Und das ist noch nicht alles. Ansgar Röhrbein

Und das ist noch nicht alles - Ansgar Röhrbein


Скачать книгу
wen konnte ich mich stets verlassen? Wer hat mir Halt und Sicherheit gegeben? Wer hat mir gezeigt, dass ich ein wertvoller Mensch bin? Wer hat dafür gesorgt, dass ich vor unangenehmen Erfahrungen geschützt wurde und die Welt in meinem Tempo entdecken konnte?

      Sachse benennt mit seinen sechs Beziehungsmotiven ähnliche Grundvoraussetzungen für persönliche Stabilität im Leben (Sachse 2001, S. 42 f.):

       • »Das Bedürfnis nach Akzeptierung:

      das Bedürfnis, von wichtigen anderen Personen um seiner selbst willen geliebt, geachtet, akzeptiert zu werden

       • Das Bedürfnis, wichtig zu sein:

      das Bedürfnis, für andere eine Bedeutung zu haben, in ihrem Leben eine Rolle zu spielen.

      •Das nach verlässlicher Beziehung:

      das Bedürfnis danach, eine Beziehung zu haben, auf die man sich verlassen kann, die tragfähig ist, die nicht ohne Weiteres infrage gestellt werden kann, die Belastung aushält; es ist ein Bedürfnis nach einer ›sicheren Bindung‹.

      •Das Bedürfnis nach solidarischer Beziehung:

      das Bedürfnis, dass der Interaktionspartner zu einem hält, einen unterstützt, Hilfe gibt, wenn man sie braucht, Geborgenheit realisiert, ›auf der eigenen Seite ist‹.

       • Das Bedürfnis nach Autonomie:

      das Bedürfnis danach, in seiner Selbstbestimmung, Selbstdefinition und Selbstentwicklung akzeptiert [zu] werden.

       • Das Bedürfnis nach territorialer Unverletzlichkeit der eigenen Domäne:

      das Bedürfnis danach, Bereiche des Lebens als eigene Bereiche definieren zu dürfen, Grenzen zu ziehen, und das Bedürfnis, dass diese Grenzen von Interaktionspartnern ernst genommen und respektiert werden und dass diese Partner die eigene Domäne nur betreten, wenn sie eine Erlaubnis dazu haben.«

      Diese für Sachse zentralen Beziehungsmotive spielen für jeden Menschen eine wesentliche Rolle, auch wenn sie in der Reihenfolge und Wichtigkeit individuell eine andere Bedeutung haben können. Die Beziehungsmotive können sich laut Sachse in unterschiedliche positive Richtungen (wenn sie gut erfüllt werden) und negative Richtungen (wenn sie wenig, unsicher oder gar nicht erfüllt werden) entwickeln.

      Wie leicht zu erkennen ist, fußen beide Modelle auf ähnlichen Erfahrungswerten und Grundannahmen, die sich in erster Linie in der Interaktion mit anderen (exklusiven) Bezugspersonen bewähren (müssen). Ganz wesentlich ist dabei die verlässliche Bindung (Bowlby 1969), deren Bedeutung sich inzwischen in zahlreichen Untersuchungen bestätigt hat. Der Psychologe Klaus Fröhlich-Gildhoff (2013, S. 65) fasst den hohen Wert so zusammen:

      »Der wesentlichste Schutzfaktor, der am stärksten zu einer gelingenden Entwicklung beiträgt und viele Risikofaktoren abpuffern kann, ist eine stabile, wertschätzende, emotional warme Beziehung zu einer (erwachsenen) Bezugsperson.«

       1.5Zusammenspiel von Ressourcen und Stressoren

      Wenn es nun um einen möglichen Überblick zu den gelungenen und herausfordernden Aspekten der Bewältigung des eigenen Lebens geht, sei an dieser Stelle an das wertvolle sog. integrative Systemmodell der Familienentwicklung des Psychologen Klaus A. Schneewind (2010, S. 128 f.) erinnert, welches das Zusammenspiel von vertikalen Ressourcen und Stressoren sowie von horizontalen Ressourcen und Stressoren beschreibt (Abb. 1; Tabelle 1).

