Great Green Thinking. Jennifer Hauwehde
es jedes Mal wieder erschreckend, wie schnell sich so ein Müllsack füllte. Da wollte ich nicht noch mal hinkommen. Wie also eine neue Hose besorgen? In mir startete sofort die Abwägungsmaschine. Schließlich soll das Gekaufte bestenfalls auch direkt das Richtige sein. Aber mir fehlte schlichtweg die Zeit, das gesamte Internet nach Secondhandware oder möglichst nachhaltig produzierten Jeans zu durchforsten. Zwanzig Päckchen nach Hause bestellen wollte ich auch nicht (kleiner Spoiler: Zu dem Thema, wer sich Nachhaltigkeit leisten kann, schreibt Jenni im nächsten Kapitel mehr). Trotzdem quälte ich mich durch diesen Prozess und harrte solange in schlecht sitzenden Hosen aus. Gleichzeitig fühlte sich das auch absurd an. Was wog nun schwerer? Das schlechte Gewissen, das ich nach einem nicht hundertprozentig nachhaltigen Kauf haben würde, oder der Unmut darüber, dass die Kleidungsstücke so schlackerten? Obwohl ich wusste, dass ich dringend eine neue Hose brauchte, konnte ich kaum eine Entscheidung treffen. Mich persönlich lähmte diese gefühlte Ausweglosigkeit extrem.
Dass wir uns so blockiert fühlen, oft nicht wissen, wie wir uns nun richtig verhalten, gilt übrigens nicht nur in Bezug auf nachhaltigen Konsum. Barry Schwartz, Professor für Psychologie am Swarthmore College in Pennsylvania und Autor des Buches Paradox of Choice, erklärt den Widerspruch der vermeintlichen Wahlfreiheit in einem gleichnamigen TED-Talk ausführlich. Das offizielle Dogma von westlichen Industriegesellschaften sei, so Schwartz, dass mehr Wahlmöglichkeiten die Menschen freier machten. Freiheit wiederum steigere das Gemeinwohl: »Wenn Menschen Freiheit haben, dann handelt jeder von uns eigenständig, um die Dinge zu tun, die unser Wohlergehen maximieren, und niemand muss in unserem Namen entscheiden. Der Weg zur Maximierung der Freiheit ist die Maximierung der Wahlmöglichkeiten.«11 Obwohl es im ersten Moment gut klingt, dass es – nicht nur in Bezug auf Konsum, sondern auch zum Beispiel bei der Wahl der richtigen Arztpraxis – eine Art Bürger:in-nenautonomie gibt, wird so die Verantwortung für Entscheidungen auf das Individuum abgewälzt. Das führt laut Schwartz zu zwei Effekten: »Ein Effekt, paradoxerweise, ist, dass er lähmt, statt zu befreien.« Mit so vielen Optionen, aus denen man wählen könne, fiele es Menschen sehr schwer, sich überhaupt festzulegen. Der andere Effekt: »Selbst wenn wir die Lähmung überwinden und eine Entscheidung treffen, sind wir am Ende mit dem Ergebnis der Wahl weniger zufrieden, als wir wären, wenn wir weniger Optionen zur Auswahl gehabt hätten.« Es sei einfach, sich vorzustellen, dass man eine andere Wahl hätte treffen können, die besser gewesen wäre. Dieses Bereuen mache unzufrieden. Zusätzliche Möglichkeiten er-höhten außerdem unsere Erwartungen da-ran, wie zufrieden wir mit unseren Entscheidungen sein würden. Deshalb seien wir auch unzufrieden, wenn das Ergebnis eigentlich gut ist. »Das Beste, auf das Sie jemals hoffen können, ist, dass Dinge so gut sind, wie Sie es erwarten. Sie werden nie angenehm überrascht sein, wenn Ihre Erwartungen, meine Erwartungen, haushoch sind. Das Geheimnis des Glücks ist: niedrige Erwartungen.«
Bei hundert verschiedenen Optionen, etwa beim Jeanskauf, sieht man automatisch sich selbst in der Verantwortung, die richtige Entscheidung zu treffen. Das heißt im Umkehrschluss, dass wir uns bei einer schlechten Wahl selbst beschuldigen: »Man hätte besser entscheiden können.« Eine genaue Zahl für die optimale Menge an Möglichkeiten kann Schwartz aber nicht nennen: »Es steht außer Frage, dass eine gewisse Auswahl besser ist als keine. Aber das bedeutet nicht, dass mehr Auswahl besser ist als etwas Auswahl. Es gibt eine magische Menge.« Das bestätigen Studien anderer Forscher:innen wie die der spanischen Ökonom:innen Elena Reutskaja und Robin Hogarth. Für ein Experiment sollten sich Proband:innen zwischen fünf, zehn, 15 oder 30 Geschenkverpackungen entscheiden. Ergebnis: Bei zehn Optionen waren die Versuchspersonen mit ihrer Wahl zufriedener als bei fünf. 15 Alternativen überforderten sie dagegen schon etwas. 30 Optionen machten so unglücklich wie fünf. Die Zufriedenheitskurve beschrieb ein umgekehrtes U. Wir wägen also vermutlich unbewusst zwischen Kosten und Nutzen ab.12
