Games | Game Design | Game Studies. Gundolf S. Freyermuth
Januar 1927, drei Wochen nach der Gründung der BBC.36 Damit war Fußball in der tertiären Medialität angekommen. Die erste Fernsehübertragung, wiederum durch die BBC im noch experimentellen Sendebetrieb, wurde bereits ein Jahrzehnt später ausgestrahlt, im September 1937.37 In den Gründerjahren des Fernsehens, den fünfziger und sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts, gingen – zumindest in Großbritannien und Kontinentaleuropa – Fußball und Fernsehen eine symbiotische Beziehung ein: Neben der Übertragung von Spiel- und Unterhaltungsshows sowie der Ausstrahlung von Spielfilmen trug Fußball entscheidend dazu bei, dass die Television zum neuen Leitmedium der Epoche aufstieg. Umgekehrt sorgte die Integrierung des Sports ins tertiäre Massenmedium durch Live-Übertragungen, Meldungen in den Nachrichtensendungen und eigene Sportschauen dafür, dass Fußball von einem proletarischen Mitmachspiel britischer Provenienz zu einem globalen, alle Klassen begeisternden Spiel wurde, das die Mehrheit der Menschen primär als Zuschauer erlebte.
Mit dem Aufkommen analog-elektronischer und dann digitaler Spiele seit den 1960er Jahren migrierte Fußball unmittelbar auch in diese neuen Medien. Das erste elektro-mechanische Fußballspiel CROWN SOCCER SPECIAL erschien 1967.38 Viele andere Arkaden- und PC-Spiele folgten. Der entscheidende Durchbruch gelang jedoch erst mit Fußballmanager-Spielen seit Anfang der neunziger Jahre. Erfolgreich waren vor allem ANSTOSS – DER FUßBALLMANAGER (1993-2006), FIFA INTERNATIONAL SOCCER und FIFA (seit 1993) sowie PRO EVOLUTION SOCCER (seit 2001). Allein von den diversen Inkarnationen der FIFA-Serie verkaufte Electronic Arts bis 2010 nach eigener Auskunft 100 Millionen Exemplare.39 Digitale Fußballspiele leiten so eine neue Phase massenhaft aktiver, allerdings nun nicht mehr realer, sondern virtueller Teilhabe ein. Fußball scheint erneut von einem Zuschauer- zu einem Spielersport zu werden. Wer heute einen Raum betritt und Menschen vor einem HD-Bildschirm sitzen sieht, kann sich – zumindest aus einiger Entfernung – auf Anhieb nicht mehr ganz sicher sein, ob dort ein Match ›läuft‹ und ›geschaut‹ wird oder ob die vermeintlichen Zuschauer nicht doch das Spiel selbst spielen.
QUARTÄRE MEDIALITÄT: VOM ZUSCHAUER ZUM SPIELER
Als Harry Pross vor einem halben Jahrhundert seine Taxonomie der Medialitäten vorlegte, war die Entwicklung des digitalen Transmediums – vor allem im Kontext europäischer Kultur – kaum absehbar. Insofern muss sie aus heutiger Sicht ergänzt und auch partiell korrigiert werden. Zwar erforderten die tertiären Medien, wie Pross erkannte, auf beiden Seiten des Kommunikationsprozesses Technik. Mit Blick auf die Digitalisierung ist diese Sende- und Empfangstechnik jedoch näher zu bestimmen. Denn die analogen Massenmedien Radio und Fernsehen erlaubten lediglich die Übermittlung fixierter und standardisierter Werke in eine Richtung: von wenigen Produzenten beziehungsweise Sendern zu vielen Konsumenten beziehungsweise Empfängern. Die Zuhörer und Zuschauer konnten nicht ›zurücksenden‹. Sie vermochten also weder mit den Anbietern der Programme oder mit dem Programmangebot selbst noch untereinander zu interagieren. Insofern lässt sich Pross' Definition tertiärer Medialität aus gegenwärtiger Sicht dahingehend ergänzen, dass es sich bei der Technik, die bei den Broadcast-Medien zum Einsatz kommt, prinzipiell um Einweg-Technik handelt: Sie ermöglicht dem Empfänger kein Rücksenden und verhindert umgekehrt, dass die Sender wie die gesendeten Werke Rückmeldungen empfangen können.40
Im Zuge der Digitalisierung entstand dann eine weitere Medialität, die wiederum auf beiden Seiten des Kommunikationsprozesses Technik einsetzt, jedoch prinzipiell über Rückkanäle verfügt – ob dieses Potential zur Interaktion den Nutzern nun zur Verfügung gestellt wird oder nicht. Denn auch unter digitalen Produktions- und Distributionsbedingungen folgen die Hersteller linearer Audiovisionen in der Regel der Tradition des Kinofilms und den künstlerischen Prärogativen, die sich mit ihr verbinden. Unabhängig davon, ob sie in der Tat weiterhin im Kontext der tradierten Offline-Medien Kino und Fernsehen arbeiten oder bereits für Online-Medien, präsentieren sie ihrem Publikum eine Final-Cut-Version als geschlossenes Werk. Sie reservieren also die dem Transmedium inhärenten Interaktionsmöglichkeiten für sich selbst und ihren kreativen Umgang mit den Software-Dateien. Game Designer hingegen integrieren die Befähigung, mit Elementen der jeweiligen Audiovisionen zu interagieren, in das Interface der Spiele und offerieren darüber hinaus häufig auch einen Zugang, der tiefergehende Veränderungen des Spiels erlaubt, so genannte Mods, also Modifizierungen.
