Inseln der Macht. Frank Westermann
hatte ich enorme Schwierigkeiten, mich auf die Situation einzustellen. Mit meinen Gedanken war ich immer noch bei Traumschwester.
»Hör zu!« Er kam einen Schritt näher und der vertrauliche Ton gefiel mir noch weniger. »Du solltest besser gleich reden. Wir können verdammt ungemütlich werden. Head Control hat dich identifiziert und damit ist die Maskerade für dich gelaufen.«
»Ich möchte ja gerne was dazu sagen, wenn Sie mir erst mal verraten, wo ich bin«, presste ich hervor.
Jetzt verschlug es ihm die Sprache. Wahrscheinlich dachte er, ich wollte ihn verarschen und es sah aus, als ob er sich im nächsten Moment auf mich stürzen würde, als eine Stimme von hinten in verständlichem Neu-Ing sagte:.
»So kommen wir doch auch nicht weiter, Major.«
Der mit Major angeredete drehte sich wütend um.
»Halten Sie sich daraus, Doktor! Dies ist keiner Ihrer Patienten.«
»In gewissem Sinne doch. Jedenfalls bin ich erst mal für seinen gesundheitlichen Zustand verantwortlich.«
Der Typ, zu dem die Stimme gehörte, ein schmächtiger Schwarzer in grünem Kittel, drängte sich in die Zelle. Wenn das so weiterging, benötigten wir bald einen Konferenzraum.
Der Major brummelte was in der anderen Sprache vor sich hin, befand sich aber offensichtlich auf dem Rückzug.
»Er war immerhin den ganzen Tag bewusstlos«, sagte der Arzt.
So, war ich das? Was für ein Spiel trieb man mit mir?
»Wie fühlen Sie sich?« wandte sich der Arzt an mich.
»Wie ein ausgetrocknetes Handtuch.«
»Das heißt also, Sie haben Hunger und Durst.«
Ich nickte bestätigend. Der Typ war zwar freundlicher, aber ich hielt ihn auf seine Art vielleicht für gefährlicher als die Soldaten.
Der Major brüllte einen Befehl, woraufhin mir einer seiner Wachen etwas Ess- und Trinkbares holte. Das Ganze erinnerte mich an ähnliche Szenen in der Geld-Stadt. Hier hatte offenbar der Arzt die höheren Kompetenzen.
»Wie sind Sie überhaupt in diese üble Gegend geraten?« fragte mich der Arzt.
»Ich habe keine Ahnung, von welcher Gegend Sie sprechen«, antwortete ich wahrheitsgemäß. Allmählich begriff ich, dass die Schwarzen nichts von dem Bergdorf wussten.
»Verkaufen Sie uns nicht für dumm! Oder hat Ihnen die Hitze im Freien so sehr zugesetzt? Ich warne Sie, wir können alles aus Ihnen herauskriegen.«
Jetzt war ich mir sicher. Ich musste mich ganz woanders befinden. In der Umgebung des Dorfes war es zur Zeit schneidend kalt!
»Hören Sie Ich mache Ihnen nichts vor. Ich weiß wirklich nicht, wie ich in diese Gegend komme«, sagte ich verzweifelt.
Der Arzt sah mich eine Weile an.
»An was erinnern Sie sich denn.«
»Na, an meinen Namen zum Beispiel, obwohl die meisten Speedy zu mir sagen«, erwiderte ich vorsichtig. Von dem Dorf wollte ich nicht unbedingt gleich erzählen.
»Und Sie wissen nicht, wo Sie sich befinden.«
Ich schüttelte den Kopf.
»Hören Sie, Doktor«, brabbelte der Major dazwischen - zum Glück auf Neu-Ing.«Ich will Ihnen ja nicht hineinreden, aber er kann mir doch nicht weismachen, dass er es fertigbringt, von Neu-Ing zu fliehen, sich fast ein Jahr verborgen zu halten und Head Control zu entgehen und dann auf einmal sein Gedächtnis verliert.«
Jetzt wurde mir schwindelig, und ich musste mich an der Wand abstützen. Dann setzte ich mich aufs Bett. Wie war das möglich? Ich befand mich wieder in der Ausgangsrealität!
Automatisch griff ich nach dem Napf mit dem undefinierbaren Essensbrei. Ich brauchte unbedingt Ruhe! Zum Glück hörte die Fragerei erst mal auf. Der Arzt hatte wohl meinen Schwächeanfall erkannt.
