Games | Game Design | Game Studies. Gundolf S. Freyermuth
v. Chr.) oder das KÖNIGLICHE SPIEL VON UR (Sumer, 2600 v. Chr.). Im fünften Jahrhundert vor Christus beschrieb der griechische Historiker Herodot gar, wie es angeblich 700 Jahre zuvor die kleinasiatischen Lyder, denen auch die Erfindung des Gelds zugeschrieben wird, durch Brett-, Würfel- und andere Spiele vermochten, eine langwährende Hungersnot erst über Jahre hinweg zu ertragen und dann mit einem letzten Spiel auch einer Lösung zuzuführen, die dem Überleben des Gemeinwesens diente.6 Die Game-Design-Theoretikerin Jane McGonigal vermutet in dieser historischen Funktion analoger Spiele auch die Zukunft digitaler:
»When Herodotus looked back, he saw games that were large-scale systems, designed to organize masses of people and make an entire civilization more resilient. I look forward to a future in which massively multiplayer games are once again designed in order to reorganize society in better ways, and to get seemingly miraculous things done.«7
Der positiven Nutzung wie Bewertung von Spielen korrelieren freilich ebenso durchgehend fundamentale Kritik und wiederkehrende Verbotsanstrengungen. Frans Mäyrä spricht von der »continuous history of bans or restrictions on games playing«.8 In der westlichen und christlich geprägten Neuzeit reichen sie von den vielfachen Anstrengungen britischer Könige, zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert Vorformen des modernen Fußballs zu verbieten,9 über den Bann von Flipper-Automaten, der in New York zwischen den 1930er und 1970er Jahren galt,10 bis zu den in der Gegenwart immer wieder aufflackernden Verbotsrufen für so genannte »Killerspiele«. In historischer Sicht, schreibt Jesper Juul, sei »the current preoccupation with the assumed dangers of video games […] a clear continuation of a long history of regulation of games as such …«11 Der Kulturkampf ums Spielen und einzelne Spielformen bildet so den sozialen Rahmen für die theoretisch orientierte Mediengeschichte des Spiels in der Neuzeit, die dieses Kapitel skizzieren will.
Ihr kategoriales Gerüst geht auf Harry Pross' Studie zur Medienforschung zurück.12 In ihr unterscheidet Pross verschiedene Medialitäten nach »der Apparatur des Mitteilungssystems«,13 d.h. nach dem Maß des jeweiligen Technikeinsatzes. Da jedoch stetem Wandel unterliegt, welche Technologien und Techniken kulturell zur Verfügung stehen, besitzt Pross' Ansatz den Vorteil, zugleich systematisch und historisch zu operieren. Damit erlaubt seine Theorie der Medialitäten die Geschichte der Medien als einen Prozess progressiver Akkumulation und Ausdifferenzierung zu verstehen.
PRIMÄRE, SEKUNDÄRE UND TERTIÄRE MEDIALITÄT
Primäre Medien erfordern noch keinerlei Technik. Bei ihnen »kommt es darauf an, spezielle Kenntnisse in einer Person zu verschmelzen.«14 Pross nennt für die Kommunikation z.B. Gestik, Mimik sowie vorsprachliche und sprachliche Geräusche. Zu den Formen, die Ästhetisches vermitteln, gehören u.a. Rituale und Zeremonien. »Gemeinsam ist ihnen allen, daß kein Gerät zwischen den Sender und den Empfänger geschaltet ist und die Sinne der Menschen zur Produktion, zum Transport und zum Konsum der Botschaft ausreichen.«15 Von primärer Medialität sind nach Pross' Kriterien – auch wenn er sie nicht nennt – vortechnische Varianten des Theaters wie etwa Improvisations- und Straßentheater sowie Spiele, die ohne Technikeinsatz auskommen: etwa physische Bewegungsspiele wie FANGEN oder VERSTECKEN oder Geschicklichkeitsspiele wie SCHERE, STEIN, PAPIER.