Mediengeschichtlich verbinden sich daher mit quartärer Medialität41 – dem Übergang zum digitalen Transmedium und seiner technisch fundierten Mehrweg-Kommunikation – Konsequenzen sowohl für die Produktion wie die Rezeption von Audiovisionen. Zum einen kommt es zu einer Verschmelzung gestalterischer Souveränität, wie sie handwerklicher Bildlichkeit eignet, mit den Qualitäten industrieller Reproduktion. Während die technische und ästhetische Entwicklung hyperrealistischer Audiovisualität in den 1970er bis 1980er Jahren noch primär im Kontext des – amerikanischen – Spielfilms und auf der Basis von Pre-Rendering geschah, realisieren seit den 1990er Jahren so genannte Game Engines, also Software-Entwicklungsumgebungen für digitale Spiele, das Potential quartärer Medialität zur echtzeitigen Erzeugung virtueller Bilder und Töne in – nahezu – ›fotorealistischer‹, d.h. lebensechter Qualität.42
Zum zweiten gelang auf Seiten der Rezeption eine Integration und drastische Steigerung der Rezeptionsweisen, die sich mit primärer, sekundärer und tertiärer Medialität verbinden. In der Virtualität lässt sich so erstmals dem Prinzip nach arbiträr zwischen fremdbestimmter, selbstbestimmter und interaktiver Nutzung medialer Artefakte wählen beziehungsweise wechseln. Damit scheint das digitale Transmedium einen historischen Um- oder auch Rückschwung im Hinblick auf das kulturell dominierende Verhalten gegenüber ästhetischen Artefakten einzuleiten.
Die weitgehende Stillstellung des Publikums – im Theater, im Museum, im Kino, vor Radio und Fernseher – war bekanntlich eine Leistung industrieller Kultur. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein wurden Theatersäle zum Beispiel nicht abgedunkelt. Zeitgenössische Darstellungen und Beschreibungen dokumentieren, in welch hohem Maße das Publikum, das sich sehen und beobachten konnte und den Theaterbesuch als soziales Ereignis begriff, untereinander und auch mit den Schauspielern interagierte, etwa durch anfeuernde oder schmähende Zwischenrufe. Den kollektiven Tunnelblick, der vom lichtlosen Zuschauerraum auf die Bühne fallen muss, führte erst Richard Wagner in Bayreuth ein. Das Arrangement nahm als proto-cinematische Rezeptionsform so aus Gründen ästhetischer Sammlung die Abdunkelung vorweg, die wenig später der Film aus technischen Gründen erfordern sollte.
Das frühe Kino hatte dann ebenfalls einige Mühe, das – nun eher Unter- und Mittelschichtspublikum – von allzu viel Unruhe und Unmutsäußerungen abzuhalten, insbesondere vom Bewerfen der Akteure beziehungsweise der Leinwände mit Gegenständen, wie man es von Live-Veranstaltungen her gewohnt war. Der offensichtliche Zusammenhang zwischen dem, was die neuen industriellen Medien ihrem Publikum abverlangten, und dem, was die industrielle Lebensweise generell erforderte, ist vielfach bemerkt worden.43 Von der Dressur zum physisch und kommunikativ passiven, aber äußerst aufmerksamen Verfolgen immer schneller wechselnder Situationen in Kunst und Unterhaltung führt eine relativ direkte Linie zum einen zu den Erfahrungen, welche die neuen Verkehrsmittel Eisenbahn und dann Automobil vermittelten, und zum zweiten zu den Anforderungen industrieller Arbeit, die auf einem standardisierten passiven Verhalten beruhte, das wie fremdgesteuert wirkte, aber eben selbstgesteuert sein musste.
Digitale Wissensarbeit kennzeichnet dagegen selbständiges Handeln in kreativer und durchaus auch forschender, ausprobierender, also spielerischer Manipulation von Software-Programmen und Software-Dateien und ihren virtuellen Symbolen.44 Unter dieser Perspektive verwundert es nicht, dass im selben Maße, in dem diese digital ermächtigte