Und das ist noch nicht alles. Ansgar Röhrbein

Und das ist noch nicht alles - Ansgar Röhrbein


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für die Aufnahme eines »Gastkindes« als Pflege- oder Adoptivkind oder für eine Weiterbildung entschieden hatten. Heute sind es sowohl Kinder und Jugendliche als auch Mütter und Väter, die auf der Suche nach einer eigenen Standortbestimmung und einem gelingenden Miteinander mit einem interessierten Gegenüber die eigenen Gedanken und Gefühle sortieren möchten. Und zahlreiche Erwachsene in unterschiedlichen beruflichen Kontexten, die sich weiterqualifizieren und in der sich verändernden (Arbeits-)Welt den Durch- und Überblick behalten wollen, um den eigenen Aufgaben und Balanceprozessen gerecht werden zu können.

      Im Jahr 2009 hat die Band Silbermond mit ihrem Song »Irgendwas bleibt« den Wunsch nach Beständigkeit und Halt zum Ausdruck gebracht, der mir heute an vielen Stellen in der Begleitung von Menschen begegnet und den vermutlich viele Menschen teilen:

      »Sag mir, dass dieser Ort hier sicher ist

      Und alles Gute steht hier still

      Und dass das Wort, das du mir heute gibst

      Morgen noch genauso gilt

      Diese Welt ist schnell

      Und hat verlernt beständig zu sein

      Das (Arbeits-)Leben wirkt zuweilen beschleunigt, unsicher und unübersichtlich, zeitweise wenig durchschaubar und unkalkulierbar. In solchen Phasen stehen Menschen häufig vor zentralen Fragen: Wer bin ich? Was macht mich aus? Wo komme ich her? Wo will ich hin? Und mit wem? Wie nehme ich meinem Leben Geschwindigkeit? Wie behalte ich die Übersicht und bleibe handlungsfähig? Was sorgt für Regeneration und Durchatmen? Was für Planungssicherheit und Perspektive?

      Alle diese Fragen passen gut in den Kontext des biografischen Arbeitens. Denn eine große Stärke dieses Ansatzes ist es, sich selbst als Mensch ernst zu nehmen und unter fachlicher Begleitung in den Mittelpunkt zu stellen. Was Experten brauchen, um Menschen im Rahmen einer Biografiearbeit bei der Suche nach Antworten auf die aufgelisteten Fragen hilfreich zu begleiten, versuche ich in den nächsten Kapiteln zu beantworten, verbunden mit einem Überblick, worum es in der Biografiearbeit grundsätzlich geht.

      In meinen Ausführungen lege ich dabei den Schwerpunkt auf eine mögliche »Schatzsuche« und die Ressourcen aktivierenden und selbstwertstärkenden Vorgehensweisen. Schön ist es, wenn Menschen mit Johannes Oerding einstimmen können: »Ohne unser Gestern würd ich mich heut nicht so auf morgen freuen« (aus seinem 2017 veröffentlichten Lied »Hundert Leben«). Dies zeugt von guten Gaben, schönen Erlebnissen und tragfähigen Wurzeln, die es aus meiner Sicht zu entdecken gilt. Frei nach dem Motto: Worauf kann ich bauen, wen habe ich an meiner Seite, und welche Geschichte erzähle ich mir, damit mein Leben einen guten (weiteren) Verlauf nehmen kann?

       Dank

      Danken möchte ich zuerst meiner Familie und meinen Freunden, die mir für dieses Projekt den Rücken gestärkt haben; Anna Wiesemann für die schönen Zeichnungen; meinen zahlreichen Kollegen, die mir Rede und Antwort gestanden haben: Silvia Gelhausen, Juliane Haase, Nathalie Kompernaß, Dagmar Langenohl, Tim Reuter, Dagmar Rüther, Paul Rüther, Gabriele Teutenberg und Alina Wacker; Ralf Holtzmann, der an mich geglaubt und mich zum Durchhalten motiviert hat; meinen Teams am ISFT und hsi sowie im KiZ für die spannenden Dialoge zum systemischen Arbeiten; all meinen Klienten und Teilnehmern, die sich mit mir auf Schatzsuche begeben haben und mich mit ihren Erfahrungen beschenkt haben; und insbesondere natürlich meiner Frau Sabine, die mir trotz der erneut gestohlenen Zeit geduldig und liebevoll zur Seite gestanden und jeden Wunsch von den Augen abgelesen hat, wenn ich mal wieder am »Rande des Wahnsinns« war. Du bist und bleibst die Beste!

