Und das ist noch nicht alles. Ansgar Röhrbein

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Hubert Klingenberger: Biografiearbeit in Schule und Jugendarbeit. © Don Bosco Medien GmbH, München, S. 13.)

      In dieser Auflistung wird die Komplexität der individuellen Leistung eines jeden Menschen deutlich, die letztlich immer wieder dazu führen soll, dass ich weiß, wer ich bin, dass ich mich in meinem Leben weiterhin auskenne und weiß, worauf ich bauen kann, wenn ich die Zukunft plane.

      Hans Georg Ruhe verweist explizit darauf, dass gerade auch der Fachmann, der mit Menschen biografisch arbeitet, über eine gute eigene biografische Kompetenz verfügen sollte (Ruhe 2014, S. 37).

       2.3Identität

      An dieser Stelle macht es Sinn, einen weiteren Begriff in den Blick zu nehmen: Identität. Darunter verstehen wir unsere Unverwechselbarkeit, unsere Einmaligkeit und somit die Kontinuität des eigenen »Ich«. Nach dem deutsch-amerikanischen Psychoanalytiker Erik Erikson ist das »Gefühl der Ichidentität … also die angesammelte Zuversicht des Individuums, dass der inneren Gleichheit und Kontinuität auch die Gleichheit und Kontinuität seines Wesens in den Augen anderer entspricht« (Erikson 1968, S. 256). Erikson unterteilt den lebenslangen Identitätsfindungsprozess in mehrere Stufen und entsprechende Entwicklungsaufgaben (Tabelle 2). Für ihn gleicht die Identität der Erfahrung des Sich-gleich-Bleibens in der Zeit (Erikson 2000). Da es, wie bereits weiter oben beschrieben, vermutlich schwierig ist, permanent die oder der »Gleiche« zu bleiben, ist dies analog auch als Sich-treu-Bleiben zu verstehen. Das passt gut zu dem Verständnis des Begriffs von Margret Mead: »Identität [bedeutet] im Wesentlichen Bindung an Sinnkonzepte, kulturelle Werte und Orientierung an Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft innerhalb der Gesellschaft« (Mead 1971, zit. nach Oerter u. Dreher 2002, S. 263). Der US-amerikanische Psychologe David G. Myers unterscheidet in Anlehnung an Erikson zwischen Identität – »dem Gefühl für das eigene Selbst« – und sozialer Identität, dem »Wir-Gefühl als Teil unseres Selbstkonzepts; derjenige Teil unserer Antwort auf die Frage »Wer bin ich?«, der durch unsere Gruppenzugehörigkeit bestimmt wird« (Myers 2014, S. 212).

Identitätsstufe (ungefähres Alter) Thema Aufgabe oder Lernvorgang und Konsequenz bei Gelingen oder aber Nichtgelingen
Säugling und Kleinkind (0–1 Jahr) Vertrauen vs. Misstrauen Werden seine Bedürfnisse angemessen befriedigt, entwickelt das Kind Urvertrauen oder aber Misstrauen in Bezug auf die Menschen und seine Umgebung
Kleinkind (1–2 Jahre) Autonomie vs. Scham und Selbstzweifel Das Kind lernt, seinen Willen durchzusetzen und Dinge selbstständig zu erledigen oder aber zweifelt an seinen Fähigkeiten
Vorschulkind (3–5 Jahre) Initiative vs. Schuld Das Vorschulkind lernt, Dinge aus eigener Initiative zu erledigen und Pläne durchzuführen oder aber entwickelt Schuldgefühle wegen seiner Unabhängigkeitsbestrebungen
Schulkind (ab 6 Jahre bis Pubertät) Kompetenz vs. Minderwertigkeit Das Kind erfährt Lust an der Erfüllung einer Aufgabe oder aber fühlt sich minderwertig
Adoleszenz (ca. 13–20 Jahre) Identität vs. Rollendiffusion Der Teenager verfeinert sein Selbstbild durch Erproben verschiedener Rollen, die dann integriert werden und die Identität bilden, oder aber gerät in Verwirrung und weiß nicht, wer er ist
Frühes Erwachsenenalter (ca. 20–40 Jahre) Intimität vs. Isolation Junge Erwachsene kämpfen darum, enge Beziehungen einzugehen und die Fähigkeit zu Liebe und Intimität zu erlangen oder aber fühlen sich einsam und isoliert
Mittleres Erwachsenenalter (ca. 40–60 Jahre) Generativität vs. Stagnation Im mittleren Erwachsenenalter will der Mensch seinen Beitrag zur Welt leisten, meist durch Familiengründung und Arbeit andernfalls entwickelt er ein Gefühl der Sinn- und Zwecklosigkeit
Spätes Erwachsenenalter (ca. ab 60 Jahre) Ich-Integrität vs. Verzweiflung Denkt der ältere Mensch über sein Leben nach, vermittelt ihm dies Befriedigung oder ein Gefühl des Gescheitertseins

