Games | Game Design | Game Studies. Gundolf S. Freyermuth
oder Quiz- und Spielshows, deren mediale Zurichtung sie von Spielen zweiter in Spiele dritter Medialität transformierte, gelang es den Broadcast-Medien über Jahrzehnte hinweg, die größten Gemeinschaftserlebnisse industrieller Kultur zu stiften.
Die mediale Differenz von Spielen lässt sich somit im Hinblick auf ihre Repräsentationsweise bestimmen:
Spiele primärer Medialität wie FANGEN basieren auf einer realen Simulation des Realen;
Spiele sekundärer Medialität wie SCHACH basieren auf einer symbolischen Repräsentation des Realen;
Spiele tertiärer Medialität wie Radio- und Fernseh-Übertragungen von Sportveranstaltungen oder Quizshows basieren auf der medialen Repräsentation und Zurichtung von Spielen primärer und sekundärer Medialität, d.h. sie erlauben eine tele-auditive oder tele-audiovisuelle Teilhabe – überwiegend passiv und von Ferne – an montierten Simulationen des Realen sowie montierten symbolischen Repräsentationen des Realen.
Radikal differiert dabei die Rolle der Spieler beziehungsweise des Publikums: Spiele primärer und sekundärer Medialität erlauben Spielern wie den physisch anwesenden Zuschauern teils selbstbestimmte Interaktion, teils fremdbestimmte Partizipation, wobei das Verhältnis von Spielenden wie Zuschauenden bis ins frühe 20. Jahrhundert relativ ausgewogen blieb. Spiele tertiärer Medialität hingegen führen nicht nur dazu, dass ein Publikum aus Millionen wenigen Spielern zuschaut. Sie unterwerfen auch die winzige Minderheit der Mitspielenden diversen medialen Regimes – von der Selektion des zu übertragenden Sportspiels wie der Akteure in Spielshows nach massenmedialen Kriterien bis hin zur Live-Regie mehrerer Kameras und ihrer Perspektiven, durch die jeder Spielfluss audiovisuell fragmentiert und zugerichtet wird.
BEISPIEL FUSSBALL:
DER WEG EINES SPIELS DURCH DIE MEDIALITÄTEN
Der historische Prozess, in dem einzelne Spielformen mediale Formen akkumulieren, lässt sich am Beispiel des Fußballs demonstrieren, dem »most universal cultural phenomenon in the world«19 und zugleich einem zentralen »sector of the global entertainment industry«.20 Schätzungen des internationalen Fußballverbands FIFA besagen, dass es zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine Milliarde aktiver Fußballer sowie 50 Millionen Schiedsrichter gebe und die Gesamtlänge der weißen Linien auf sämtlichen Fußballfeldern dieser Welt 25 Millionen Kilometer umfasse – »enough to circle the earth over a thousand times«.21 Die Anfänge des Spiels waren unspektakulärer.
