Stollentod. Anett Steiner

Stollentod - Anett Steiner


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erwartet und seine Hausaufgaben gemacht, wie ein Tonband spulte er die Informationen herunter, die er im Internet gesammelt hatte.

      »… na ja und die Bauarbeiten für das Bergwerk hier in Pöhla begannen schon 2016 mit einem Erkundungsschacht, dem ein Jahr später der Förderturm folgte. Gefördert wird seit vergangenem Jahr, also seit 2019. Derzeit ist Pöhla die größte Zinnlagerstätte Europas«, schloss er und nahm eine lauernde Haltung ein, wie ein Schüler, der eine gute Note für seinen Vortrag erwartete.

      Die Frau nickte unverfänglich und fragte nach dem Grund seiner Bewerbung. Richard gab wahrheitsgemäß den politisch forcierten Untergang des Lausitzer Braunkohlereviers an und dass er sich in Elternzeit befand, damit seine Frau arbeiten konnte. Ob er für den Job umziehen oder an den Wochenenden pendeln wollte, erkundigte sich die Frau und Richard fragte sich, was das für eine Rolle spielte, das war doch wohl seine persönliche Angelegenheit. Ganz so direkt fiel seine Antwort aber nicht aus, er erklärte, darüber noch nicht nachgedacht zu haben, im Falle einer Anstellung würde er dies gemeinsam mit seiner Familie entscheiden.

      »Vielen Dank, dass Sie sich vorgestellt haben, wir melden uns bei Ihnen.« Wieder lächelte die Personalerin ihr unverbindliches Lächeln und verabschiedete ihn förmlich.

      Als er ging, begegnete er einem weiteren Bewerber, jedenfalls einem Mann in mittleren Jahren mit einer Aktentasche unter dem Arm, die auch aus dem Sonderpostenmarkt zu stammen schien. Jedenfalls sah sie Richards Modell zum Verwechseln ähnlich.

      Mit einem unbestimmten Gefühl der Ziellosigkeit trat Richard in den trüben Nachmittag hinaus, kühle Feuchtigkeit erfüllte die Luft und kroch unter seine Kleider. Diesiger Nebel hüllte die Pöhlaer Straßen und Häuser in gespenstische Atmosphäre. War dies ein schlechtes Omen? Kurz dachte er darüber nach, wie Manja das Wetterphänomen an seiner Stelle bewerten würde, vor allem jetzt, in ihrer sensiblen Phase. Seine Ehefrau war mental empfänglich auf eine Art, die sich nur schwer erklären ließ. Am Anfang war es ihm fast unheimlich gewesen, dass sie Dinge zu wissen schien, die sie gar nicht wissen konnte, so als ob sie eine Hellseherin wäre. Diejenigen, die Manja nur flüchtig begegneten und sie nur oberflächlich kannten, bezeichneten seine Frau schnell als kompliziert und schrecklich überspannt. Er selbst wusste inzwischen, dass meistens etwas dran war an ihren Ahnungen. Manja konnte zwischen den Zeilen lesen, und er neigte dazu, dies je nach Situation als Gabe oder Fluch zu bezeichnen. Manchmal war es ziemlich peinlich, wenn sie in der Öffentlichkeit ungeniert von Gespenstern sprach, die sie wahrnahm, vorzugsweise in der Nähe des Friedhofs, gern auch in alten Häusern. Bei nebliger Wetterlage schien ihr das besonders gut zu gelingen. Leider bediente sie damit ganz unfreiwillig das Klischee einer Frau, die wegen der Kinder entweder zu wenig Schlaf bekam oder sich einfach nur wichtigmachen wollte.

      Jedenfalls dachte Richard Hähnlein in diesem Moment an seine Frau, als er tief ausatmend im Nebel stand und die Anspannung von ihm abfiel. Passive Gleichgültigkeit erfasste ihn, er hatte getan, was er konnte, und hoffentlich den Erwartungen gemäß auf die Fragen geantwortet, alles weitere lag nicht mehr in seiner Hand. Es verlangte ihn nach einem Bier. Und die sächsischen Biere hatten einen guten Ruf zu verteidigen.

      »Und, hat’s geklappt mit ’nem neuen Job?« Eine dunkel gekleidete Person, die ihn um fast einen Kopf überragte, materialisierte sich aus den dichten Nebelschwaden.

      Richard zuckte zusammen. Er hatte nicht damit gerechnet, angesprochen zu werden, und schalt sich einen Feigling, als er spürte, wie die Furcht vor dem Unbekannten seinen Rücken hinaufkroch. Da war die Stimme seiner Mutter, die ihn an seine Kindheit erinnerte und tief aus seinem Inneren echote: »Nimm dich in Acht vor dem Schwarzen Mann«, was so viel hieß wie: Gehe niemals mit Fremden mit. Sprach der Unbekannte tatsächlich mit ihm, Richard Hähnlein aus der schönen Lausitz? Da weit und breit sonst niemand zu sehen war, musste es wohl so sein.

      »Reden Sie mit mir?«, vergewisserte er sich, um Festigkeit in der Stimme bemüht, und beendete die Frage mit einem Räuspern.

