Inseln der Macht. Frank Westermann
so viel Theorie, und ich musste mich wieder hinlegen. Vielleicht konnte ich erst wieder etwas Ordnung da reinbringen, wenn ich mehr Informationen und einen klareren Kopf besaß. Falls sie mich nicht vorher umbrachten. Schließlich wollten sie was von mir, und ich wusste es nicht. Ich konnte ja nichts von einem Traum erzählen.
Zwei Sachen waren für mich erst mal wichtig: ich musste mich mit den Gegebenheiten hier vertraut machen und die fremde Sprache lernen, wenn ich überhaupt die Chance auf eine Flucht haben sollte. Denn selbst wenn ich hier einfach rausspazieren könnte, hätte ich nicht gewusst, wohin ich mich wenden sollte. Je länger ich darüber nachdachte, desto entmutigender wurde es, darum hörte ich auf damit. Ich schlug die dünne Decke über mich, weil mich trotz der Hitze plötzlich fror.
Da berührten meine Finger ein Stück Papier.
Ich holte es hervor und faltete es auseinander. Trotz des schwachen Zellenlichts erkannte ich es sofort. Das war der Zettel, den Traumschwester mir zugesteckt hatte!
MACHT DIE MACHT MACHTLOS
DIE SICHERHEIT LIEGT IN DER UNSICHERHEIT
FRAGEN SIND BESSER ALS NICHT EXISTIERENDE ANTWORTEN
Und das war bestimmt kein Traum! Das war Traumschwesters Schrift! Da war ich mir ganz sicher und mein Selbstbewusstsein kehrte andeutungsweise zurück. Und helfen konnte mir der Zettel auch gleich. Vielleicht sollte ich nicht so sehr nach Antworten auf meine Fragen, wie und warum ich hierhergekommen war, suchen.
Ich zerriss ihn in kleine Schnipsel und spülte sie mit dem letzten Wasser hinunter. Damit verschwand auch der letzte Beweis für eine andere Realität. Es hätte sicher Unannehmlichkeiten gegeben, wäre er bei einer Durchsuchung gefunden worden. Ich würde wohl nie rauskriegen, wie er hierher gelangt war. Vielleicht hatte ich ihn während meines unbewussten Realitätswechsels in der Hand gehalten. Damit gab ich mich zufrieden.
Danach schlief ich komischerweise relativ ruhig und lange und wurde durch das Essenfassen geweckt. Dabei lernte ich wieder einen neuen Wärter kennen. Wohl mit Absicht, denn dieser sprach kein Neu-Ing oder wollte es nicht. Mittags erhielt ich sowas wie Hofgang und bekam dadurch Gelegenheit, mir den Knast aus anderer Perspektive anzusehen. Er wirkte dadurch nicht schöner. Er bestand aus einem einzigen, annähernd hufeisenförmigen Gebäude, das aber anscheinend in zwei Bereiche aufgeteilt war. Ein Teil wirkte nämlich eher wie eine Krankenstation und es gab dort auch keine vergitterten Fenster.
Der Hof war allerdings ziemlich großzügig angelegt und irgendwie verstärkte das meine Vermutung, dass es sich nicht nur um ein Gefängnis handelte. Dazu kamen die relativ »humane« Zelle, die Spitzenposition des schmächtigen Arztes.
Ein paar andere Gefangene marschierten mit mir, alles Männer. Und fast alles Schwarze. Wir trugen jetzt alle graue, verwaschene Hemden und Hosen. Ich versuchte, mich mit ihnen zu verständigen, aber selbst die Weißen verstanden mich nicht. Einigen schien die Gesellschaft von Weißen sogar unangenehm zu sein, und einer spuckte vor mir aus.
Nach dem Rundgang wurde ich wieder in die Zelle gebracht. Es wurde mir sofort klar, dass sie durchsucht worden war. Nun, ich hatte nichts mehr zu verbergen. Der Gang durch den Knast hatte mir gezeigt, dass eine Flucht äußerst schwierig war. Überall, vor und hinter einem, wurden Gitter runtergelassen, und an jeder Ecke standen die Rotuniformierten mit MPs. Mein einziger Weg schien über den Arzt zu führen. Vielleicht konnte ich eine Zeit auf sein Spiel eingehen, ohne dass er merkte, dass ich nichts zu bieten hatte. Wenn er das rauskriegte, würde er mich ohne Zweifel den harten Methoden des Majors überlassen.
Etwa zwei Stunden später wurde ich wieder abgeholt. Diesmal von zwei Typen in Grün. Also wollte mich wohl der Arzt sehen. Sein Bereich lag in der anderen Abteilung, denn die beiden führten mich über eine Art Brücke, die sich über die Einfahrt des »Hufeisens« schwang. Dort begann dann der medizinische Teil. Die Absicherungen waren zwar gleich, aber die Gänge waren weiß gestrichen, schwarzhäutige Grünkittel und Krankenschwestern liefen überall herum und es stank penetrant nach Krankenhaus. Auch hier hielten Soldaten in Rot Wache. Ab und zu lief uns ein »Patient« über den Weg mit stumpfen Augen, die Reichweite meiner Führer meidend. Allmählich begann ich zu begreifen, um was es sich bei dieser Abteilung handelte! Wer weiß, was für Experimente hier an den Menschen unternommen wurden....