Für sekundäre Medien gilt dann: »Der Kommunikator braucht ein Gerät.«16 Gemeint ist: um die jeweiligen Medien zu verfertigen – Bilder wie Zeichnungen, Gemälde, Karikaturen oder Fotografien, auch Münzen und Geldscheine, ebenso Schriftstücke wie Briefe, Handzettel, Flugblätter, Bücher, Zeitungen und Zeitschriften. Sekundäre Medien existierten selbstverständlich Jahrtausende vor der Renaissance. In der Neuzeit erhielten sie jedoch einen dreifachen Entwicklungsschub:
zum einen im Bereich der Schrift durch den Buchdruck, der erstmals eine standardisierte Vervielfältigung in zudem höheren Stückzahlen ermöglichte;
zum zweiten im Bereich des Bildes durch die mathematisch basierte Perspektivtechnik, die zu einem zuvor unbekannten visuellen Realismus führte;
zum dritten im Bereich audiovisueller Darstellung durch die Akkumulation einer Vielzahl mechanischer Techniken in eigens errichteten Theaterbauten – u.a. perspektivisch gezeichnete und perspektivisch arrangierte Kulissen, Hebebühnen, Vorhänge, Zurichtung des Blicks durch die Sistierung des Publikums –, aus denen in der Summe ein neuer audiovisueller Realismus resultierte.
Als Gegenstück zum Kirchenschiff, dem zentralen fantasmatischen und öffentlichen Sakralraum der agrarischen Epoche, bildeten das Theater und seine Guckkastenbühne am Ende der von allmählicher Säkularisierung geprägten mechanischen Epoche den zentralen fantasmatischen und öffentlichen Profanraum individueller Sammlung, Erziehung und Selbstverständigung. Der neue Horizont, den die realistische audiovisuelle Nachahmung des Lebens eröffnete, ließ die Bühne zum Leitmedium werden:
»In der glänzenden Reihe von Shakespeare über Calderon bis Racine beherrschte das Drama die Dichtkunst des Zeitalters. Ein Dichter nach dem anderen verglich die Welt mit einer Schaubühne, auf der ein jeder seine Rolle spielt.«17
Zur gleichen Zeit durchlebten Spiele sekundärer Medialität – insbesondere Brett- und Kartenspiele wie SCHACH oder BLACKJACK – durchlebten einen kontinuierlichen Prozess der Standardisierung. Er gelang in Parallele zu der Fertigung der Spiele durch Druck und andere mechanische Verfahren und der Durchsetzung ihrer lokalen, regionalen, nationalen und schließlich internationalen Distribution. Vor allem in der industriellen Epoche kam es dann auch zur Erfindung einer Vielzahl neuer Spiele sekundärer Medialität – von dem sehr preußischen KRIEGSSPIEL (1824) über das sehr amerikanische MONOPOLY (seit 1933) bis zu DUNGEONS AND DRAGONS (1974). Die meisten dieser Neuschöpfungen waren zwar deutlich als Ausdruck spezifischer nationaler (Sub-) Kulturen zu erkennen, fanden aber massenhafte und interkulturelle Verbreitung.
Parallel dazu entstanden mittels industrieller Technologie gänzlich neue tertiäre Medien, »bei deren Gebrauch sowohl Sender wie Empfänger Geräte benötigen«.18 Als erstes tertiäres Medium nennt Harry Pross den elektrischen Telegrafen. Ihm folgten u.a. Telefon, Grammophon, Zeichentrick- und Spielfilm, Tonband und Video. Insbesondere die industriellen Broadcast-Medien Radio und Fernsehen veränderten nachhaltig, wie und was die Zeitgenossen spielten. Durch Live-Übertragung verwandelten sie Sport- und Wettbewerbsspiele erster und zweiter Medialität wie FUSSBALL oder WETTLAUFEN, BLACK JACK oder SCHACH aus lokalen Ereignissen, in denen Teilnehmer und Publikum noch in einem direkten Verhältnis standen, in nationale und internationale Ereignisse, die von Millionen Menschen passiv erlebt wurden. Darüber hinaus kreierten die Rundfunkmedien eine Vielzahl neuer Zuschauerspiele, die eigens für ihre Radio- und Fernsehübertragung inszeniert wurden.
Einige dieser Radio- und TV-Shows versuchten nicht nur die Studiogäste zu involvieren, sondern auch einzelnen Repräsentanten des ›abwesenden‹ und passiv gestellten Radio- und Fernsehpublikums medial vermittelte Partizipation zu ermöglichen. Ein besonders interessantes Beispiel gab etwa in der Bundesrepublik die Spielshow DER GOLDENE SCHUSS (1964-1970). In ihr konnten Anrufer durch Sprachkommandos eine Apparatur, die eine Kamera und eine Armbrust verband, fernsteuern und schließlich zum Abschuss bringen. Die innovative Kombination von visueller Perspektive und Interaktivität lässt sich heute als eigentümliche Antizipation