Letztlich kommt Schwartz zu dem Schluss, dass Unzufriedenheit aufgrund zu vieler Entscheidungsmöglichkeiten vor allem ein (Luxus-)Problem der industrialisierten Welt sei, während andere Gesellschaften zu wenig Auswahl hätten. Deshalb schlägt er vor: »Wenn etwas von dem, was den Menschen in unserer Gesellschaft Entscheidungen ermöglicht, in Gesellschaften verlagert würde, in denen Menschen zu wenige Optionen haben, würde nicht nur das Leben dieser Menschen verbessert werden, sondern auch unseres.«
WIR KONSUMIEREN, WEIL WIR ES MÜSSEN KÖNNEN SOLLEN
Schwartz hat es ganz treffend beobachtet: Wir leben in einer Konsumgesellschaft. Dadurch stellt sich aber nicht nur die Frage, was wir konsumieren, sondern auch, warum wir nicht aufhören können zu konsumieren. Jede Person in Deutschland besitzt schon jetzt durchschnittlich 10.000 Gegenstände13, von denen sie weit weniger als die Hälfte nutzt. Ein Grund: Wir leben in einem Land, in dem alles im Überfluss existiert, innerhalb einer Wirtschaft, die vom Verbrauch abhängt (mehr dazu in Kapitel 3) und in der der Markt ständig neue Bedürfnisse erzeugt.
Auch in der Greenpeace-Studie mit dem treffenden Titel After the Binge, the Hangover fand man 2017 heraus, dass die Menschen in Europa und Asien mehr Kleidung kaufen, als sie brauchen oder nutzen. Sie konsumieren vor allem, weil sie sich nach Erfüllung sehnen, befeuert durch Social Media und das leicht verfügbare Online-shopping. Tatsächlich hält die Glückseligkeit über neue Produkte aber nicht lange an. Bei einem Drittel der in Deutschland Befragten verflog die Freude bereits nach einem Tag, über die Hälfte fühlte sich nach dem Shopping müde und erschöpft. Ein Drittel der Befragten in China, Hongkong, Taiwan fühlte sich danach sogar noch leerer als zuvor.14 Ein Kaufrausch kann also tatsächlich eine Art Kater nach sich ziehen und negative körperliche und psychische Folgen haben.
Wolltet ihr in den 90ern auch unbedingt Schuhe mit Leuchteffekten haben? Habt ihr euch an einem besonders miesen Tag schon mal etwas besonders Schönes gekauft? Kein Wunder, Shopping ist häufig eher emotional als rational bedingt. Etwa, weil wir uns etwas als Belohnung gönnen, oder auch, weil wir gesellschaftlich dazugehören wollen. Das kann gut und schlecht zugleich sein. Einerseits glauben wir eben deshalb, bestimmte Produkte zu brauchen – die eigentlich unnötig sind. Andererseits können wir aber aus demselben Grund andere Menschen leicht beeinflussen – auch im positiven Sinne. Bestenfalls können wir sie genau deswegen durch unser umweltfreundlicheres Verhalten zum Nachahmen anregen. Oder, wie es Karl Marx einst formulierte: »Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.«15
Davon, dass wir automatisch weniger konsumieren, je glücklicher wir sind, schreibt auch Manfred Folkers im Buch All you need is less, eine Mischung aus buddhistischen Beobachtungen und Denkanstößen für die Wirtschaft: »Wer sich […] dem Mehrungs- und Vergleichungsdruck entzieht, öffnet das Tor zur Zufriedenheit.«16 Obwohl viele Formulierungen in dem Werk sehr pathetisch rüberkommen, steckt in ihnen viel Wahres: Nur wer mit sich selbst im Reinen ist, wird keine Bestätigung durch Konsum suchen. Minimalist:innen werden an dieser Stelle vermutlich heftig nicken.
Dass weniger statt mehr für unser Wohlbefinden durchaus ausreicht, bestätigt auch eine Umfrage der ZEIT während der einschränkenden Coronamaßnahmen im Frühjahr 2020. Auf die Frage, was sie wirklich brauchen würden, um diese Zeit gut zu überstehen, antwortete eine Mehrheit: Sie hätten gemerkt, dass es ihnen auch gut geht, wenn sie nicht immerzu konsumieren.17
INTERVIEW MIT DER JOURNALISTIN KATHRIN HARTMANN
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