Games | Game Design | Game Studies. Gundolf S. Freyermuth
ALTERITÄT DIGITALER SPIELE
Dagegen behaupte ich eine doppelte Alterität digitaler Spiele. Diese Andersheit zielt auf mehr als die offensichtlichen technischen wie ästhetischen Unterschiede zwischen, sagen wir, einem Brettspiel wie MENSCH ÄRGERE DICH NICHT und einem First-Person Shooter wie TITANFALL (2014). Denn dass schon sie den Versuch einer gemeinsamen Definition fragwürdig erscheinen lassen, wäre kaum eine neue Ansicht. Frans Mäyrä spricht z.B. von den »specific forms into which digital games and their playing have evolved during the last decades«21: »As games have moved from streets and living room tables into various computer systems, the associated activity has also altered its character, or, at least, gained different dimensions.«22 Seine Argumentation für die »specificity of digital games« richtet sich dabei insbesondere auf das Moment ihrer Abhängigkeit von audiovisueller Technologie: »The absolute majority of digital games is based on screens of various kinds.«23
Anderen hingegen erscheint eine solche Perspektive eher vordergründigen Ähnlichkeiten verhaftet, da analoge und digitale Inhalte, auch wenn sie auf denselben Monitoren erscheinen, dennoch von gänzlich unterschiedlicher Medialität sind. Dieter Mersch schreibt beispielsweise: »Vorderhand haben wir es zwar scheinbar mit audiovisuellen Phänomenen zu tun, die jedoch von Film oder Video dadurch scharf abzugrenzen sind, dass sie sich von diesen nicht nur technisch und vor allem mathematisch unterscheiden, sondern eigentlich ‚in Allem‹«.24 Merschs »Medientheorie des digitalen Spiels« definiert als deren Spezifität vielmehr ihre Abhängigkeit von der Entscheidungslogik: »Sie determiniert das Fundament der Spiele und stellt den mathematischen Rahmen ihrer Programme«25 – und indiziert damit eine Differenz vor allem zu den älteren audiovisuellen Medien.26
Der Begriff der Alterität aber bezeichnet mehr als beziehungslose, d.h. arbiträre Differenzen, wie peripher oder auch grundsätzlich sie sein mögen. Das lateinische ›alter‹ bezeichnet – etwa in der Wendung Alter Ego oder in Worten wie Alternative und alternierend – ein bestimmtes Anderes: ein Anderes, das in einem besonderen und beschreibbaren Verhältnis zu einem Ersten, also einem bezogenen Anderen steht. Insofern ›alter‹ eine binäre Relation impliziert, konzentrierte sich philosophiegeschichtlich die Auseinandersetzung mit dem Begriff Alterität zum einen auf das Verhältnis des Individuums oder Subjekts zu jeweils einem anderen Individuum oder Subjekt, zum zweiten auf das Verhältnis der Rassen (wesentlich im Kontext des modernen Verhältnisses von Juden und Nicht-Juden sowie des postkolonialen Verhältnisses von Weißen und Nicht-Weißen) und zum dritten auf das Verhältnis der Geschlechter. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts führte so ein wesentlicher Strang des Alteritäts-Denkens von Emmanuel Levinas Überlegungen zur radikalen Alterität des Todes, der immer als das Sterben des Anderen erfahren wird27, zu den Reflexionen seines Freundes Jacques Derrida über Erinnerung und Trauer als Zerstörung der Alterität des Anderen durch dessen Verinnerlichung.28 An sie knüpften Gedankengänge zur postmodernen Verfasstheit der Medien an, insbesondere Jean Baudrillards Befürchtungen, mediale und vor allem vernetzte audiovisuelle Kommunikation – vom Fernsehen bis zum World Wide Web – zerstöre die Erfahrung der Andersheit von Subjekten wie Kulturen.29 Diese Schriften wiederum beeinflussten die moderne Gendertheorie. Judith Butler etwa versteht Alterität als notwendige Bezogenheit auf eine »constitutive outside«30, ein »konstitutives Außen«, an dem sich das jeweilige Innen orientiere und dadurch erst seine eigene Identität gewinne.
Indem ich den Begriff der Alterität übernehme, um die Struktur dessen, was er birgt, für die historische Theorie der Medien fruchtbar zu machen, besagt die erste Hälfte meiner These, dass digitale Spiele weder dasselbe noch etwas ganz anderes seien als analoge Spiele, sondern dass sie deren spezifisches Anderes sind – dass sie sich als Medium also über ihre unabdingbare intermediale Relation zu dem Medium analoger Spiele formen und über diese Erfahrungen von Alterität im Laufe der Jahrzehnte erst zu sich selbst finden. Die zweite Hälfte der These behauptet dann dasselbe Verhältnis – die dichotomische Bezogenheit der Erfahrung von Alterität und Identität – zwischen digitalen Spielen und den linearen Audiovisionen von Bühne, Film und Fernsehen: dass digitale Spiele weder dasselbe noch etwas ganz anderes seien als lineare Audiovisionen, sondern dass sie deren spezifisches Anderes sind.
1 Zitiert nach Salen, Katie/Zimmerman, Eric: The Game Design Reader: A Rules of Play Anthology, Cambridge, Mass.: MIT Press 2006, S. 78.
2 Fullerton, Tracy/Swain, Christopher/Hoffman, Steven/Books24x7 Inc.: Game Design Workshop: Designing, Prototyping and Playtesting Games, San Francisco, Calif.: CMP 2004, S. 46. (In der Rechtschreibung angepasst, da im Original Bullet Points.)
3 McGonigal, Jane: Reality Is Broken: Why Games Make Us Better and How They Can Change the World, New York: Penguin Press (Kindle Edition) 2011, loc. 375-389.
4 Huizinga, Johan: Homo Ludens: Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag 2013 (*1938).
5 Caillois, Roger: Die Spiele und die Menschen: Maske und Rausch, Frankfurt a.M.: Ullstein 1982 (*1958).
6 Avedon, Elliott M./Sutton-Smith, Brian: The Study of Games, New York,: J. Wiley 1971; Sutton-Smith, Brian: The Ambiguity of Play, Cambridge, Mass.: Harvard University Press 1997.
7 Salen, Katie/Zimmerman, Eric: Rules of Play: Game Design Fundamentals, Cambridge, Mass.: MIT Press (Kindle Edition) 2003, loc. 934.
8 Ebd., loc. 1281.
9 Juul: Half-Real, loc. 293.
10 Ebd., loc. 400.
11 Ebd., loc. 293.
12 Ebd., loc. 98.
13 Ebd., loc. 311 sowie loc. 578.
14 Schell: The Art of Game Design, loc. 1149. – Zum wissenschaftlichen Projekt wurden derartige Bemühungen um Synthese im Kontext der so genannten »Game Ontology«. Vgl. Zagal, José P./Bruckman, Amy: »The Game Ontology Project: Supporting Learning While Contributing Authentically to Game Studies«, CLS ‘08 Proceedings of the 8th International Conference for the Learning Sciences 2014, 499-506 http://www.fi.uu.nl/en/icls2008/283/paper283.pdf