Und das ist noch nicht alles. Ansgar Röhrbein

Und das ist noch nicht alles - Ansgar Röhrbein


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erfordert eine hohe Wachsamkeit des Individuums, um mögliche Chancen zu erkennen und entsprechend zu reagieren. Dazu ist hohe Frustrationstoleranz, Anpassungsbereitschaft und Flexibilität notwendig.«

      Im Hinblick auf die Lebenssituation von Jugendlichen kommt Keupp zu einer ähnlich kritischen Einschätzung (Keupp 2013, S. 19 f.): Deren Lage sei heutzutage

      »in der sozialen Lebenswelt durch eine eigentümliche Spannung gekennzeichnet: Einerseits sind schon für Jugendliche die Freiheitsgrade für die Gestaltung der eigenen individuellen Lebensweise sehr hoch. Andererseits werden aber diese ›Individualisierungschancen‹ erkauft durch die Lockerung von sozialen und kulturellen Bindungen. Der Weg in die moderne Gesellschaft ist, so gesehen, auch ein Weg in eine zunehmende soziale und kulturelle Ungewissheit, in moralische und wertemäßige Widersprüchlichkeit und in eine erhebliche Zukunftsunsicherheit.«

       1.2Erwachsenwerden heute

      Im Hinblick auf das, was das Aufwachsen in dieser Gesellschaft ausmacht, beschreibt Keupp folgende Zielsetzungen und notwendige Rahmenbedingungen (Keupp 2013, S. 38 f.):

      »Erwachsenwerden ist ein schwieriger werdendes Projekt. An welchen Modellen und Werten sollen sich Heranwachsende orientieren oder von welchen sich abgrenzen? Und welche Ressourcen brauchen sie dazu?

      •Sie müssen ihre eigene Lebenserzählung finden, die für sie einen kohärenten Sinnzusammenhang stiftet.

      •Sie müssen in einer Welt der universellen Grenzüberschreitungen ihr eigenes »boundary management« in Bezug auf Identität, Wertehorizont und Optionsvielfalt vornehmen.

      •Sie brauchen die »einbettende Kultur« sozialer Netzwerke und die soziale Kompetenz, um diese auch immer wieder mit zu erzeugen.

      •Sie benötigen die erforderliche materielle Basissicherung, die eine Zugangsvoraussetzung für die Verteilung von Lebenschancen bildet.

      •Sie benötigen die Erfahrung der Zugehörigkeit zu der Gesellschaft, in der sie ihr Lebensprojekt verwirklichen wollen.

      •Sie brauchen einen Kontext der Anerkennung, der die basale Voraussetzung für eine gelingende Identitätsarbeit ist.

      •Sie brauchen Voraussetzungen für den alltäglichen interkulturellen Diskurs, der in einer Einwanderungsgesellschaft alle Erfahrungsbereiche durchdringt.

      •Sie müssen die Chance haben, in Projekten des bürgerschaftlichen Engagements zivilgesellschaftliche Basiskompetenzen zu erwerben.«

      Die letzte Shell-Studie (2015) macht in diesem Zusammenhang durchaus Mut, denn mehr als die Hälfte (52 %) der befragten Jugendlichen blicken optimistisch auf die zukünftige gesellschaftliche Entwicklung, und 61 % sind optimistisch im Hinblick auf ihre eigene persönliche Zukunft. Darüber hinaus steigt auch das politische Interesse (fast 50 %) und die Bereitschaft, sich für sozial Benachteiligte zu engagieren (60 %). Sorgenvolle Gedanken kreisen um Terror (73 %) und einen möglichen Krieg in Europa (62 %). 95 % wünschen sich einen sicheren Arbeitsplatz.

      Neben den jungen Erwachsenen sind auch die älteren Generationen durch die beschriebenen Entwicklungen gefordert. Die Zeiten, in denen ich ein (Berufs-)Leben lang bei einem Arbeitgeber tätig sein kann, gelten nur noch für eine ausgesprochen kleine Bevölkerungsgruppe. Ein großer Teil der Beschäftigten sieht sich einer permanenten Bewährungsprobe und der Notwendigkeit einer kreativen Gestaltung des eigenen Berufs- und Lebensweges gegenüber, ohne dabei verlässlich auf die bisherigen Mittel setzen zu können. Die Gesellschaft erwartet auch hier eine ständige Weiterentwicklung, um mit den Veränderungen Schritt zu halten.

