Die schweren Jahre ab dreiunddreißig. Wiglaf Droste
ungezielt verblüffte Passanten anblökend, eine Gebetsmühle auf Beinen ohne hinreichendes Überdrussrepertoire.
Woher soll es auch kommen? Die Hohe Kunst der tödlichen Beleidigung wird nicht gelehrt, und die Angebervokabel Streitkultur meint bloß das wohlfeile Kaffeekränzchengeschwätz des medialen Gewurschtels. Man trägt wieder Gürtellinie, am liebsten als Halskrause, ist von jeder Bagatelle erschüttert, findet jedwede Lebensäußerung unerträglich oder besser noch zynisch und men
Und zwar sturz. In Trauerarbeitslagern treffen sich neue Weinerlich- und alte Mitscherlichkeit zum Händeschütteln mit Kanzler und Krawczykeria, geeint im Von-allem-und-jedem-Beleidigtsein steht man am Tränenbottich.
Wohlig erschauernd dagegen liest man im jeweiligen Gürtellinienblatt, was einen schon zu Lebzeiten in die Klassizität überführt. Die eigene popelige Existenz muss zur Jahrhundertchance gebläht werden, eine Nummer kleiner besteht permanenter Handlungsbedarf. Mit Imponier- und Spreizwörtern von Essential bis Profil werden Bedeutung, Größe und Würde herbeigelabert, und bei Zwischenrufen wird Totensonntag angeordnet.
Die Endlösung der Dudenfrage schreitet hurtig voran; bis es aber soweit ist, wird noch kräftig Öl auf die Mühlen gegossen, und Wasser ins Feuer.
1989
Hoch die Mauer!
13.8.89: Berlins nützlichstes Bauwerk wird 28 Eine notwendige Gratulation
DIE ÄUSSEREN VORGÄNGE SIND BEKANNT. Alljährlich am 13. August, eingeladen und herbeigekarrt von der Gerhard Löwenthal-Gesellschaft für Menschenrechte, versammeln sich rechte Menschen am Checkpoint Charlie, klettern auf einen Aussichtsturm, zeigen mit dem Finger nach Osten und weinen sich die bzw. den weißen Westen nass. Auch am 13. August 1989, als die Sonntagsreden passenderweise an einem Sonntag gehalten wurden, kulminierte das turnusmäßig abgesonderte Gezeter von Berufsvertriebenen, dissidierten Dichtern, Jungunionisten aller Parteien, Ostfront- und Jubelberlinern, von Alt- und Neo-Nationalisten in diesem Wutgeheule:
»Hier schießen Deutsche auf Deutsche!«
Die ostentative Empörung dieses Satzes richtet sich dabei keineswegs gegen das »Schießen« als solches, sondern allein gegen die ethnische Verwandtschaft von Subjekt und Objekt: »Deutsche auf Deutsche!« und meint: anstatt gemeinsam, wie oft und gründlich eingeübt, mit (wieder)vereinten Kräften auf den schäbigen Rest der Welt, auf Russen, Polen, Tschechen, Briten, Franzosen, Türken und und und.
Nein, wenn überhaupt geschossen werden muss, dann auf Deutsche, bzw. wenn von einem Deutschen noch jemals geschossen werden darf, dann nur auf seinesgleichen. In der Nationalen Frage, diesem Kalten-Krieger-Kaffee, der immer wieder und derzeit wieder einmal verstärkt aufgeheizt wird, in der Deutschen Frage gibt es zum umgekehrten Rassismus keine Alternative: Lieber möge sich »das deutsche Volk« in seiner Gesamtheit von dieser Erde herunterbefördern, als dass auch nur noch ein Angehöriger einer anderen Nation von einem Deutschen um sein Leben gebracht wird; lieber jeden Tag Schüsse an der deutsch-deutschen Grenze als noch ein wg. Ladendiebstahls erwürgter Asylbewerber in Schwaben oder noch ein einfach so erstochener Türke in Westberlin.
Die Deutschen, also die, die sich sog. Stolz einbilden, Deutsche zu sein, gehören in Schach gehalten, notfalls mit Mauer und Stacheldraht. Lässt man sie von der Leine, tritt immer wieder dasselbe zutage: der Restverstand in den Grenzen von 1937. Der von Weizsäcker salonfähig gemachte Nationalismus wird dankbar aufgenommen auch von sich links empfindenden Menschen, die mal verklausuliert, mal offen nationale Selbstbestimmung fordern, von einem Paneuropäismus unter deutscher Führung träumen und ihre Expansionsgelüste bis zur letzten Ural-Tankstelle auf der Reichsautobahn schweifen lassen. Es gibt wenig Abstoßenderes als die Vorstellung einer Wiedervereinigung: noch mehr Deutsche, und alle auf einem Haufen. »Am Chauvinismus ist nicht so sehr die Abneigung gegen die fremden Nationen als die Liebe zur eigenen unsympathisch«, schreibt Karl Kraus; man kann Franzosen, Italiener, Briten, ja sogar Deutsche schätzen (ich habe nichts gegen Deutsche – einige meiner besten Freunde sind Deutsche), aber ein »Volk«, ein »Volksganzes«, einen »Volkskörper« niemals. Die Vierteilung Deutschlands 1945 war ein Schritt in die richtige Richtung; er hätte konsequent fortgeführt werden sollen statt schrittweise zurückgenommen.
