns über Jahrzehnte auf die Gleichung »Nachhaltigkeit = grüner Konsum« fixiert und die Systemfrage nicht gestellt haben. Sehr zur Frustration der Wissenschaft: Seit spätestens 2001 predigt diese, erzählt mir Konsumforscherin Doris Fuchs von der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster in einer Videokonferenz, dass wir an den Strukturen ansetzen müssen, wenn wir wirklich etwas verändern wollen: der Wirtschaft, der Gestaltung unseres politischen Systems, der Gesellschaft. Gehört werden die Forscher:innen erst seit rund zwei Jahren – viel zu spät.

      Und das hängt, erklärt sie, auch damit zusammen, dass Forschung von Förderung abhängig ist – Projekte, die politisch unangenehme Ergebnisse zutage fördern könnten, werden seltener gefördert als jene, die bequeme Antworten im gewohnten System versprechen. »Fast alle Projekte, die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert wurden, gingen in die Richtung: ›Welche Informationen kann ich den Konsumierenden wie anbieten, damit sie nachhaltiger leben?‹ Damit wird auch das, was von der Wissenschaft in die Öffentlichkeit kommt, gelenkt.«

      Dass die Verantwortung auf die Konsumierenden abgewälzt werde, meint Professorin Doris Fuchs, sei politisch durchaus gewollt. »Dass das oft zu einer Symbolpolitik verkommt, die keine Auswirkungen hat, ist dann erst mal nicht so auffällig: Die Politiker:innen können etwas tun, ohne jemandem wehzutun. So ein Ansatz passt auch viel besser in unsere Marktwirtschaft und die ökonomischen Paradigmen, in denen wir denken. Dann kann man immer noch sagen: ›Wir wollen Wachstum. Und wir möchten, dass der Markt das Problem löst.‹ Das wird langfristig allerdings nicht funktionieren.«

      Mit der Jahreszahl 2001 bezieht Professorin Fuchs sich auf einen Text von Michael Maniates, der die Verschiebung der Verantwortung auf die Konsument:innen kritisiert und den wissenschaftlichen Dialog stark beeinflusst hat. Unter dem Titel Plant a Tree, Buy a Bike, Safe the World? schreibt Maniates: »Wenn die Verantwortung für Umweltprobleme individualisiert wird, gibt es wenig Raum, um über Institutionen, die Art und Ausübung politischer Macht oder über Wege nachzudenken, die Verteilung von Macht und Einfluss in der Gesellschaft kollektiv zu verändern – mit anderen Worten: ›institutionell zu denken‹.«55 Man bleibt stecken im Kleinkrieg aller gegen alle – wer ist besser im Plastikvermeiden? Wer shoppt immer noch Fast Fashion? Wer hat immer noch zu viele Sachen bei sich zu Hause herumstehen?

      Solange es klar abgegrenzte Gruppen innerhalb einer Gesellschaft gibt, von denen die Mehrzahl diskriminiert und auf unterschiedlichen Ebenen ausgebeutet werden kann, sodass ihre Mitglieder vor allem damit beschäftigt sind, innerhalb dieses Systems (und gegeneinander statt miteinander) zu bestehen, ist eine radikale Veränderung der Verhältnisse nicht zu befürchten. Wir müssen uns außerdem klarmachen: Der Versuch, sich in einem Wirtschaftssystem eine stabile Identität durch Konsum aufzubauen, das darauf basiert, immer neue Produkte und Identifikationsangebote in rasender Geschwindigkeit auf den Markt zu werfen, kann nur zum Scheitern verurteilt sein.56 Die Feind:innen stehen nicht in der Schlange vor der Primark-Kasse.

      Der überbordende Konsum von Waren und Dienstleistungen stellt ein unbestrittenes Problem dar, mit dem wir uns als Gesellschaft ernsthaft und langfristig befassen müssen. Dabei dürfen wir allerdings nicht alle Bevölkerungsgruppen in einen großen Topf werfen und kräftig umrühren, um am Ende zuverlässig etwas von »Verzicht« und »Mäßigung« propagieren zu können.

      »Ökologische Nachhaltigkeit unabhängig von sozialer Nachhaltigkeit ist keine Option«, bekräftigt Professorin Fuchs. »Wir müssen immer über ökologische Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit gleichzeitig sprechen. Ich arbeite viel zu Konsumkorridoren, also der Frage, wie nachhaltiger Konsum gestaltet werden kann. Unsere Hauptfrage ist: ›Wir wollen versuchen, dass alle auf der Welt – alle, die jetzt leben, und alle, die in Zukunft leben – ein gutes Leben haben können. Was muss dafür passieren?‹«

       DORIS FUCHS

      Prof. Doris Fuchs ist Politikwissenschaftlerin und Professorin für Internationale Beziehungen und Nachhaltige Entwicklung an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.

      Sie promovierte in Politik- und Wirtschaftswissenschaften in Kalifornien und habilitierte an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Außerdem beschäftigt sie sich mit den Themen (strukturelle und diskursive) Macht, nachhaltiger Konsum und Beteiligung. Sie ist Sprecherin des Zentrums für Interdisziplinäre Nachhaltigkeitsforschung (ZIN).

       INTERVIEW MIT SOPHIA HEINLEIN UND MORITZ PIEPEL VOM JUGENDRAT DER GENERATIONEN STIFTUNG

       EIN MÖGLICHER SCHLÜSSEL: GENERATIONENGERECHTIGKEIT

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       Von Jennifer Hauwehde

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      Mit dieser und vielen weiteren Fragen im Gepäck mache ich mich im November 2020 auf den Weg nach Berlin. Dort treffe ich mich mit Sophia Heinlein und Moritz Piepel in einem kleinen Büro mit hohen Decken und knallorangenen Plakaten


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