Schließlich betraten wir ein geräumiges Büro. Auf dem Schild an der Tür stand: Dr. Jorantes, Direktor. Knapp und deutlich. Dr. Jorantes war wie vermutet der Typ, der mich vorerst vor den Klauen des Majors bewahrt hatte, natürlich nur, weil er glaubte, mit seiner Methode besser ans Ziel zu kommen.
»Ah, Mr. Wallen, setzen Sie sich doch.«
Er zeigte zuvorkommend auf einen Stuhl vor seinem Schreibtisch und winkte die Wachen hinaus. Nach einer Weile sah er von seinen Papieren auf.
»Nun, es wird Zeit, dass wir uns mit Ihnen beschäftigen. Sicher liegt es auch in Ihrem Interesse, wenn sich dieser Gedächtnisschwund aufklärt.«
»Natürlich«, bestätigte ich vorsichtig.
»Was wir über Sie wissen, stammt aus den Aufzeichnungen vom Cop Center, das inzwischen Head Control, dem Zentralcomputer, unterstellt wurde. Die letzten Informationen besagen, dass Sie sich einer Gruppe angeschlossen hatten, die in einem sogenannten Camp außerhalb der Großstadt von Neu-Ing lebte. Diese Leute wurden von Ihrer damaligen Regierung als Verbrecher eingestuft. Daher Ihr vorläufiger Status als Kriegsgefangener, bis wir das geklärt haben. Man kann auch nicht behaupten, dass Sie ansonsten ein geregeltes Leben geführt haben. Sie lebten von der Hand in den Mund, ohne Ausbildung, immer bestrebt, sich von der Gesellschaft zu isolieren. Gut, ob wir Sie wegen Zugehörigkeit zu einer subversiven Gruppe anklagen, steht noch aus. Uns interessiert auch in erster Linie Ihr Auftauchen hier. Sie wurden praktisch in Unterzeug aufgelesen, das aus einem Material besteht, das uns hier zumindest unbekannt ist. Und weiterhin wollen wir wissen, wie Sie es geschafft haben, von Neu-Ing hierher zu gelangen, ohne in einer Kontrolle steckenzubleiben.«
»Aber das ist mir ja selbst auch ein Rätsel«, beklagte ich mich heuchlerisch. Denn jetzt war mir völlig klar geworden, dass ich, nach der Beschreibung, die der Arzt von mir gab, von meiner letzten Erinnerung an die Stammes-Realität sofort auf die Südlichen Inseln meiner Ursprungsrealität versetzt worden war. Bloß wie?
»Wir werden Sie untersuchen und dann entscheiden, ob Sie hierher zu den Geisteskranken oder zu den politischen Gefangenen gehören.«
»Und wonach richtet sich Ihre Entscheidung, wenn Sie feststellen, dass meine Angaben der Wahrheit entsprechen.«
»Sehen Sie«, der Arzt breitete seine Arme aus, »die Übergänge sind immer fließend. In gewissem Sinne sind die politischen Gefangenen ja auch geisteskrank. Denn ist es nicht krankhaft, dauernd sinnlos gegen eine vernünftige Gesellschaftsordnung anzurennen und nicht dabei zu helfen, sie vielleicht noch vernünftiger zu gestalten? Und umgekehrt sind die psychiatrischen Fälle in dem Sinn politisch, da der Ursprung ihrer Krankheit ein mehr oder minder bewusstes Auflehnen gegen die Gesellschaftsordnung ist - allerdings hier durch irgendeinen Defekt bewirkt.«
Bei so viel Verdrehungen, Unwahrheiten und Zynismus blieb mir glatt der Mund offen stehen. Wie der wohl den Unterschied zwischen »politischen« und »sozialen« Gefangenen definierte? Wahrscheinlich richtete sich das letztendlich nach ihrer Gefährlichkeit für den Staat. So viel hatte ich jedenfalls verstanden: die Entscheidungen richteten sich hier allein nach Kriterien der Nützlichkeit für Dr. Jorantes.
Damit war ich dann auch vorerst entlassen.
Die nächsten Tage verliefen in ähnlichem Rhythmus. Es gelang mir nicht, auch nur den geringsten Kontakt zu meinen Mitgefangenen zu kriegen. Ihre Sprache blieb mir verschlossen und meine Mutlosigkeit nahm zu. Ich blieb weiterhin in Einzelhaft und das einzige, was ich erfuhr, war der Name dieser Anstalt: Bergotos. Die Untersuchungen zogen sich tagelang hin, teilweise waren sie schmerzhaft, aber von Folter konnte bisher keine Rede sein. Noch nicht. Nach einer Woche verkündete mir Dr. Jorantes, dass ich an partieller Amnesie litt. Ich übersetzte das mit teilweisem Gedächtnisverlust. Man würde mich einige Tage mit starken Medikamenten behandeln, die in so einem Fall zuverlässig helfen sollten. Man ließ offen, was geschehen würde,