Die schweren Jahre ab dreiunddreißig. Wiglaf Droste

Die schweren Jahre ab dreiunddreißig - Wiglaf Droste


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des Demokratischen Selbstmitleids. Ihr Abgesandter André Brie, eine Art Jesus Christus mit offenem Hemdkragen, wurde nicht müde, die ungerechte Behandlung seiner Partei durch die Konkurrenz und durch die Medien zu bejammern. Was hatte er denn gedacht? Nein, wer ans Grundgesetz glaubt wie an Bibel, Weihnachtsmann und Klapperstorch, der kriegt, was er dafür verdient: einen kräftigen Tritt und höhnisches Gelächter. Denn es gibt, zumal ästhetisch, etwas Schrecklicheres als die Henker, und das sind die Märtyrer.

      Rechtschaffen müde und schläfrig gelabert lag ich vor dem Fernsehkasten, da weckte mich noch einmal ein schönes Wort: Den Parteien mangele es an Bindungsfähigkeit, hieß es gleich mehrfach; eine kleine Gesundbeterei dafür, dass gerade noch gut jeder Zweite es für sinnvoll oder notwendig hält, sich an die Urne zu schleppen. Etwa die Hälfte der Insassen des Landes verzichtet auf die Wahl der Qual; Politik kostet sie ein müdes Arschrunzeln. Angesichts dieser Politikverdrossenheit, so lehrte mich das TV-Gerät, müsse die Politik wieder attraktiver werden. Genau: In der Sänfte will ich ins Wahllokal getragen werden, von den Kandidaten persönlich natürlich, die ich dabei nach Gutdünken herumkommandieren und beschimpfen darf! Jugendliche Erstwähler werden per Skateboard in die Wahlkabinen verbracht, für Feministinnen gibt es Urnen nur für Frauen, und alle Wählerinnen und Wähler erhalten herrliche Geschenke: Dampfbügeleisen, Werkzeugkasten, ein Pfund Butter, die Teilnahme an einer Verkaufsveranstaltung in den Hinterzimmern der Wahllokale ist möglich. Große Tombola!

      Weit entfernt rauschen die Lotterieergebnisse an mir vorbei. Ich liege in einer schattigen Ecke meiner Wohnung und warte, dass der Sommer vergeht – damit ich endlich wieder meinen Übergangsmantel tragen kann.

      1993

       Der Letzte macht die Lichterkette aus

       Abschließende Einlassung zu einer lästigen Angelegenheit

       »Oh wie trügerisch sind Menschenherzen: Ist kein Verstand da, nehmen sie Kerzen.«

       Kurt Ossietzky 1932

      »WAHR IST«, SCHREIBT GIOVANNI DI LORENZO im Spiegel vom 8.2.1993, »dass die Lichterkette gerade Ausländern und Juden, nicht nur in unserer Initiative, wieder Mut gemacht hat, in Deutschland zu leben.« Abgesehen mal von der Frage, ob den zitierten »Ausländern und Juden« damit ein besonders kluger Dienst erwiesen wurde, ist der Satz pure Selbstgefälligkeit – di Lorenzo gehört schließlich zu den Leuten, die die Lichterkette von München ausgeheckt haben. (Und demnächst rezensiert im selben Blatt André Heller sein jüngstes Bühnengehampel – wäre doch auch schön.)

      Aber nicht nur Jungschmock und Talkshowschöngeist di Lorenzo erhielt Gelegenheit, sich selbst öffentlich Spitzennoten für gutes Betragen auszustellen. Im Neuen Deutschland vom 30.l.1993 pries der Berliner Kabarettist Martin Buchholz die von ihm u.ä. Kunstgewerblern (Volker Ludwig, Reinhard Mey usw.) angezettelte sog. »Lichterspur« auf Seite Eins an. Buchholz, dessen kopfmäßige Beschaffenheit schon aus dem Titel seines jüngsten Programms – »Dumpfland Dumpfland (...) Ein viel zu aktuelles Pro- und Antigramm« – gut ersichtlich ist, rhabarberte von »Erhellung der germanischen Hirnfinsternis« und stilisierte seine weizsäckerkompatible Moral- statt-Verstand-Veranstaltung zum verschärften »Protest«. Und warum auch nicht? In Zeiten, wo alles mit allem verquarkt wird und die Insgesamtidiotie des Daseins in bislang so noch nicht gekanntem Ausmaße vor sich hinbrummt, da kann ein Kabarettist, ein Mitglied jener Berufsgruppe, die für ein Gutteil der öffentlich abgesonderten Flachpfeiferei und desgleichen für Gesinnungsabgreifertum, semi-humanoides Fortschritts- und Menschheitsgedussel u.ä. Pein und Qual und Ohrenzwang verantwortlich ist, nicht zurückstehen. Und hätte man es ausschließlich mit Figuren wie di Lorenzo, Buchholz, Weizsäcker und den ihnen assoziierten Starksängern W. Niedecken, M. Müller-Westernhagen, P. Maffay usw. sowie noch den Unterschriftgebern bei PR-Aktionen à la »Ich bin ein Ausländer« bzw. etwas später »Mein Freund ist Ausländer« – wie nun bitte? – zu schaffen, mit jener halbseidenen Mischpoke also, die die sog. »Prominenz« und die sog. »politische Klasse« stellt, man könnte achselzuckend seiner Wege gehen und die Bagage ihrem onanistischen Unfug überlassen.

