Great Green Thinking. Jennifer Hauwehde
Systems immer Möglichkeiten, Dinge so anders zu machen, dass sie eine Transformation vorantreiben. Zum Beispiel bei der Verkehrswende: Laut einer aktuellen Untersuchung vom BUND Naturschutz können zwölf von 14 Regionalflughäfen nur überleben, weil sie so hoch subventioniert sind. Sonst würden sie rote Zahlen schreiben.20 Die braucht niemand. Die könnte man schließen und Windräder hinbauen, ohne dass Wälder abgeholzt werden müssten. Sowieso müssen solche umweltschädlichen Subventionen abgeschafft werden. Das wäre möglich, aber es fehlt der politische Wille. Genauso braucht es nicht viel Geld, um eine Stadt fahrrad- oder fußgängerfreundlich umzubauen. Die Alternativen sind also da. Eher müssen wir uns fragen: Wer verhindert sie? Wer hat Interesse daran, dass es bleibt, wie es ist?
Nach dem Interview mit Kathrin Hartmann bin ich einmal mehr erschlagen von all den Informationen und den komplexen Zusammenhängen von Armut, Gesellschaft, Klimawandel. Vielleicht, so Hartmann, mache es das aber auch ein bisschen einfacher: »Zu wissen, dass alles miteinander zusammenhängt und dass es möglich wäre, mit Veränderungen so vieles zu lösen, finde ich eher ermutigend.«
KATHRIN HARTMANN
Kathrin Hartmann, geboren 1972, studierte in Frankfurt am Main Kunstgeschichte, Philosophie und Skandinavistik. Sie war Redakteurin bei der Frankfurter Rundschau und bei Neon. Ihre Bücher, darunter Wir müssen leider draußen bleiben und Die grüne Lüge, erregten große Aufmerksamkeit. Sie lebt und arbeitet in München.
WER IST NACHHALTIGKEIT – UND WER NICHT?
KAPITEL 2
»There is no shame in poverty, but there is guilt in wealth.« Moshtari
Hilal/@moshtarimoshtari
DAS MUSS MAN SICH ERST MAL LEISTEN KÖNNEN
Von Jennifer Hauwehde
Bis zu meinem 20. Lebensjahr habe ich – ohne es zu wissen – ausgesprochen nachhaltig gelebt, wenn man den Kriterien für einen individuell nachhaltigen Lebensstil folgt: Ich aß seit meinem 16. Lebensjahr vegetarisch, besaß nur wenige Kleidungsstücke, die sehr alt waren (und auch so aussahen, aber nicht auf die gute Art), kaufte mir wenige Dinge, lieh Bücher konsequent aus der Stadtbücherei aus, reiste so gut wie nie und flog genau ein einziges Mal. Trotzdem war ich nicht glücklich.
Wie kann das sein?
Mein erster Zugang zu Nachhaltigkeit als einem erstrebenswerten Lebenskonzept für mich und die Welt, die mich umgibt, fand unter anderem durch Bücher über Nachhaltigkeit statt, in denen saubere, weiße und aufgeräumte Welten in Wort und Bild dargestellt wurden: hohe Decken mit Stuck, Balkone mit geschmackvoll platziertem Grün, dezente Kingsize-Betten mit Leinenbettwäsche. Ich habe, trotz meiner Leistungsbesessenheit und meines Fleißes, bereits Erfahrung mit den menschenunwürdig mahlenden Mühlen des Sozialhilfesystems machen müssen und schrammte permanent gerade so an der Armutsgrenze vorbei (ohne Sicherheitsnetz). Ich fand mich in diesen Büchern nicht wieder.
Ich wusste, wie sich das Gefühl in der Schlange vor dem Schalter auf dem Arbeitsamt anfühlte, was es bedeutete, weder eine Waschmaschine noch das Geld für Waschsalons zu besitzen, hatte bisher nie in einem Taxi gesessen und fühlte mich ein paar Jahre zuvor wie eine Königin, als ich mir mit meinem ersten selbst verdienten Geld einen Trenchcoat für 40 Euro in einem Discount-Fashion-Store kaufte.
