Games | Game Design | Game Studies. Gundolf S. Freyermuth
sich auch Veränderungen im kulturellen Verhalten gegenüber ästhetischen Artefakten einstellen. Das Spielerische, das vorindustriell viel galt, drängte der Industrialismus – angesichts der Gewalt und Gefahr, die von industriellen Maschinen und Prozessen ausgeht, auch mit einigem Grund – ins Private und dort auch an die Ränder des Hochkulturen. Harry Pross etwa schrieb, das Spiel gegen das Buch absetzend: »Im zweiten Sektor, dem der Freizeit und der Inkompetenz, ist das Spiel in seinen zahllosen Formen zu Hause.«45 Von dort allerdings kehrt es nun – im Zuge eines »movement from a culture of calculation to a culture of simulation«46 – ins Zentrum postindustrieller Zivilisation zurück. Der Widerspruch zwischen Arbeitsethik und Spielethik, den industrielle Rationalität behauptete und der in Fabriken wie Verwaltungen bestand, hebt sich sukzessive auf.
Mit einiger Konsequenz findet sich daher der fantasmatische Profanraum, in dem digitale Wissensarbeiter ihre ästhetischen Erfahrungen sammeln, nicht länger in der materiellen Realität, sondern in der Virtualität. Dort vollendet sich der Prozess entmaterialisierender Entortung, der mit dem Film begann: Wo auf der Bühne noch Menschen aus Fleisch und Blut stehen, zeigt das Kino Lichtbilder. Online streifen nun nach den Darstellern auch die Zuschauer, indem sie zu virtuellen Mitspielern werden, ihre Körperlichkeit zugunsten mediatisierter Präsenz ab. Digitale Spiele profitieren so von der sich mit der gesellschaftlich notwendigen Arbeit verändernden Haltung des Publikums. Die Bereitschaft, sich über längere Zeiträume hinweg ausschließlich passiv unterhalten zu lassen, nimmt ab und umgekehrt steigt die Bereitschaft zu interaktiver Partizipation. Die Notwendigkeit zur eigenen Entscheidung, wie sie die meisten analogen und digitalen Spiele erfordern, nehmen Spieler eben nicht als Last wahr, sondern erleben sie lustvoll.
Zu differenzieren ist daher heute – im Doppelsinne: nach Harry Pross – zwischen Spielen primärer, sekundärer, tertiärer und quartärer Medialität. Basieren Spiele primärer Medialität auf realen Simulationen des Realen, Spiele sekundärer Medialität auf symbolischen Repräsentationen des Realen und Spiele tertiärer Medialität auf tele-auditiven oder tele-audiovisuellen Teilhaben an realen Simulationen des Realen wie symbolischen Repräsentationen des Realen, so ermöglichen digitale Spiele erstmals eine interaktive Teilhabe nicht nur an virtuell-echtzeitigen Simulationen symbolischer Repräsentationen des Realen, sondern vor allem auch an virtuell-echtzeitigen und hyperrealistischen Simulationen des Imaginären.
Auf Grund dieser einzigartigen medialen Eigenschaften scheinen digitale Spiele besser als andere Darstellungs- und Erzählformen den Erfahrungen kultureller Digitalisierung zu entsprechen: den sich wandelnden Wahrnehmungsweisen von Zeit und Raum und neuen Auffassungen, wie unter den Bedingungen digitaler Produktion und Kommunikation Menschen zu sein und zu handeln haben.
Wie das neue Medium zwischen der Mitte des 20. und dem Beginn des 21. Jahrhunderts sukzessive in drei Entwicklungsschüben, die Eigenschaften gewann, die es heute auszeichnen, schildern die nächsten Kapitel.
1 Lazarus, Moritz, »Das Leben der Seele in Monographien über seine Erscheinungen und Gesetze«, (1883). Zitiert nach Krämer, Sybille: »Ist Schillers Spielkonzept unzeitgemäß? Zum Zusammenhang von Spiel und Differenz in den Briefen ›Über die ästhetische Erziehung des Menschen‹«, in: Bürger, Jan (Hg.), Friedrich Schiller: Dichter, Denker, Vor- und Gegenbild, Göttingen: Wallstein-Verl. 2007, S. 158-171.