Die Mauer behütet nicht nur die Welt davor, an einem ungebremsten deutschen Wesen zu verwesen, sie schützt auch Honeckers Cordhütchen-Sozialismus vor dem Kneifzangengriff des Kapitals, und umgekehrt bewahrt sie die BRD und Westberlin vor Horden naturtrüber, säuerlich sächselnder DDRler mit Hang zu Billig-Antikommunismus und REP-Wählen – dergleichen gibt es hier schon im Übermaß. Mögen andere Nationen um nichts besser sein – diese ist die unsere; es gilt, zuallererst die eigene Vaterländerei zu hassen und zu verachten. Hierbei ist die Mauer wenn nicht edel, so doch hilfreich und gut.
47 Tage vor ihrem Bau bin ich geboren, und gerne möchte ich mit ihr alt werden. Halten wir die Mauer hoch
– sie kann gar nicht hoch genug sein.
1989
Wichtigmann Weihbreyschan
Wie ich einmal Diedrich Diederichsen war
ES WAR AN DIESEM ABEND IN BIELEFELD Mitte November, ich hing bei Kornfeld rum, dem Hardcore-Gitarristen, der sich als Hilfslehrer für Mathe verdingt und als Taxefahrer, um sein Trio zu machen, Mania Steifen, mit Hammel dem Stenz und Schlippi, der singt, als hätte er einen PR-Vertrag für Pfanni-Knödel unterschrieben, so, als hätte er unentwegt etwas Weiches, Zerdrücktes und Nachgiebiges auf den Stimmbändern, zwischen Zunge und Gaumen und im Rachenraum; tropfnass waren wir durch die Gegend gelaufen, hatten im Mint, einem Treff der lokalen anpassungswilligen Oberschülerschaft, Pool gespielt, ich war Paul Newman gewesen in The Hustler, Haie der Großstadt auf ostwestfälisch, wie mit der Pocket-Kamera fotografiert, aber egal, die Kugeln liefen und nichts konnte mich aufhalten, nicht der weinerlich aus den Lautsprechern quäkende Morrissey und nicht die Sticheleien von Müller und Steini, die rauchend herumstanden und bedächtig am Malzwhisky zippten und die jetzt, nach einem kurzen Abstecher zu Müller, der noch eine Flasche spanischen Brandy in die kommenden Stunden zu investieren sich bereitgefunden hatte, bei Kornfeld einliefen, um den Abend angemessen zu komplettieren, abzurunden, ihm gleichsam Würze, ja eine Geschichte einzuhauchen; gemeinsam berauschte man sich noch einmal am Erlebten, an Kieseritzkys Lesung aus dem Buch der Desaster am Nachmittag in der Alten Spinnerei im Rahmen einer Bielefelder Literaturoffensive – in Berlin sagt man Irrenoffensive – sich nennenden Kulturveranstaltung mit Kleinkindern, schlechter Musik und Hausmeister, mehr noch aber am anschließenden Essen im Syrtaki, einem Fressgriechen in der Bleichstraße, wo Kieseritzky Wachtel, eine einzelne Wachtel orderte und sie auf eine Weise verspeiste, die stark an seinen just noch vorgelesenen Satz »Cunnilingus ist wie Schafehüten: dunkle, einsame Arbeit« erinnerte; »Aaah, mein kleines Wachtelmädchen«, lächelte ächzend der zartgliedrige Mann, packte den gebratenen Hühnervogel bei den Beinstümpfchen und schlug das Gebiss mittlings, im Schritt quasi, hinein, doch Dichter sind so, sonderlich, etwas abseitig, aber im Grunde nett, man liest und hört das ja immer wieder und so eben auch hier; zum Wiedereintauchen ins Gewöhnliche folgte das schon erwähnte Billard, das Schwenken der Queues, das Herausfummeln von Fluppen aus zerknautschten Packungen, Anlecken und In-die-Mundwinkel-wandern-Lassen, das Zusammenkneifen der Lider, die kurze Konzentration vor dem Stoß, das sachte Klack-Klack der Kugeln, Rituale des Boden-unter-die-Füße-Kriegens allesamt, und jetzt, Bielefeld lag schon und pennte maßvoll-zufrieden, kam das Absacken, das Nachschmecken, das Interpretieren, die Analysis in Kornfelds Hütte, wo es endlich Musik gab, die diese Bezeichnung verdiente, Jello Biafra musste ran, Lard, »Hör dir das