Besagtes Geld verdiente ich in einem Dönerimbiss, in dem ich Salat, Tomaten und Zwiebeln schnitt, Tische und Böden putzte. In den Pausen lernte ich für mein Abitur, auf meinen Unterlagen über Messenger-RNA sind Fettflecken. Den einzigen Lehrer, der irgendwann in einer Zwischennotenbesprechung meine Leistungen lobte und in demselben Atemzug fragte, was ich so trieb und wie es mir ging, werde ich nie vergessen. Er sagte, es mache ja schon einen Unterschied, vor welchem Hintergrund Dinge passierten.
WAS MAN SICH LEISTEN KÖNNEN MUSS
Die Botschaften der ästhetikfokussierten Nachhaltigkeitsbücher internalisierte ich trotzdem – und gab sie unreflektiert weiter: Im Maß liegt die Tugend, less is more, nachhaltiges Leben ist einfach und günstig, und wenn dir das nicht so vorkommt, willst du es einfach nicht stark genug. Die Angebote sind da, du musst dich nur richtig informieren – und dann konsequente Entscheidungen treffen, die schmerzhaft sein können (und sollen). Ich entwickelte eine Abneigung gegen Menschen, die bei Primark einkauften, Billiglebensmittel beim Discounter in den Einkaufskorb luden oder ihre Wohnung mit – aus meiner neu erlernten Perspektive – nutzlosem Krimskrams vollstellten. Und fühlte mich gut und besser, weil ich entsagte. Ich hatte erfolgreich eine neue Ebene des Klassismus erklommen.
KLASSISMUS
Diskriminierung oder Vorurteile gegenüber einer Person oder Personen aufgrund einer [vermuteten] Zugehörigkeit zu oder Herkunft aus einer bestimmten [niedrigeren] sozialen Klasse.21
Dabei verdrängte ich eine unbequeme Wahrheit: Sofort als ein bisschen mehr Geld da war, verfiel ich in einen Konsumrausch. Ich wollte alles, was ich mir vorher nicht leisten konnte: viele Kleider, mit denen ich nicht mehr auffiel, eine Einrichtung, die nichts vermissen ließ, viel Kosmetik und generellen Überfluss – weil ich es jetzt zum ersten Mal in einem (immer noch vergleichsweise bescheidenen) Rahmen konnte. Ich verschwendete keinen einzigen Gedanken an Ressourcen, unfaire Produktionsbedingungen und die Zukunft meiner potenziellen Kinder.
Eine Zeit lang schämte ich mich rückblickend für diesen kurzfristigen Exzess – mittlerweile habe ich begriffen, dass das Gefühl der Scham gewollt und das Ergebnis einer sehr effizienten Verantwortungsverlagerung ist: Das eigentliche Problem war nicht ich als Einzelperson, die verzweifelt versuchte, den gesellschaftlich erwarteten und doch selten erreichten Lebensstil einer gehobenen Mittelklasse zu leben und dadurch gesehen zu werden. Das Problem ist zum einen ebenjene gesellschaftliche Definition des guten Lebens im globalen Norden, die im Wesentlichen auf unbegrenztem Konsum materieller wie immaterieller Dinge beruht.
Zum anderen ist eine würdevolle Teilhabe an der Gesellschaft längst nicht für alle Menschen möglich. Zwar ist die Einkommensungleichheit in den vergangenen Jahren etwas zurückgegangen – was unter anderem mit der Anhebung des Mindestlohns zusammenhängt.22 Die Vermögensungleichheit hingegen steigt kontinuierlich – immer mehr Vermögen konzentriert sich auf immer weniger Menschen.23 Und auch der Mindestlohn reicht angesichts steigender Mieten und Lebenshaltungskosten längst nicht immer zum Leben, höchstens zum Überleben: Wer Vollzeit auf Mindestlohnbasis arbeitet, erhält am Ende des Monats 1.621 Euro24 – nicht genug, um als alleinerziehende Person über die Runden zu kommen. Im Mai 2020 stockten rund 113.000 Menschen, die in Vollzeit arbeiteten, ihren Lohn durch Hartz IV auf.25 Gleichzeitig wird immer noch das Narrativ hochgehalten, das Wirtschaftswachstum sei ausschließlich vom Konsum der Bevölkerung abhängig. Der individuelle Konsum gilt als »patriotische Aufgabe«.26
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