       Abb. 1: Systemmodell der Familienentwicklung unter Berücksichtigung von Stressoren und Ressourcen (aus Schneewind 2010, S. 128)

      Mit diesem Modell ist es Schneewind sehr gut gelungen, die individuelle Dimension, die partnerschaftliche Dimension, die Einflüsse des Mehrgenerationensystems und weiterer außenliegender Systeme an einem idealtypischen Modell von Paar und Familie zu beschreiben (Schneewind 2010, S. 130): »Im Zusammentreffen der vertikalen und horizontalen Dimension von Stressoren und Ressourcen entscheidet sich, wie ein Paar oder Familiensystem mit gegenwärtigen und zukünftigen Herausforderungen umgeht.« Vergleichbares gilt auch für alleinstehende Menschen ohne Partner. In diesem Sinne stellt das Modell ein Gerüst zur Verfügung, um Bilanz zu ziehen, und eignet sich gut als Matrix, um »von oben« auf die aktuelle Lebenssituation zu schauen und entsprechende Such- und Sortierprozesse anzuregen:

      •Wo bin ich, bzw. sind wir bereits gut aufgestellt?

      •Was sind wertvolle Impulse aus meiner/deiner Familie?

      •Wo passen unsere Konzepte gut zueinander?

       Tab. 1: Beispiele für vertikale bzw. horizontale Stressoren und Ressourcen im individuellen System sowie im Paar- bzw. Familiensystem (aus Schneewind 2010, S. 129)

      •Was fördert unser Familienklima?

      •Wodurch sorgen wir für Lebensqualität?

      •Was hilft uns mit möglichen Belastungen umzugehen?

      •Auf welche Kraftquellen können wir zählen?

      •Wo sollten wir noch »anbauen«?

      Fragen, die im Trubel des Alltags gelegentlich untergehen können, die für die bewusste Gestaltung des eigenen Lebens jedoch von zentraler Bedeutung sind. Insbesondere, da die aktuellen, weiter oben beschriebenen gesellschaftlichen Herausforderungen (Kap. 1.2) von den handelnden Menschen permanente Standortbestimmungen und Anpassungsleistungen erwarten, damit sie den festen Boden unter den Füßen behalten.

      Das kann nicht ohne Wirkung auf die unterschiedlichen Professionen bleiben, denn die »Möglichkeiten, an den zu bewältigenden Lebensaufgaben zu scheitern, sind gewachsen. Biografische Kompetenz ist gefragt« (Schulze 2003, S. 66). Aus Theodor Schulzes Sicht müssen sich die professionellen Fachkräfte daher auf unterschiedliche lebensgeschichtliche Voraussetzungen und biografische Perspektiven einstellen, »und die Förderung biografischer Kompetenz wird zu einer pädagogischen Aufgabe« (ebd.).

      Dieser Einschätzung folgen auch Kraul und Marotzki (2002, S. 8) mit ihrer Schlussfolgerung, Menschen seien

      »im Übergang zur Informationsgesellschaft im hohen Maße auf biografische Arbeit verwiesen. Das liegt nicht nur daran, dass eine sogenannte Normalbiografie ihre normative Kraft weitestgehend eingebüßt hat, sondern es hat auch viel damit zu tun, dass beispielsweise Lernen lebenslang in die Biografie integriert werden muss«.

      Beide Autoren sprechen folglich von Biografiearbeit als einer modernitätstheoretisch fundierten Kategorie. In die gleiche Richtung zielt der US-amerikanische Soziologe Richard Sennett: Seinen Studien zufolge nimmt die Kurzfristigkeit des Arbeitslebens den Menschen die Chance, »eine Lebensgeschichte durch Arbeit« zu entwickeln (Sennett 2001, S. 19), sodass eine »Sinnhaftigkeit« im eigenen Leben »erst durch erhöhte biografische Arbeit hergestellt werden kann« (Kraul u. Marotzki 2002, S. 9). Dieser die Biografiearbeit begründenden Spur will ich nun nachgehen.

       2 Grundbegriffe der Biografiearbeit

       »Was man verstehen gelernt hat, fürchtet man nicht mehr.«

      Marie Curie

      Wie bereits im Vorwort beschrieben, gibt es inzwischen eine Fülle unterschiedlicher Publikationen zu den Themen Biografiearbeit und Erinnerungskultur. Für eine vertiefende Auseinandersetzung verweise ich auf die Bände von Girrulat et al. (2007),


Скачать книгу