Great Green Thinking. Jennifer Hauwehde
des Gesamtvermögens, weitere neun Prozent besitzen weitere 32 Prozent. Die »oberen zehn Prozent« vereinen also 67 Prozent des Vermögens auf sich. Und die restlichen 90 Prozent der Bevölkerung besitzen gemeinsam gerade einmal 33 Prozent des Gesamtvermögens.27
Scham und Wut gegen mich selbst zu richten ist nur bedingt angebracht und konstruktiv, dafür allerdings gewollt, weil systemerhaltend (wir gehen darauf in Kapitel 3 genauer ein). Um diesen Aspekt – den viele Texte, die Nachhaltigkeit als Schwerpunktthema setzen, leider nicht oder nur sehr oberflächlich behandeln – auf den Punkt zu bringen: Nachhaltigkeit muss man sich leisten können.
FINANZIELL
Natürlich spart man durch wenige Neukäufe und bedachtes Auswählen hochwertiger Produkte langfristig. Doch die zunächst höhere Anfangsinvestition muss erst einmal möglich sein – und bei etwas Basalem wie Lebensmitteln oder einem dringend notwendigem Kleiderkauf ist monatelanges Sparen mitunter schlicht eine utopische Idealvorstellung.28
PER HABITUS
Secondhand ist fancy und unmittelbar mit einem leichten Gefühl des Weltrettens verbunden – aber nur für jene, die sich bewusst dafür entscheiden können, für Vintagekleidung mehr Geld als für Neuware auszugeben. Für diejenigen, für die Secondhand zeit ihres Lebens keine Crème-Ware-Auswahl, sondern das Günstigste vom Günstigen bedeutet, die Vintageschätze nicht mit neuen Key Pieces kombinieren können und nicht die Zeit haben, zehn Preloved-Stores nach Kleidung abzugrasen, die ihnen gefällt, ist diese von der Mittelklasse neu entdeckte Alternative mitunter vor allem eines: würdelos.
MENTAL
Für Menschen, die täglich Stigmatisierungen, Diskriminierungen und/oder offenen Anfeindungen aufgrund von nach wie vor omnipräsentem Rassismus/Ableismus29/ Sexismus/Antisemitismus/Klassismus und anderem -ismus ausgesetzt sind, stellt sich am Ende des Tages vor allem die Frage nach dem Erhalt des eigenen psychischen Wohlergehens. Nicht immer bleibt Kraft für intensive Recherche von (komplexen) nachhaltigen Kaufentscheidungen.
ZEITLICH
Wie viel Zeit haben Menschen, die ganztägig in prekären Beschäftigungsverhältnissen arbeiten, womöglich mehrere Jobs gleichzeitig stemmen müssen und in der wenigen freien Zeit unbezahlter Care-Arbeit (Sorge- und Pflegearbeit wie Kinderbetreuung, Pflege von älteren Angehörigen, Arbeiten im Haushalt) nachgehen, um unterschiedliche nachhaltige Produktvarianten gegeneinander abzuwägen? Wie viel Zeit, auf den Markt zu gehen, frisch einzukaufen und ein Abendessen für die ganze Familie zu kochen?
PER VERFÜGBARKEIT
Für die konsequente Umsetzung eines nachhaltigen Lebensstils kann es eine große Rolle spielen, ob jemand zentral in einer Großstadt wohnt, den Unverpacktladen, einen Secondhandladen und Fair-Fashion-Geschäfte um die Ecke sowie Zugang zu Flohmärkten, öffentlichen Verkehrsmitteln und schnellem Internet für die Informationsbeschaffung hat – oder auf dem Land auf ein Auto angewiesen ist, es in der Umgebung nur einen Supermarkt mit begrenztem nachhaltigem Angebot gibt, Transportwege daher lang und umständlich sind.30
Wenn ich davon spreche, dass man sich Nachhaltigkeit leisten können muss, meine ich damit jene Form von Nachhaltigkeit, die den freien und regelmäßigen Konsum grüner und fairer Alternativprodukte genauso einschließt wie die gewählte und bewusste Form des reduktiven Verzichts. Dieser Lebensstil – deren Vertreter:innen seit ein paar Jahren mit dem Kürzel LOHAS31 bezeichnet werden – ist eine privilegierte Entscheidung, die vor allem vor dem Hintergrund getroffen werden kann, das Zuviel bereits zu kennen und ausgeschöpft zu haben. Jedes Privileg basiert auf Macht und trägt durch sein Ausleben wiederum dazu bei, dass Macht verfestigt wird.
WER IST ARM?
