Die schweren Jahre ab dreiunddreißig. Wiglaf Droste
In der Nachbarschaft
VORMITTAGS GEGEN ELF BETRITT MAN das Postamt in der Skalitzer Straße. Im Eingang kauert wie an jedem Vormittag ein junger Mann von vielleicht 25 Jahren. »Kleingeld?« ächzt er; sein Gesicht ist voll pfennigstückgroßer, offener, nässender Wunden. Zwei große Hunde liegen bei ihm, und so muss der junge Mann den Lebensunterhalt für drei zusammenbetteln. Ist das klug von ihm? Oder folgt er nur dem Gesetz, das besagt: Je größer das persönliche Elend, desto höher die Anzahl der Haustiere, die man daran zu beteiligen hat?
Zum Köter jedenfalls hat der Kreuzberger Lumpenproletarier dasselbe schmierig-sentimentale Verhältnis wie der Normalspießer, der seinen fetten Dackel, Wanst übern Trottoir, hinter sich herschleift: tierlieb wie einst der Führer sind sie beide.
Über viele Zerstörte steigt man hinweg beim Rundgang durch die Nachbarschaft, und wenn auch klipp und klar ist, dass man auf der Seite der Marginalisierten steht und, auch wenn sie nerven, nicht gegen, sondern für sie Partei ergreift, so wäre es doch manchmal hilfreich, wenn man sie dabei nicht hören, sehen und riechen müsste. Patrick Süskind und Christian Dior jedenfalls könnten aus dem Bezirk Kreuzberg zwei Spitzenparfums destillieren: Iltîs und Alcôl.
Die Nachbarschaft ist aufgegebenes Gebiet mit aufgegebenen Menschen darin. Kiez haben vor »Erfahrungshunger« (Salman Rutschky) strotzende, sich selbst für links, fortschrittlich, alternativ und gut drauf sowieso haltende Leute solche Quartiere immer wieder genannt, Kiez, das klingt nach dem ganz echten wahren Leben, das ist Zille oder eben auch bloß Zwille sein Milljöh, hier kann man vergessen, dass man aus Schwäbisch Hall stammt, und sog. Lebensgefühl, gern auch Authentizität genannt, abgreifen von Leuten, die das selbst nie so nennen würden, und wenn man den kleinen Erfahrungshunger zwischendurch gestillt hat, kann man weiterziehen und in anderen Stadtteilen den ganz und gar unurbanen Ringelkiez mit Anfassen spielen.
Die Dagebliebenen strunkeln fatalistisch weiter, Bierbüchse in der Hand, autistisch von der Straßenecke aus die Welt kommentierend. Gern liegt Erbrochenes herum in der Nachbarschaft, Einwegspritzen sowieso. Und doch gibt es Tünsel, die raunen inmitten von Junkies und Leuten, die auf offener Straße einen ganzen Pansen an ihre drei stinkenden Riesentölen verfüttern, noch immer mythisch-mystisch von Kreuzberg!, verkleiden sich stundenlang und aufwendig vorm Spiegel als autonom, was ja eigentlich ein schönes Wort ist: unabhängig; geradezu zwanghaft wird der Kopf umfunktioniert zum Ständer für eine Demm dirty Fatlocks, ah!-Frisur, ein paar dekorative Risse in Hose und Jacke, einen Lappen um den Schädel gewickelt, und fertig ist der »Mensch in der Revolte« (Camus). In kleinen Schrebergärten kann man dann simulieren, was zu sein man sich woanders nicht traut, kann per Dekret eine Fläche von z.B. 40 Quadratmetern zur patriarchatsfreien Zone o.ä. erklären und diese frisch erklommene erschwindelte Höhe dann bis aufs Blut verteidigen. Mit Ku-Klux-Clean-Gesinnung kann man verfügen, dass die Gesetze der Welt auf meine persönliche Straße keinerlei Anwendung finden, und am Halleschen Tor endet der Horizont.
Wer aber nicht berufsmäßig in der Nachbarschaft wohnt, muss mehr sehen und mehr ertragen. In der U-Bahn gibt sich die Kaskade der Schnorrer die Klinke in die Hand. »Ich heiße Horst und bin HIV-positiv«, mümmelt einer, den Blick gesenkt; kaum hat er seinen Vers aufgesagt und seine Münzen eingesammelt, betritt ein neuer Kunde den Waggon: »Hallo! Ich bin der Klaus und obdachlos!« geht er seinen Job auf die forsche Tour an; groß ist die Komik der Situation und entsprechend das Gelächter, jener »Klaus« aber hat seinen Vorgänger nicht mitgekriegt und reagiert sauer: »Hey! Das ist nicht lustig! Aber ich hasse es zu betteln, und deshalb singe ich euch ein Lied. Ich habe es in meiner Muttersprache geschrieben. My mother was a gipsy, my father was a gigolo«, beginnt er jetzt mit starkem deutschen Akzent und in schneidendem Diskant zu schreien, »now she’s a famous doctor« geht es weiter, und an der nächsten Station wird er von einem Puppenspieler abgelöst. Schön wäre es, wenn all diese Kameraden gegen viel Geld im Cabaret Wintergarten aufträten, wo André Heller und Bernhard Paul mit der von ihnen ständig beschworenen »Phantasie, Magie und Poesie« das machen, was Hitler und Stalin mit Polen gemacht haben.
