Sklavenjagd. Tomàs de Torres

Sklavenjagd - Tomàs de Torres


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Lächeln war in dem Moment, als die elektronische Simulation eines Klickens ertönt war, eingefroren, denn dieser – wie sie es empfand – Einbruch in ihre Intimsphäre irritierte sie zutiefst. Sie hasste es, abgelichtet zu werden, nicht nur, weil sie sich für unansehnlich hielt. In gewisser Weise hatte jemand, der ihr Bild besaß, der damit tun konnte, was ihm beliebte, eine Art von Macht über sie, beinahe so, wie es einige Naturvölker glaubten. Es war wie eine – wenn auch schwache – Form des Missbrauchs ihres Körpers. Die Beziehung mit dem Freund vor Jorge war letztlich daran zerbrochen, dass dieser darauf bestanden hatte, sie nackt zu fotografieren, nicht nur ihre Brüste oder ihre Scham, wie Dolores schließlich widerstrebend als Kompromiss angeboten hatte, sondern in Verbindung mit ihrem Gesicht. Hätte sie zugestimmt, so hätte sich ein Teil ihres Selbst ihm hilflos ausgeliefert, seiner Willkür unterworfen.

      Sie verließ den Kirchenvorplatz ebenfalls, plötzlich wieder von Unruhe geplagt, und beschloss nach einigem Herumwandern, in das Apartment zurückzukehren, vorher jedoch noch einige Einkäufe zu tätigen. Wenn sie am nächsten Morgen aufbrach, wollte sie den Kühlschrank nicht so leer hinterlassen, wie sie ihn vorgefunden hatte.

      Das Teatro Municipal Torcal, in dem die Premiere stattfand, war ein in den Dreißigerjahren im Stil des Art déco errichteter Bau, der Parallelen, rechte Winkel und Symmetrien zum alleinigen Prinzip zu erheben schien. Dolores hasste diese kalte und leidenschaftslose, schier unmenschliche Form der Architektur, bei der sie stets nach etwas suchte, das sie nicht finden konnte. Sie bevorzugte barocke Verzierungen; Türmchen, Erker und Säulen mit geschmückten Kapitellen, die ihr eine beinahe menschliche Wärme vermittelten. Auch die maurische Architektur der Alhambra oder der Moscheen in Córdoba und Sevilla, die so verschwenderisch mit Stuck, Mosaiken und bemalten Fliesen prunkten, liebte sie, und wenn es etwas gab, das irgendwann zu sehen sie sich sehnte – nicht in der zweidimensionalen Scheinrealität des Fernsehapparats, sondern in der ganzen eindrucksvollen Majestät ihrer Wirklichkeit –, dann waren es diese beinahe magischen Orte. Doch wahrscheinlich würde sie niemals den Mut dazu aufbringen, ihre zu tief sitzenden Ängste niemals überwinden.

       Du weißt ja gar nicht, was Leben heißt!

      Dolores schüttelte unwillig den Kopf und betrat das Gebäude. Sie hatte ein Ticket für eine der letzten Reihen gekauft, im Schutz der Rückwand und in beruhigender Nähe des Ganges. Das Stück, das aufgeführt wurde, stammte von einem jungen spanischen Autor, dessen Name Dolores sofort, nachdem sie ihn auf dem Plakat gelesen hatte, wieder entfallen war. Es hieß »Dreisamkeit«, und dieser Titel gab auch gleichzeitig die Quintessenz des Inhalts wieder. Es ging um ein schwules Paar, dessen eine Hälfte von einer Frau verfolgt und schließlich verführt wurde, was zu Spannungen zwischen den beiden Männern und schlussendlich zu ihrer Trennung führte. Jorge mimte nicht etwa einen der beiden Homosexuellen; er spielte den Bruder der Frau, der nur ein paar wenige Auftritte hatte, die er sogar für Dolores’ ungeschliffenen Geschmack, was modernes Theater anbetraf, ein wenig zu pompös absolvierte. An einer Stelle erntete er sogar einige verhaltene, unfreiwillige Lacher, die ihn offensichtlich dazu verleiteten, seinen Abgang noch hastiger zu gestalten, als vom Regisseur ohnehin vorgesehen. In diesem Augenblick war Dolores froh, dass aus dem erträumten Abend zu zweit nichts geworden war, denn sie wusste, dass er die erlittene Schmach, das ihm zugefügte Unrecht, dann an ihr ausgelassen hätte.

      Ansonsten glitt das Geschehen auf der Bühne mehr oder weniger an ihr vorbei bis zum Höhepunkt des Stücks, nämlich der entscheidenden Auseinandersetzung zwischen den beiden Männern. Derjenige, der sich in die Frau verliebt hatte – also der »männliche Part« des Paars –, ärgerte sich zunehmend über die Unfähigkeit seines Partners, Entscheidungen zu treffen, und hielt ihm deshalb eine regelrechte Standpauke. Bereits bei den ersten Worten dieses Monologs ruckte Dolores’ Kopf herum und ihr Blick fixierte das Geschehen auf der Bühne.

