Great Green Thinking. Jennifer Hauwehde
oder Tüten voller Billigmode belohnen. Um danach vielleicht noch effizienter oder überhaupt weiterzufunktionieren.
Global betrachtet, gehört jemand die:der in Deutschland einen Medianlohn von 2.500 Euro brutto verdient, allein lebt und netto davon 1.700 Euro übrig hat, zu den zehn Prozent der reichsten Menschen auf dem Planeten: Nur 5,7 Prozent der Menschen, die gerade leben, sind reicher.42 Im globalen Vergleich könnten wir uns also eine Menge leisten – haben aber vor allem angesichts steigender Mieten und allgemein hohen Lebenshaltungskosten nicht nur das Gefühl, dass unsere Kaufkraft immer weiter zurückgeht: Wir können von demselben Gehalt abzüglich Miete, Strom und anderen Fixkosten auch faktisch immer weniger erwerben.
Tatsächlich nimmt die durchschnittliche Kaufkraft pro Einwohner:in in Deutschland stetig zu: Im Jahr 2019 lag sie bei knapp 24.000 Euro. Jetzt kommt das große Aber: Davon müssen noch die Ausgaben für Lebenshaltungskosten, Versicherungen, Miete und Nebenkosten sowie Heizung, Strom, Bekleidung oder Sparen abgezogen werden. Gleichzeitig zeigt ein Blick auf die langfristige Entwicklung von Haushaltsausgaben, dass seit den 1980er-Jahren ein immer größerer Anteil des Einkommens für Miete, Wasser, Strom und Gas aufgewendet werden muss: 1993 gaben die 20 Prozent der Bevölkerung mit dem niedrigsten Einkommen noch 27 Prozent ihres Nettohaushaltseinkommens fürs Wohnen aus – im Jahr 2013 waren es bereits 39 Prozent.
Bei allen Bevölkerungsgruppen, außer den oberen 20 Prozent, lässt sich in diesem Zeitraum ein Zuwachs der Wohnkosten feststellen. Die Einkommen der unteren 40 Prozent der Bevölkerung konnten nicht mit diesem Anstieg mithalten – in der Folge gingen die Ausgaben für sonstigen Konsum zurück: Bei den einkommensschwächsten 20 Prozent der Bevölkerung betrug der Anteil am Nettohaushaltseinkommen im Jahr 1993 72 Prozent und sank auf 63 Prozent im Jahr 2013.
Das bedeutet auch, dass die Möglichkeit zum Sparen abgenommen hat: Immer mehr Menschen müssen sich verschulden, um ihren Lebensstandard zu halten, insbesondere in den unteren Schichten. Die einkommensstärksten Haushalte hingegen geben weniger für Wohnen aus und behalten ihren sonstigen Konsum weitgehend bei, konnten ihn sogar geringfügig steigern.43 Das hängt auch mit der Verfügbarkeit von Wohneigentum zusammen: Seit 1990 sind die Preise für Immobilien um über 112 Prozent angestiegen – und dieser Trend setzt sich fort. Die Konsequenz: Die unteren 50 Prozent besitzen nur 2,7 Prozent des Wohneigentums in Deutschland, den oberen zehn Prozent gehören fast 60 Prozent.44
Die Angst vor dem sozialen Abstieg ist für viele Menschen nicht erst seit der Coronapandemie erschreckend real – und Angst verleitet zu pessimistischen Verhaltensweisen.45 Sie sorgt dafür, dass wir vor allem an eines denken (müssen): uns selbst und unser Überleben. Nun bedeutet Überleben im sicheren Deutschland des 21. Jahrhunderts nicht mehr, vor dem metaphorisch nun schon etwas strapazierten Säbelzahntiger wegzurennen. Überleben meint hier: würdevoll innerhalb einer Gesellschaft zu bestehen. Und das wird für immer mehr Menschen zu einer Herausforderung.
»Angst lässt uns die Menschlichkeit der anderen vergessen, sie lässt uns in ihnen Feinde sehen. Genau deshalb ist sie so ein guter Motor für den Kapitalismus: Angst treibt Menschen an, immer mehr zu leisten, immer mehr zu kämpfen. Angst verhindert, dass wir Mitgefühl empfinden für diejenigen, die den Kampf verlieren.«46
LET’S CHANGE THE NARRATIVE
Zwischen den Jahren 1990 und 2015 haben sich die global ausgestoßenen klimaschädlichen Emissionen verdoppelt. Gerade als ich diese Zeilen tippe, erscheint der neue Oxfam-Bericht,47 der sich mit dieser Zeitspanne beschäftigt und fragt: Welche Einkommensgruppen stoßen wie viele CO2-Emissionen aus? Das Ergebnis ist nur unwesentlich überraschend.