      Kann man natürlich auch so. Für alle aber, die außer ihren Ohren und Augen noch weitere gute Gründe brauchen, um dem aus Friedenscamp und Mahnwache zwingend hervorgegangenen Tugut-Aktionismus von Lichterkette, -spur und -meer fernzubleiben, hier eine kleine Liste möglicher Einwände (ohne Anspruch auf Vollständigkeit): Schuhverkäufer (Schuhtick), Herrenausstatter (de Kalb), Werbehengste (Schirner), Buchhändler usw. schalten seit Monaten anstelle ihrer üblichen Geschäftsanzeigen vage, wachsweiche Appelle gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit; die Botschaft der Gesinnungsimpressarios lautet: Hey Leute – kauft beim guten Deutschen!

      Wer in Deutschland aus dem einzigen Grund, kein Deutscher zu sein, totgeschlagen, verbrannt o.ä. ums Leben gebracht, also das Opfer eines Mordes wird, gilt den hiesigen Landsleuten nicht in erster Linie als solches; nicht von Mord – der entsprechend zu ahnden wäre – ist die Rede, sondern von einem Anschlag auf das deutsche Volk und sein Image im Ausland. Soviel Kaltschnäuzigkeit muss man erstmal besitzen. Der Zweck der Lichterketten ist eben nicht ein antirassistischer, sondern ein rein kosmetischer: Die Politur des Deutschland-Bildes fürs Ausland.

      Auch kritische Patrioten sind in erster Linie Patrioten. Die Lichterkette gibt auch jenen, die das Grüßen mit erhobener Rechter abstößt, Gelegenheit zum Anschluss ans bzw. Einstieg ins Vaterland; man ist dagegen gewesen und hat doch mitgemacht, man trat auf der Stelle und lief doch mit: In den 70ern hätte man so etwas »die Dialektik des kritischen Opportunismus unter besonderer Berücksichtigung der lange schmerzhaft unterdrückten Vaterländerei« genannt. Oder jedenfalls doch so ähnlich.

      Es ist – politisch, ästhetisch (und von mir aus: moralisch) – nun einmal nicht ganz wurscht, mit wem man in einer Reihe steht. Bei einer Lichterkette z.B. mit den bereits o.g. Sängern Niedecken, Westernhagen, Lindenberg, Maffay, die für eine Anzeige des Bundesinnenministeriums mit der Parole Helfen statt Hauen zur Verfügung standen, mithin also die für das den Namen nicht mehr verdienende Asylrecht Verantwortlichen stützten, kritisch natürlich; z.B. mit Edzard Reuter u.a. exponierten Vertretern der deutschen Industrie, die in großen Anzeigen die Logik des Konzentrationslagers als Humanismus verhökern: Ausländer, die gute Arbeit geleistet haben oder leisten, dürfen bleiben, evtl. sogar am Leben; z.B. mit Karl Moik, dem Fleischsack vom Musikantenstadel, der demnächst Asylantenstadel heißen könnte, mit Verlosung eines abschiebesicheren Zellenplatzes und dem neuen Hit der Wildecker Herzbuben: »Kerzilein, oh oh oh Kerzilein, du darfst nicht traurig sein, es war doch nur der Wein, ich schlug ein paar Schädel ein ...«; auch Moik plädiert ja via TV-Spot für »friedliches Nebeneinander« o.ä. nichtssagenden, nichts verhindernden Krempel. Insgesamt wird der Lichterkettengänger feststellen, dass er Teil einer gigantischen Volksbewegung, -gemeinschaft und -genossenschaft ist, die angeblich ausschließlich höchst integre Ziele verfolgt; seltsam ist nur, dass die Zahl der Übergriffe auf Ausländer trotz aller gutvölkischen Mobilmachung nicht sinkt.

      Das Wort vom »hässlichen Deutschen« kann man bitte streichen. Die Avon-Beraterin richtet gegen Nazis nichts aus. Der Wunsch, sich als »anderer, besserer, anständiger Deutscher« zu präsentieren, ist nicht nur Ausdruck des – s.o. – kritischen Patriotismus, sondern in seiner Selbstbezogenheit, in seiner prahlerischen Sensibilität allein für sich selbst extrem widerwärtig; am liebsten ließen sich die guten Deutschen am offenen Grab von Angehörigen Ermordeter die Absolution erteilen: Nein, du bist nicht schuld, du bist gut usw.

      Auch das Zentralorgan der flotten Faschisten, die Junge Freiheit, singt in seiner Ausgabe vom Februar 1993 ein Loblied auf die Lichterkette. In Magdeburg fand am 16.1.1993 ein illuminierter Aufmarsch statt – am 48. Jahrestag des »Terrorangriffs anglo-amerikanischer Luftstreitkräfte«. 50.000 Friedensfreunde wollten sicherstellen, »nie wieder« vom Faschismus befreit werden zu müssen. So leicht kann das gehen bei einer derart rund umkompatiblen, beliebig für jedes Ziel verwendund verwertbaren Form wie der Lichterkette.

      Reichlich wird gewütet gegen den staatlich sanktionierten Antifaschismus


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