2 Salen/Zimmerman: Rules of Play, loc. 4730.
3 Diese Definition, die Schlegel in den Athäneums-Fragmenten gibt (Schlegel, Friedrich von/Behler, Ernst/Anstett, Jean Jacques/Eichner, Hans: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe: Erste Abteilung: Kritische Neuausgabe, Band 2, München, Paderborn, Wien: F. Schöningh 1967, S. 180), hat gegenüber vielen späteren Versuchen – von Johan Huizinga bis zu Game-Theoretikern der Gegenwart wie Jesse Schell – den Vorteil einer Offenheit, die ihr über die Grenzen der Künste (und Medien) hinweg Gültigkeit verleiht. Indem sie die Gemeinsamkeiten etwa von Bühnenspiel und digitalem Spiel erfasst, entgehen ihr freilich zwangsläufig deren Differenzen. Denn die enge Verwandtschaft der audiovisuellen Medien besagt wenig über die Qualität ihrer je aktuellen Beziehungen. Kain erschlug Abel und jeder mag in der eigenen Familie Beispiele für die Dialektik von Anziehung und Abstoßung finden, für wechselndes Miteinander ebenso wie Neben- und Gegeneinander. Insbesondere die verschiedenen – ästhetischen, künstlerisch-praktischen, technologischen, wirtschaftlichen – Aspekte des kulturellen Verhältnisses von Spiel und Film bedürfen daher einer genaueren historischen Klärung. S.u. S. hereff.
4 Alberti, Leon Battista: On Painting.Translated with Introduction and Notes by John R. Spencer., New Haven: Yale University Press 1970, *1956, 19. Kapitel, http://www.noteaccess.com/Texts/Alberti/
5 Crawford, Chris: »The Phylogeny of Play«, (2010), http://www.erasmatazz.com/library/science/the-phylogeny-of-play.html. Deutsch: Ders., »Die Phylogenese des Spielens. Zur evolutionären Verbindung von Lernen und spielerischer Motorik«, in: Freyermuth, Gundolf S./Gotto, Lisa/Wallenfels, Fabian (Hg.), Serious Games, Exergames, Exerlearning: Zur Transmedialisierung und Gamification des Wissenstransfers, Bielefeld: Transcript 2013, S. 75-90.
6 Herodotus/Macaulay, G. C.: The History of Herodotus, 2 vols., London ; New York: Macmillan and Co. 1890, hier Buch 1 Clio, 94, http://www.sacred-texts.com/cla/hh/index.htm
7 McGonigal: Reality Is Broken, loc. 242.
8 Mäyrä: Game Studies, loc. 621.
9 Goldblatt, David: The Ball is Round: A Global History of Football, New York: Riverhead Books (Kindle Edition) 2008, loc. 515. – Vgl. ebenso das Verbot des Golfspiels, das 1457 in Schottland verhängt wurde: Avedon/Sutton-Smith: The Study of Games, S. 24. Zitiert nach Juul: Half-Real, loc. 272.
10 Kent, Steve L.: The Ultimate History of Video Games: From Pong to Pokémon and Beyond: The Story Behind the Craze That Touched Our Lives and Changed the World, Roseville, Calif.: Prima Pub. 2001, S. 72. Vgl. ebenso die »Verteufelung« von Rollenspielen in den siebziger und achtziger Jahren als blasphemisch: Egenfeldt-Nielsen et al.: Understanding Video Games, loc. 1409.
11 Juul: Half-Real, loc. 272.
12 Pross, Harry: Medienforschung: Film, Funk, Presse, Fernsehen, Darmstadt: Habel 1972. Vgl. auch die zusammenfassende Darstellung Ludes, Peter/Hörisch, Jochen: Einführung in die Medienwissenschaft – Entwicklungen und Theorien, Berlin: Erich Schmidt Verlag 2003, S. 64ff.
13 Pross: Medienforschung, S. 119.
14 Ebd., S. 68.