Vortechnische und auch größtenteils ungeregelte Varianten lassen sich noch heute beobachten, wenn Steine oder runde Früchte wie Äpfel, Orangen, Melonen oder Kürbisse getreten oder zwischen Spielern hin und her gespielt werden. Von der primären zur sekundären Medialität schritt der Sport vor rund 4000 Jahren mit der handwerklichen Fertigung erster, zunächst noch massiver Bälle aus verschiedenen Materialien, etwa Leder und Gummi, und der Ausbildung von Regelwerken fort.22 Dabei blieben die unterschiedlichen Ballspiele von Asien bis Mittelamerika eingebunden in religiöse Riten und auch kriegerische Konflikte:
»Sometimes a substitute for war, the game could also provide its denouement as defeated opponents first played the game before being sacrificed – their heads cut off or their hearts torn out.«23
Aus Vorzeit und Antike in die europäische Neuzeit kam die Vorliebe, Bälle nicht mit der Hand, sondern mit dem Fuß zu spielen, über die keltischen Kulturen, da sie im christlichen und eher spielefeindlichen Mittelalter einige Unabhängigkeit bewahrten:
»All appear to have played large-scale and often riotous ball games in large open spaces with innumerable participants divided into two teams trying to get the ball to a particular place with few formalities or restrictions.24 […] Often the games were played between two parishes or villages, the ball carried across the open fields between them.25 […] It was certainly violent enough for deaths and injuries to be recorded.«26
Der Prozess, in dem der Fußball schließlich seine moderne Gestalt fand, nahm seinen Ausgang in den britischen Public Schools des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, insbesondere Rugby und Eton. Sportliche Betätigungen und vor allem Fußball gewannen sowohl in ihrem Curriculum wie auch für ihr Selbstverständnis eine wesentliche Rolle. Erst innerschulisch, später zwischen den Schulen kam es, um Turniere zu ermöglichen, zu einer sukzessiven Kodifizierung und Standardisierung von Regeln. In einem zweiten Schritt drang dann im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts das Fußballspiel aus der Oberschicht- und Obere-Mittelklasse-Welt dieser Schulen in breitere Bevölkerungsgruppen: »Almost from the moment of its codification football was colonized by the British working classes as both players and spectators.«27
Diese Popularisierung des Fußballs folgte im Mutterland der Industrialisierung und in deren Zentren weitgehend dem Vorbild bereits etablierter, in der aristokratischen und bürgerlichen Kultur verwurzelter Sportarten wie Pferderennen, Rudern, Boxen oder Kricket: Einigung verschiedener regionaler Clubs auf gemeinsame Regeln und Prozeduren, Bildung von Ligen und Ausrichtung regionaler und nationaler Meisterschaften. Die dafür wichtige Standardisierung des Balls im Hinblick auf Größe und Beschaffenheit gelang 1872.28 Die Rolle des Feldschiedsrichters wurde 1881 eingeführt, wenn er seine heutige Funktion auch erst 1898 gewann.29 1882 erhielt das Tor eine Latte, 1892 ein Netz.30 Um die Mitte der 1880er Jahre setzte dann – trotz bestehender Verbote – die Verdrängung von Amateuren durch bezahlte Berufsspieler ein. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs bestritten in England um die 5000 Profis ihren Lebensunterhalt mit Fußball.31
Im Kontext dieser Professionalisierung des neuen Volkssports industrieller Kultur vollzog sich auch seine Medialisierung. Ein erster Schritt bestand – wie schon in der neuzeitlichen Medialisierung des Schauspiels – in der Errichtung spezialisierter Gebäude, die es immer mehr Menschen erlaubten, dem Spiel aus zumindest erträglichen Perspektiven zu folgen. Binnen weniger Jahrzehnte wuchsen diese neuartigen Fußballstadien in Großbritannien auf Kapazitäten, die das römische Kolosseum als bis dahin größten Vergnügungsbau der Geschichte mit seinen 50-80 000 Sitzplätzen erreichten und übertrafen. So fasste das 1907 fertiggestellte Stadium in Glasgow, damals für einige Zeit das größte der Welt, über 120 000 Zuschauer.32
Parallel dazu begannen vielfältige Anstrengungen, Fußballspiele und ihre Ergebnisse zumindest post festum auch denjenigen zugänglich zu machen, die an ihnen nicht persönlich teilnehmen konnten. Seit den 1880er Jahren wurden die Ergebnisse wichtiger Begegnungen per Telegraph in entfernte Städte übertragen, um sie in Postämtern und Lokalen zu verkünden.33 Zeitschriften und Zeitungen rund um den Fußball entstanden und erreichten immer höhere Auflagen. Die Wochenzeitung Scottish Referee, gegründet 1888, wurde beispielsweise im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, als Schottland fünf Millionen Einwohner zählte, in einer Auflage von 500 000 Exemplaren vertrieben.34 1907 veröffentlichte die britische Daily Mail die ersten Fotos von Fußballspielen.35
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