      »Ich versuche es wenigstens.«

      Richard wollte aber nicht plaudern. Ihm stand der Sinn einfach nur nach einem Bier, das er ungestört genießen wollte, bevor der alltägliche Familienwahnsinn ihn wieder einholte. Also beschloss er, auch wenn es kindisch und unfreundlich war, den Fremden einfach stehen zu lassen und sich auf die Suche nach einer Kneipe zu begeben. In seinem dünnen Jackett begann er augenblicklich zu frieren, es war kalt im Erzgebirge. Er hatte Zeit genug, um sich gemütlich in einen Gastraum zu setzen, die Heimreise würde er erst am späten Nachmittag antreten.

      »Sie sehen aus, als hätten Sie Lust auf ein Bier?«

      Konnte der Unbekannte Gedanken lesen oder stand Richard sein Bedürfnis so deutlich ins Gesicht geschrieben? Längst kroch ihm die feuchte Kälte auch in die dünnen Schuhe und er fing an, auf der Stelle hin und her zu tänzeln. Er musste an einen Fernsehbeitrag denken, denn er irgendwann einmal gesehen hatte, in dem verrückte Leute sich selbstgebastelte Hüte aus Aluminiumfolie auf die Köpfe setzten, um ihre Gedanken vor fremden Zugriffen zu schützen … Verrückte Leute – so verrückt wie seine Ehefrau? Und überhaupt, auch ihm wäre eine Rolle Aluminiumfolie plötzlich ganz recht gewesen.

      »Na, kommen Sie, ich lade Sie ein!«

      Wer war der Mann? Wieder meinte er die mahnende Stimme seiner Mutter zu hören, die ihm riet, sich von Fremden fernzuhalten und keinesfalls mit ihnen mitzugehen. Und natürlich hatte sie mit jedem einzelnen Rat, den sie ihm im Laufe seines Lebens gegeben hatte, recht behalten. Es konnte kein Fehler sein, sich auch jetzt daran zu halten. Doch wie von unsichtbarer Hand geführt, folgte er dem anderen, der schon im Nebel verschwunden war, ins Ungewisse … und fand sich wieder in einem gemütlichen Kneipchen, wo man in angenehmer Atmosphäre wohlschmeckendes Bier serviert bekam. Kurze Zeit später hatte er sich völlig entspannt, der Schaum vom Rand des Bierglases zierte sein zufrieden grinsendes Gesicht und das Frösteln verschwand.

      »Vielleicht sollte ich mich erst einmal vorstellen. Mein Name ist Lothar Brunner.« Der andere streckte seine Hand über den Tisch.

      Richard musterte den Fremden eingehend, im fadenscheinigen Licht des Gastraumes wirkten dessen Züge weich und angenehm. Dunkles, leicht gewelltes Haar umrahmte ein Gesicht, in dem nichts Markantes hervorstach, ein Antlitz, das Richard am nächsten Morgen wieder vergessen haben würde. Er schätzte Brunner eine Dekade älter als sich selbst und der Dialekt, den der Mann sprach, klang in seinen Ohren sehr vertraut. Brunner war demnach kein waschechter Erzgebirger, am Ende stammte er vielleicht ebenfalls aus der Lausitz?

      »Sicher fragen Sie sich längst, was das alles soll und was ich von Ihnen will?«

      Richard griff achselzuckend nach seinem Glas. In erster Linie genoss er es, sich aufzuwärmen und in immer kürzer werdenden Abständen an seinem Bier zu nippen. Dabei nuschelte er:

      »Ja und nein. Da, wo ich herkomme …«

      »Und wo kommen Sie her?«, unterbrach ihn Brunner.

      »Senftenberg«, antwortete er wahrheitsgemäß, »aus der wunderschönen Lausitz.«

      »Lausitz, wirklich sehr schön, da stimme ich Ihnen zu …« Und nach einem Räuspern wiederholte der andere seine Ausgangsfrage: »Hat es mit dem Job bei SMF geklappt?«

      Richard hielt das Glas mit dem Bier wie ein Schutzschild vor seiner Brust. Woher wusste Brunner, dass er sich für einen Job vorgestellt hatte? Und dass SMF überhaupt welche vergab? Galt der andere als Insider, der aus welchem Grund auch immer Besuchern des Bergwerks auflauerte? Wer war dieser Brunner überhaupt? Der Mann erschien trotz seiner Größe untersetzt, was irgendwie im Widerspruch zu seinem harmonischen Gesicht stand. Zudem wirkte er ein wenig kurzatmig und seine Wangen waren eine Spur zu rot, ganz so, als ob er zu hohen Blutdruck hätte. Das kannte Richard von seinem Schwiegervater.

      »Woher wissen Sie, dass ich vorhin ein Bewerbungsgespräch hatte?«

      »Ich komme, sagen wir, aus der gleichen Branche. Ihr Anzug lässt vermuten, dass Sie sich vorgestellt haben, ganz die alte Schule. Heutzutage geht man in Alltagskleidung auf Jobsuche. Nun, ich habe Sie angesprochen, weil ich Ihnen ebenfalls ein Angebot machen möchte.«

      »Ein Angebot? Was für ein Angebot?


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