       Tabelle 2: Stufen der psychosozialen Entwicklung nach Erik Erikson (nach Myers 2014, S. 211)

      Der Moralpsychologe Augusto Blasi (1988) fasst den Identitätsbegriff von Erikson in der folgenden Form zusammen:

      »1) Identität ist eine Antwort auf die Frage ›Wer bin ich?‹.

      2) Im Allgemeinen führt die Antwort auf diese Frage zur Herausbildung einer neuen Ganzheit, in der die Elemente des ›Alten‹ mit den Erwartungen an die Zukunft integriert sind.

      3) Diese Integration vermittelt die fundamentale Erfahrung von Kontinuität und Selbstsein.

      4) Die Antwort auf die ›Identitätsfrage‹ wird durch eine realistische Einschätzung der eigenen Person und der eigenen Vergangenheit sowie

      5) der eigenen Kultur, insbesondere ihrer Ideologien und den [sic!] Erwartungen der Gesellschaft an die eigene Person, erreicht.

      6) Gleichzeitig werden die kulturellen Erwartungen ›kritisch hinterfragt‹, und auch die Berechtigung der sozialen Erwartungen wird überprüft (Krise).

      7) Der Prozess des Hinterfragens und der Integration kristallisiert sich um fundamentale Probleme, wie die berufliche Zukunft, die Partnerbeziehungen und um religiöse und politische Standpunkte.

      8) Er führt zur persönlichen Verpflichtung in diesen Bereichen und

      9) ermöglicht – von einem objektiven Standpunkt aus gesehen – die produktive Integration in die Gesellschaft.

      10) Subjektiv vermittelt diese Integration ein Gefühl von ›Loyalität und Treue‹ sowie

      11) ein tiefes Gefühl der Verwurzelung und des Wohlbefindens, der Selbstachtung und Zielstrebigkeit.

      Die hier beschriebenen Aspekte zur Herausbildung von Identität erinnern in ihrer Komplexität stark an die zuvor dargelegte biografische Kompetenz. Das verwundert nicht weiter, denn laut Oerter und Dreher (2002, S. 292) stecken in Identitätsbeschreibungen

      »zwei Grundbemühungen des Individuums, nämlich die Bemühung, sich selbst zu erkennen, und das Bestreben, sich selbst zu gestalten, an sich zu arbeiten, sich zu formen. Damit sind Selbsterkenntnis und Selbstgestaltung die zwei Prozesse, die Identitätsentwicklung vorantreiben«

      und damit eine flexible Anpassung an die jeweiligen Verhältnisse und die Verortung im »Hier und Jetzt« ermöglichen.

      Wie wertvoll diese Leistung für das eigene Leben ist, beschreibt der Philosoph Peter Bieri (2016, S. 15):

      »Selbsterkenntnis ist dasjenige, was dazu führt, dass wir eine transparente seelische Identität ausbilden und dadurch in einem empathischen Sinne zu Autor und Subjekt unseres Lebens werden können. Sie ist also kein freischwebender Luxus und kein abstraktes philosophisches Ideal, sondern eine sehr konkrete Bedingung für ein selbstbestimmtes Leben und damit Würde und Glück.«

       2.4Selbstwert

      Ähnlich verhält es sich mit dem nächsten Begriff – dem Selbstwert. Auch der Selbstwert ist gleichermaßen Ergebnis und Basis einiger wesentlicher Voraussetzungen, die zu einem tragfähigen


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