       1.3Von der Normalbiografie zur Patchworkbiografie

      Keupp (2008, 2013) kommt daher zu dem Schluss, dass sich die »biografischen Schnittmuster« grundlegend verändern und diese immer weniger aus bislang bestimmenden normalbiografischen Vorstellungen bezogen werden können. Er identifiziert tief greifende kulturelle, politische und ökonomische Umbrüche, die durch einen global agierenden digitalen Netzwerkkapitalismus bestimmt werden und einen »Wertewandel«, welcher einerseits neue Lebenskonzepte stützt, der aber zugleich in »seiner pluralisierten Form« zu einem Verlust von als gültig angesehenen Werten führt und mehr selbst begründete Wertentscheidungen verlangt. Darüber hinaus beschreibt Keupp die Notwendigkeit veränderter Geschlechterkonstruktionen, da es aus seiner Sicht bisher noch nicht gelungen sei, die untergründig wirksamen patriarchalen Normen und Familienmuster zu überwinden. Weiter diagnostiziert er eine Pluralisierung und Entstandardisierung familialer Lebensmuster, deren Bestand immer weniger gesichert ist und die von den beteiligten Personen hohe Eigenleistungen in der Beziehungsarbeit verlangen. Der Autor konstatiert daher eine wachsende Ungleichheit im Zugang der Menschen zu »ökonomischem, sozialem und symbolischem Kapital«, woraus auch eine ungleiche »Verteilung von Lebenschancen« erwächst (Keupp 2013, S. 26 f.). Und er sieht einen wachsenden Einfluss der Medien auf Bildung, Beziehung und Vernetzung, mit noch nicht einzuschätzenden Folgen auf die jeweiligen Bereiche. Aufgrund der oben beschriebenen kulturellen, gesellschaftlichen und arbeitstechnischen Veränderungen in der Gesellschaft hält Keupp das Konzept der »Normalbiografie« für überholt und spricht stattdessen von »Patchworkidentitäten« (Keupp 2008), weil je nach Situation und Lebensphase die eigene Selbstbeschreibung und die persönliche Lebensplanung neu zusammengesetzt werden müssen.

      Ein ordentliches Paket, was die aktuellen Generationen somit gemeinschaftlich tragen und gestalten müssen, ohne bereits für alle möglichen Fragen eine Antwort und das entsprechende Instrumentarium für die Bewältigung der jeweiligen Aufgaben bereitzuhalten. Auf der partnerschaftlichen Ebene und in der Familie gehören also Aushandlungsprozesse zunehmend zum Alltagsgeschehen, und diese setzen eine persönliche Standortbestimmung und Positionierung eines jeden Individuums voraus, um sich in dem Dialog nicht zu verlieren.

       1.4Was haben andere Menschen mir mitgegeben?

      Auch wenn sich in einigen Bereichen die Richtung des Lernens umgekehrt hat, so kommt es aus meiner Sicht dennoch weiterhin darauf an, was die Beteiligten als Essenz von wichtigen Menschen aus ihrer Familie und ihrem Umfeld für ihr Leben erhalten und in ihren »Rucksäcken« mitgenommen haben, um mit den beschriebenen Herausforderungen umgehen zu können.

      Gerne greife ich in diesem Zusammenhang auf die Modelle der beiden Psychologen und Psychotherapeuten Klaus Grawe (2000) und Rainer Sachse (2002) zurück, die einige grundsätzliche menschliche Bedürfnisse und Erfahrungen beschrieben haben.

      Grawe (2000) hat aufgrund seiner Forschungen vier Grundbedürfnisse als wesentlich für ein gelingendes Leben identifiziert:

       1) Bindung und Zugehörigkeit:

      Hiermit ist das Bedürfnis des Menschen nach Mitmenschen, nach Nähe zu einer Bezugsperson gemeint.

       2) Orientierung und Kontrolle:

      Dass das Leben einigermaßen sicher, verstehbar und vorhersehbar ist, weil es in gewohnten Bahnen und nach bekannten Prinzipien verläuft, und man Handlungsspielraum besitzt, sodass man mit seinem Tun tatsächlich etwas bewirken und Ziele erreichen kann.

       3) Selbstwerterhöhung und -schutz:

      Das Bedürfnis, sich als gut, kompetent, wertvoll und von anderen geliebt zu erleben.

       4) Lustgewinn und Unlustvermeidung:

      Das Bestreben, erfreuliche, lustvolle Erfahrungen herbeizuführen und schmerzhafte, unangenehme Erfahrungen zu vermeiden.

      Im Hinblick auf das Kontrollbedürfnis schreibt Grawe (2004, S. 231):

      »Je nach Lebenserfahrung, die das Individuum bezüglich seines Kontrollbedürfnisses (vor allem in seiner frühen Kindheit) macht, entwickelt es eine Grundüberzeugung darüber, ob Voraussehbarkeit und Kontrollmöglichkeit besteht, ob es sich lohnt, sich einzusetzen und zu engagieren, und inwieweit


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