In Deutschland gilt als arm, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens (Median) zur Verfügung hat. Für eine allein lebende Person be-deutete das im Jahr 2019 ein Leben mit weniger als 1.074 Euro im Monat.32 Armut und Arbeitslosigkeit gehen sehr oft Hand in Hand: 2019 lag die Armutsgefährdungsquote bei Arbeitslosen bei fast 57,9 Prozent – wohingegen sie bei Erwerbstätigen bei ungefähr acht Prozent lag.33 Unterschieden von armen werden außerdem materiell deprivierte Menschen. Materiell depriviert bedeutet, sich grundlegende Güter und Aktivitäten des alltäglichen Lebens nicht leisten zu können, zum Beispiel eine Waschmaschine, angemessenes Heizen oder ein Mal im Jahr eine Woche Urlaub außerhalb der eigenen Wohnung. Oft gehen Armut, Arbeitslosigkeit und materielle Deprivation miteinander einher: 23,5 Prozent der Arbeitslosen beschreiben sich selbst als materiell depriviert, während das nur auf 1,8 Prozent der Erwerbstätigen zutrifft (2018).34 Von Armut oder sozialer Ausgrenzung waren im Jahr 2018 rund 19 Prozent der Bevölkerung in Deutschland betroffen.35
In unserer Gesellschaft wird Armen die Möglichkeit genommen, sich über den Konsum von Dingen und Dienstleistungen eine Identität zu erwerben. Wie wir uns kleiden, was, wie viel und wann wir essen, in welchen Wohnungen wir mit welchen Gegenständen leben – all das sind Konsumentscheidungen, die wesentlich dazu beitragen, unsere Identität in Kommunikation mit der Außenwelt (mein Auto, meine Wohnung, meine vegane Sushi-Bowl) zusammenzupuzzeln und sich ihrer immer wieder neu zu vergewissern. Arme Menschen haben diese Möglichkeiten nicht oder nur sehr eingeschränkt: Sie definieren und identifizieren sich weniger selbst – sie werden vor allem definiert. Von dem, an dem sie überall nicht teilhaben können, und von denen, die genau darüber (moralische) Werturteile fällen.36
Dabei lebt keine andere Menschengruppe so nachhaltig wie Arme. Aus dem schlichten Grund, dass sie aufgrund mangelnder finanzieller Mittel wenig (neu) konsumieren können. Hingegen steigen mit dem Einkommen auch die Ausgabenanteile – nicht für die Bedürfnisse wie Ernährung oder Kleidung. Sondern für Bereiche wie Wohnen oder Verkehr: Für Letzteren wenden Haushalte der höchsten Einkommensklasse (ab 5.000 Euro Nettoeinkommen pro Monat) durchschnittlich mehr als achtmal so viel Geld auf als Haushalte mit niedrigerem Einkommen (1.500 Euro Nettoeinkommen pro Monat).37
DER PLATZ AN DER SONNE IST SCHON BELEGT
Viele Menschen haben kein ausgeprägtes Gespür dafür, wo sie selbst sozial stehen (sie schätzen sich zum Beispiel der Mittelklasse zugehörig ein, obwohl sie faktisch an der Armutsgrenze leben, oder betrachten sich als deutlich weniger wohlhabend, als es tatsächlich der Fall ist). Sie haben dafür eine umso genauere Vorstellung davon, wo sie nicht stehen wollen: nämlich unten. 2018 gaben rund 47 Prozent der Deutschen an, dass die Aussage »Ich befürchte, meinen Lebensstandard nicht dauerhaft halten zu können«, auf sie zutrifft.38 Das Problem mit Ressourcen ist aber nun, dass sie nicht unbegrenzt zur Verfügung stehen. Das gilt auch und gerade für Geld im kapitalistischen System: Wenn immer mehr Einzelpersonen immer weniger globalen Reichtum auf sich vereinen, wird der Kampf um die sich reduzierenden Plätze an der Sonne rauer.
NOCH EINE ERINNERUNG
Im Jahr 2019 besaßen 0,9 Prozent der Weltbevölkerung 43,9 Prozent des globalen Vermögens. Über die Hälfte der Menschheit (56,6 Prozent) besaß nur 1,8 Prozent davon.39 Der reichste Mensch der Welt war am 20. September 2020 der Amazon-Gründer Jeff Bezos mit einem geschätzten Vermögen von 175 Milliarden US-Dollar. Drei Tage später wuchs es auf 182,5 Milliarden US-Dollar an.40
Anna Mayr beschreibt in Die Elenden die Funktion, die »Verelendete«, also perspektivlose und arme Menschen, innerhalb der Gesellschaft übernehmen: Man hält sie »den Arbeitern als verzerrenden Spiegel« vor, »um ihnen zu zeigen, wie sie enden, wenn sie sich nicht anstrengen«41. Die Armen und Abgehängten der Gesellschaft halten als unsichtbare Kraft die Arbeitenden in Schach