Es war alles vorbei! Das Dorf, Traumschwester, die Anarcho-Stadt, die ganze Stammeswelt! Dabei hatte es gerade erst angefangen. Ich war gerade dabei gewesen mich zurechtzufinden. Und wo war ich hier gelandet? Jedenfalls nicht in Neu-Ing.
Sie hielten mich für einen Flüchtling. Wahrscheinlich befand ich mich irgendwo auf den Südlichen Inseln. Dazu passten auch die Hautfarbe der Leute und das Klima. Aber was hatte das alles zu bedeuten? Oder hielt ich mich vielleicht sogar in einer dritten Realität auf, machte plötzlich Realitätswechsel wie Lucky? Oder war ich total durchgedreht?
Ich musste versuchen, es zu akzeptieren. So schwer es mir fiel. Sonst würde ich wirklich verrückt werden. Ich musste mir immer wieder sagen: ich bin auf den Südlichen Inseln!
Ich unterbrach mein Essen einen Augenblick.
»Entschuldigen Sie, aber wer hat den Krieg gewonnen, Neu-Ing oder die Inseln, oder ist er noch im Gange?« beschloss ich Näheres rauszufinden.
»Was soll das?« brüllte der Major sofort.«Jedes Kind weiß, dass wir den Krieg gewonnen haben. Neu-Ing ist eine heruntergekommene Kolonie. Hätten wir es nicht besetzt, wäre es von selbst in Trümmer gefallen.«
Also, die alte Realität oder zumindest eine sehr ähnliche.
»Sie erinnern sich also an den Krieg?« hakte der Arzt ein.
»Nur dass er kurz bevorstand.«
Der Schmächtige runzelte die Stirn.
»Lassen wir's erst mal dabei.«
Das sollte wohl eine Art Verabschiedung sein. Jedenfalls machten die Vier Anstalten, die Zelle zu verlassen.
»He!« rief ich kraftlos hinterher. »Warum bin ich überhaupt hier.«
Einer der Wächter brach in Lachen aus und der Major fuhr mich an: »Selbstverständlich bist du Kriegsgefangener. Wir haben deine gesamte Akte vom Cop-Center aus Neu-Ing übernommen. Das reicht wohl.«
Die Tür krachte ins Schloss. Es reichte wirklich. Ich brach auf dem Bett zusammen und heulte alles aus mir raus. Ich musste stundenlang so gelegen haben, ohne mich rühren zu können. Zum Schluss ging mir nur noch Traumschwester durch den Kopf, dann gar nichts mehr. Irgendwann kriegte ich plötzlich Angst, dass ich einfach so sterben könnte, und ich setzte mich mühsam auf, strich mir die Haare aus dem verheulten Gesicht und begann den Rest Brei runterzuwürgen und das Wasser zu trinken.
Ich versuchte mich umzustellen, die Stammeswelt als Vergangenheit zu betrachten. Ich musste mich dazu zwingen, mir das ins Gedächtnis zurückzurufen, was ich über die Südlichen Inseln wusste. Viel war es nicht: tropisches Klima, wenig industrialisiert und als Regierungsform eine Diktatur.
Dann verbrachte ich wieder eine Zeit zwischen Alpträumen und Halbschlaf, bis ich irgendwann auf den Gedanken kam, dass ich mich entscheiden musste: entweder ich gab auf und gab mich meiner Hoffnungslosigkeit hin oder ich versuchte zu überleben, mit der Situation fertig zu werden und auf eine Chance zu warten, wenn ich mir selbst keine schaffen konnte.
Da mir das Sterben nicht so behagte, entschied ich mich fürs Zweite. Dabei war mir klar, dass ich die Entscheidung vielleicht rückgängig machen würde, wenn ich keinen Ausweg sah. Aber bis ich nicht wusste, wie meine Chancen standen, konnte ich bestimmt durchhalten.
Was mich am meisten verwirrte, war dieses Durcheinander mit den Realitäten. Kaum dachte ich, etwas Durchblick zu haben, da verflüchtigte sich wieder alles. Ich hatte langsam den Eindruck, als Spielfigur hin-und hergeschoben zu werden. Waren nun meine Erlebnisse in der Stammeswelt nur Illusion gewesen? War ich in Wirklichkeit irgendwann geistig weggetreten und aus irgendeinem Grund zu den Inseln verschleppt worden? Was war dann aus den anderen geworden, aus Winnie, Lucky, Flie, Yuka und Vic? Oder aus den »Traumgestalten« Adlerauge, Cuper, Willoc und Traumschwester? Waren sie weniger wirklich? Oder gab es für jeden eine eigene Realität und die Realitätsebenen hielten verschiedene Eigenrealitäten in einem Zusammenhang? Dann