»In Deutschland waren die reichsten zehn Prozent (8,3 Millionen Menschen) im Jahr 2015 für mehr CO2-Ausstoß verantwortlich als die gesamte ärmere Hälfte der Bevölkerung (41,3 Millionen Menschen). Von den Gesamtemissionen seit 1990, für die die deutsche Bevölkerung verantwortlich ist, gehen 26 Prozent auf das Konto der reichsten zehn Prozent; die gesamte ärmere Hälfte der deutschen Bevölkerung ist nur für wenig mehr verantwortlich.«48
Ähnliche Werte finden sich im globalen Verhältnis: Die reichsten zehn Prozent (630 Millionen Menschen) der Weltbevölkerung sind für 52 Prozent der Emissionen verantwortlich – und davon wiederum müssten die reichsten ein Prozent alleine bereits für 15 Prozent der Emissionen geradestehen. Auf der anderen Seite befindet sich die ärmere Hälfte der Menschheit – sie produziert insgesamt nur rund sieben Prozent der globalen Emissionen. Dazwischen steht die Mittelklasse mit einem Emissionsanteil von 41 Prozent. Wenige Reiche tragen also global betrachtet doppelt so viel zur Klimaerhitzung bei wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung.
Auch bei der Verteilung der Emissionszunahme zwischen den Jahren 1990 und 2015 zeigt sich ein eindeutiges Bild: Obwohl viele Menschen in Indien und China den Sprung aus extremer Armut geschafft haben, ist ihr CO2-Ausstoß über die Jahre im Vergleich nur unwesentlich angestiegen: Hier stehen acht Prozent Anstieg (wieder der ärmeren Hälfte der Menschheit) dem Anstieg von 46 Prozent den reichsten zehn Prozent gegenüber – die zwar schon viel besitzen und konsumieren, allerdings trotzdem immer mehr CO2 ausstoßen. Und obwohl alle Welt von Konsumverzicht spricht und der #minimalismus trendet, liegen die wirklich problematischen Sektoren dieser Bevölkerungsgruppe nicht in dem ständigen Erwerb neuer Waren, sondern vor allem im Bereich Mobilität (Flug- und Landverkehr) und Wohnen.
Oxfam resümiert: Die Armen dieser Welt sind auf gar keinen Fall das Problem, wenn es darum geht, wem wir die aktuelle Entwicklung der Klimakrise zu verdanken haben. Aber: Die globale Mittelklasse ebenfalls nicht – jedenfalls nicht so gravierend, wie andauernd gepredigt wird. Anders gesagt: Wir können über plastikfreie Zahnbürsten, ökologisch produzierte Mode und #flygskam (Flugscham) diskutieren, bis uns die Köpfe rauchen, und uns gegenseitig erfolgreich des mangelnden Aktionismus bezichtigen – aber wir verfehlen dabei das Thema. Es geht nicht darum, ob Familie Meier jetzt erfolgreich einen Monat lang Konsum gefastet hat oder Henrik drei Häuser weiter beim vorletzten Mittagessen doch nicht so vegan gegessen hat, wie er von sich selbst immer behauptet.
Natürlich ist individuelles Engagement wichtig, auf unterschiedlichen Ebenen: Man nimmt sich als selbstwirksam wahr (eine wichtige Empfindung, wenn es darum geht, mit Krisen und komplexen Problemen umzugehen49), motiviert andere als Vorbildcharakter und trägt insgesamt dazu bei, dass sich auf lange Sicht Narrative ändern können. Aber so gewichtig, wie er andauernd dargestellt wird, ist der individuelle Konsum- und damit Lebensstil der Durchschnittsmittelstandsmenschen nicht. Nicht, wenn wir uns die Verhältnismäßigkeit ansehen – und die wenige Zeit, die uns noch bleibt, um das Ruder herumzureißen. (Während ich das hier tippe, haben wir noch sechs Jahre und elf Monate, bevor das CO2-Budget aufgebraucht ist und die globale Gemeinschaft das 1,5°C-Ziel verfehlen wird.)50
Wenn die Beschränkungen, die mit der Coronapandemie einhergegangen sind, sich wieder lockern und ihrem Vor-Corona-Level annähern, hat die globale Gemeinschaft nur noch bis zum Jahr 2030 Zeit, die Erderhitzung auf 1,5°C zu begrenzen. Das Problem dabei ist, dass die reichsten zehn Prozent der Weltbevölkerung alleine diese Marke schon wenige Jahre nach 2030 knacken werden, wenn sie ihren Lebensstil beibehalten (er ist 35-mal höher, als er sein dürfte, um das 1,5°-Ziel einzuhalten) – selbst wenn alle anderen Menschen auf diesem Planeten ihren Emissionsausstoß von heute auf morgen auf null senken würden.51
REICHTUM IST NICHT VERDIENT
Zusammen verfügen die zehn reichsten Menschen der Welt über ein Vermögen von rund 853 Milliarden Dollar.52 (Ja, ich kann mir auch nicht vorstellen, wie viel das ist.) Die zehn reichsten Deutschen vereinen rund 165 Milliarden Euro auf sich.53 Auch wenn sie uns gerne als das Paradebeispiel für den Aufstieg innerhalb der »Leistungsgesellschaft«54 präsentiert werden: Der Reichtum dieser Menschen kann nicht einzig