       Ansgar Röhrbein Lüdenscheid, im Juni 2018

      1Auf Wunsch des Verlages wird in diesem Buch darauf verzichtet, jeweils die männliche und die weibliche Form (hier: Autorinnen und Autoren) anzuführen. Gemeint sind jeweils beide Geschlechter, unabhängig davon, ob die männliche oder die weibliche Form benutzt wird.

      2Songwriter: Stefanie Kloss/Andreas Nowak/Johannes Stolle/Thomas Stolle; © Sony/ ATV Music Publishing LLC, Universal Music Publishing Group, BMG Rights Management.

       1 Mensch, Familie und Gesellschaft

       »Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht.«

      Vaclav Havel

       1.1Leben zwischen unbegrenzten Möglichkeiten und Risiko

      Wenn wir uns das Leben von Menschen heute anschauen, dann beschreiben zahlreiche Wissenschaftler die aktuelle Zeit als herausfordernd, risikobehaftet, schnelllebig und verunsichernd. Viele junge Menschen brauchen viele Jahre im Beruf, bevor sie sich auf eine Festanstellung freuen können. Der Soziologe Ulrich Beck hat dieses Phänomen bereits Ende der 1980er-Jahre als Leben in der Risikogesellschaft beschrieben (Beck 1986). Demgegenüber scheint es auf der anderen Seite eine unendliche Anzahl von Möglichkeiten zu geben, für die sich Menschen aktuell entscheiden können. Nicht selten wird das Ausbalancieren dieser zwei Pole, Risiko auf der einen und unbegrenzte Möglichkeiten auf der anderen Seite, als eine der wesentlichen Aufgaben in der heutigen Gesellschaft beschrieben. So konstatiert der Schulpädagoge und Didaktiker Theodor Schulze, in früheren Gesellschaften seien »die Rahmenbedingungen für die Gestaltung einer individuellen Lebensgeschichte für die meisten Menschen verhältnismäßig übersichtlich und kontinuierlich durch kulturelle und standes- und schichtspezifische Muster und durch laufbahnbezogene Institutionen vorgezeichnet und geordnet« gewesen (Schulze 2003, S. 66). Im Unterschied dazu seien in »der fortgeschrittenen modernen Gesellschaft … viele dieser Rahmenbedingungen durchlässig und instabil geworden … Die Zahl der lebensgeschichtlich bedeutsamen Entwürfe und Entscheidungen haben sich vervielfacht« (ebd.).

      Ähnlich beschreibt die Soziologin und Psychotherapeutin Margret Dörr die neuen Anforderungen an die Individuen (Dörr 2010, S. 35):

      »Die beschleunigte Veränderungsdynamik der modernen Gesellschaft, die in der Soziologie mit den Stichworten ›Individualisierung‹, ›Enttraditionalisierung‹, ›Entstandardisierung‹, ›Säkularisierung‹ begriffen wird, hat mit dazu geführt, dass Menschen sich in neuer Weise der eigenen Selbstbilder und Identitäten zu versichern suchen.«

      Der Sozialpsychologe Heiner Keupp kommt zu einer vergleichbaren Einschätzung der Gesamtsituation (Keupp 2013, S. 28):

      »Individualisierung, Pluralisierung, Flexibilität und Mobilität gehören also immer mehr zu den Normalerfahrungen in unserer Gesellschaft. Sie beschreiben strukturelle gesellschaftliche Dynamiken, die die objektiven Lebensformen von Menschen heute prägen.«

      Eine besonders herausfordernde Seite dieser Entwicklung beschreibt der Soziologe und Regionalforscher Bernhard Haupert im Zusammenhang mit einem zu beobachtenden tief greifenden strukturellen Wandel in den Generationsverhältnissen – die Entwicklung hin zu einer »präfigurativen« Kultur, wie die US-amerikanische Ethnologin Margret Mead (1971) es genannt hat, in der die Alten und Erwachsenen von den Jugendlichen lernen (Haupert 2010, S. 88):

      »Die Kultur befindet sich in einer Pioniersituation, in welcher unbekannt ist, was das Neue sein wird … Der geforderte ständige Wandel erreicht eine Dimension, welche die Flexibilität und Anpassungsfähigkeit der Erwachsenen überfordert. Dabei stehen für generative Krisen und die Krisen des Erwachsenwerdens keine erprobten Muster mehr zur Verfügung, an denen sich die Heranwachsenden orientieren können.«

      Da die großen Metainstitutionen wie Kirche, Staat etc. zu zerbrechen drohen, »fehlen immer mehr die übergreifenden generativen Diskurse (Meta-Erzählungen), die milieu- und generationsübergreifend Sinn stiften« (ebd.). Haupert zieht


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