      »Du versuchst, jedes noch so kleine Problem zu vermeiden!«, donnerte der Schauspieler seinen Kollegen an. »Du flüchtest und verkriechst dich vor ihm, anstelle auch nur den Versuch zu unternehmen, dich ihm zu stellen und es zu lösen! Willst du endlos so weiterleben? Pah, du weißt ja gar nicht, was Leben heißt! Aber ich bin nicht so, ich will etwas von meinem Leben haben, es ist ja schließlich kurz genug!«

      Dolores war kalkweiß geworden. Ihre Nasenflügel zitterten, und ihre Zähne bissen auf die Unterlippe, bis es schmerzte. Abrupt stand sie auf. Für einen Moment bildeten sich rote Ringe vor ihren Augen, und sie musste sich an der Lehne des zum Glück leeren Sessels vor ihr festhalten. Sie murmelte eine unhörbare Entschuldigung und zwängte sich an dem neben ihr sitzenden Paar vorbei, erreichte den Gang und flüchtete geradezu aus dem Saal.

      Draußen, in der Dunkelheit, blieb sie stehen und lehnte sich an die Wand des Theaters. Sie nahm die kühle Nachtluft in sich auf und wartete, bis sich ihr Atem und ihr Herzschlag wieder beruhigt hatten. Dann machte sie sich auf den Rückweg, zu Fuß, wie sie hergekommen war; die Entfernung betrug schließlich kaum mehr als einen Kilometer.

      Zunächst, noch während der Schauspieler gesprochen hatte, war sie einfach wütend darüber gewesen, dass Jorge dessen Monolog praktisch wörtlich übernommen und auf sie angewandt hatte. Doch noch bevor der Mann auf der Bühne zum Ende gekommen war, erkannte sie die Ungeheuerlichkeit von Jorges Vorgehen: Er hatte gewusst, dass sie die Premiere besuchen würde, hatte sie selbst dazu eingeladen – »gezwungen«, überlegte sie, wäre ein passenderes Wort. Und dennoch hatte er sich ungeniert am Text bedient, was Dolores als völlige Missachtung ihrer Intelligenz empfand; so, als wäre sie in seinen Augen kein denkendes und fühlendes Wesen, sondern nicht mehr als ein Einrichtungsgegenstand oder bestenfalls ein niederes Tier, dessen geistige Fähigkeiten nur zum Fressen und Schlafen taugten – und zur Paarung.

      Dass die Worte, die der Autor des Stücks dem Schauspieler in den Mund gelegt hatte, auf sie selbst ebenso passten, hatte mit ihrem Zorn nichts zu tun.

      Zumindest redete sie sich das ein.

      Als sie an dem Restaurant vorüberkam, in dem sie zu Mittag gegessen hatte, wurde sie sich der Tatsache bewusst, seither nichts mehr zu sich genommen zu haben, und so betrat sie es kurzerhand, obwohl darin gerade Hochbetrieb herrschte. Sie ließ sich am letzten freien Tisch nieder und nahm sich Zeit. Schließlich, lange nach Mitternacht, verließ sie die Gaststätte als eine der Letzten.

      Jorge war noch nicht zurückgekehrt, und sie war dankbar dafür. Sie duschte, dann packte sie die wenigen Sachen, die sie mitgebracht hatte, nahm Handtasche und Koffer und machte sich auf den Weg zur Garage. Auch wenn sie diese Flucht nicht als endgültigen Bruch mit Jorge betrachtete – dazu war sie, trotz allem, noch nicht bereit –, war sie in Dolores’ eigenen Augen ein für sie bislang beispielloser Akt der Entschlossenheit und des Mutes.

      Der Motor des Saxo startete problemlos; sein gewohntes Laufgeräusch hatte für Dolores etwas zutiefst Beruhigendes an sich. Doch als sie den Widerschein des einzelnen Abblendlichts an der Garagenwand sah, wurde ihr klar, dass sie etwas Entscheidendes übersehen hatte: Jeder Polizist zwischen Antequera und Málaga – und das waren auch nachts gewiss nicht wenige, gerade auf der Autobahn – würde ihren Wagen anhalten und sie auf den defekten Scheinwerfer aufmerksam machen. Und dann würde er die beschädigte Kühlerhaube entdecken und weiter nachforschen …

      Sie sah auf die Uhr. Es war mittlerweile halb drei geworden; die dunkelste Stunde der Nacht. Zurück in das Apartment wollte sie unter keinen Umständen; sie fühlte sich völlig außerstande, eine Konfrontation mit einem wahrscheinlich angetrunkenen Jorge durchzustehen. Nein, sie hatte keine andere Wahl, als zu warten, und zwar hier im Wagen.

      Sie löschte das Licht und schaltete Motor und Zündung wieder aus. Dann lehnte sie sich zurück, machte es sich so bequem, wie es unter diesen Umständen möglich war, und schloss die Augen. Sie wusste, dass sie in dieser Nacht keinen Schlaf finden würde, dass sie sie sie allein mit ihren Gedanken würde zubringen müssen. Was schon unter normalen Umständen keine besonders angenehme Gesellschaft war. Nach diesem Tag jedoch und nach dem Grauen der vorangegangenen Nacht …

      Endlich, beim ersten Morgengrauen, hielt sie den Geistern der Vergangenheit, der Gegenwart und der dunkelsten aller möglichen Zukünfte nicht mehr stand. Sie startete den Motor, rangierte aus der Garage und machte sich auf den Weg nach Hause.


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