Nach einer kleineren Reise endlich am Flughafen Tegel angekommen, kann man sich amüsieren, indem man ankommende Inlandsmaschinen abpasst und die Passagiere betrachtet: identische Männer mit identischen gestreiften Hemden, identischen dunklen Anzügen, identischen Aktenkoffern und identischem Gesichtsausdruck; ob sie alle aus ein und demselben Reagenzglas stammen? Häufig werden diese Irrläufer der Evolution von Frauen abgeholt, die ihrerseits wieder einen identischen Eindruck machen. Oft schon habe ich mich gewundert, wie diese Menschen einander überhaupt erkennen, wie also immer das jeweils zusammengehörende Paar auch zusammenfindet. Selbst langes Grübeln blieb fruchtlos, bis die Erkenntnis blitzartig kam: Nein! Sie erkennen und finden sich gar nicht. Es nimmt einfach jede Frau irgendeinen dieser Männer mit nach Hause, ein Unterschied ist weder für sie noch für ihn feststellbar, die Verständigung klappt problemlos, die Codes sind identisch, die Bedürfnisse auch, und auch Geschlechtsverkehr, Wochenende und, Angestelltenvokabel Nr. 1, Jahresurlaub laufen reibungslos ab, egal, wer am Flughafen wen erwischt hat, funktioniert garantiert und überall, in Berlin, Frankfurt, München oder Düsseldorf.
In Düsseldorf, wo ich 1987 drei Monate lang in einer sog. Agentur für Kommunikation, einer Werbeagentur also, als Juniortexter arbeitete, betraten einmal drei schwere Herren von der Firma Frenzel das Konferenzzimmer und heckten gemeinsam mit uns Werbestrategen eine Kampagne aus. Einer der drei Sauerkonservenmogule brachte die Sache auf den Punkt: »Das ist doch unsere Frage: Wie ist die Gurke? Ist sie fein? Ist sie herb?«
Wie ist die Gurke? Ich habe nie aufgehört, mich das zu fragen.
1992
Klartext von Klarname Meyer
Till Meyer war Stasi-Mitarbeiter Na und?
WIE BITTER FÜR DIE TAZ-KOLLEGEN: Da hat man die Stasi im Haus gehabt, und die zeigte sich desinteressiert. Ließ einen quasi rechts liegen, schnüffelte, spitzelte und denunzierte nicht und forschte nichts aus, weil – jeder (Ex-)tazler weiß das – es in der taz nichts Unerforschtes gibt. Durch Till Meyers Selbstenttarnung via Spiegel-TV jetzt die eigene Bedeutungs- und Harmlosigkeit noch mal aufs Brot gelegt zu bekommen, tut weh, und entsprechend groß ist das Geschrei. Gewohnt betroffen wird von der »Natter am Busen«, von Undankbarkeit und Verrat geweint, wo man doch selbst so gütig war, dem Ex-Terroristen »eine Resozialisierungschance« einzuräumen - ach ja, Undank ist der Welten Lohn, buhuhu.
Ärger noch aber als die bloße Tatsache der Stasi-Mitarbeit kommt die chronisch Tiefbestürzten Till Meyers Haltung an: Einfach und klar, ohne sich zu winden, ohne Selbstmitleid steht er da: »Non, je ne regrette rien!« Warum auch: Till Meyer ist kein Spitzel und kein Denunziant wie zum Beispiel Anderson, der Dreigroschendichter, oder Wollenberger, der mit der Wanze im Schwanze in seine Frau hineinhorchte. Meyers Weigerung, jetzt auf dem Bauch liegend um Verständnis und Gnade zu winseln, wird ihm als »Stalinismus«, »Beton im Kopf« und so weiter ausgelegt von Leuten, die jahrelang ihre politischen Jugendsünden mit verbohrtem Hass auf die DDR abgearbeitet haben, um doch noch im Schoße beziehungsweise Arsche der Gesellschaft anzukommen – »je suis arrivé, hehe!«
Menschen ohne Würde und ohne Stolz präsentieren sich derzeit täglich, zeigen mit dem erigierten Finger auf sich selbst und ihre ehemaligen Mitstreiter, behaupten, von nichts gewusst zu haben oder zur Stasi-Mitarbeit gezwungen worden zu sein, ein halbes Volks betreibt kollektiv die Vernichtung der eigenen (politischen) Biographie und macht sich, als Folge dieses erbärmlichen Vorgangs, zur blinden Manövriermasse: gebrochene