Stollentod. Anett Steiner

Stollentod - Anett Steiner


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anging, war er höchst informiert und interessiert, was nicht zuletzt seiner Tätigkeit für den Heimatverein geschuldet war, die ihn über die schwere Zeit nach Claras Tod hinweggetragen hatte.

      »Du wirst deinen Umzug schon nicht bereuen. Ländlich lebt es sich einfach ein bisschen entspannter als in der Stadt – so sehe ich das. Und für mich funktioniert der Job auch nur so, ich muss am Abend genügend Abstand zwischen mich und das Revier bringen können«, gab Lorenz zu.

      »Und das sagt mir jemand, der seine ungelösten Fälle am liebsten übers Wochenende mit nach Hause nehmen würde«, prustete Annalena mit gespielter Empörung.

      »Was sich gelegentlich auch gelohnt hat«, erwiderte der Hauptkommissar im Brustton der Überzeugung. »Immerhin konnte ich so die Akte Karina Baumann endlich schließen – nach sechzehn Jahren, wie du weißt.«

      Die Kommissaranwärterin nickte. Sie erinnerte sich an Lorenz’ Bemühungen im Fall einer Dreizehnjährigen, die nahe dem Thalheimer Christelgrund verschwunden war. Die Sache hatte ihm keine Ruhe gelassen, bis es ihm endlich, nach so vielen Jahren, gelungen war, dazu beizutragen, dass ihre Gebeine doch noch die letzte Ruhe auf dem Stollberger Friedhof fanden.

      »Ja, das stimmt natürlich. Sicherlich werden Sie genauso beharrlich dafür sorgen, dass mir nichts, was ich über meine neue Wahlheimat wissen muss, entgeht.«

      Kurz resümierte Lorenz in Gedanken, was er über Ehrenfriedersdorf erzählen könnte, wenn man ihn vorn in einen Reisebus setzen und ihm ein Mikro in die Hand drücken würde. Eine ganze Menge. Dann legte er gegenüber seiner Mitarbeiterin los: Für Spaziergänge und Wanderungen standen der Saubergwald und der Wald bei den Greifensteinen zur Verfügung. Natürlich war auch der Bergbau prägend für den Ort gewesen, schon um 1240 soll im Seifenthal Zinn aus den Steinen gewaschen worden sein, das kleine Bächlein plätscherte bis heute. Dort, wo heute die Hormersdorfer Jugendherberge steht, befand sich früher ein Arsenikwerk, im Volksmund »Gifthütte« genannt. Während des Zweiten Weltkriegs mussten Zwangsarbeiter nicht nur dort, sondern auch bei der Dammerhöhung des Greifenbachstauweihers schuften. Seit 1968 war der Geyrische Teich ein beliebtes Naherholungsgebiet, seinen Ursprung hatte er als einer der ältesten Stauseen im Erzgebirge bereits vor sechshundert Jahren, als er als Wasserspeicher für den Bergbau angelegt worden war. Er speiste den Greifenbach, der dann in den Röhrengraben abgeleitet wurde, und den der in landesherrlichen Diensten stehende Hieronymus Lotter laut einer legendären Erzählung nach Geyer umleiten ließ, so dass die Ehrenfriedersdorfer, die sich selbst oft kurz »Ehrendorfer« nannten, kein Wasser für den Bergbau mehr hatten, wodurch bis in die Gegenwart eine gewisse Diskrepanz zwischen beiden Orten zu herrschen schien. Der Röhrengraben führt direkt zum Sauberg, an seinem Verlauf finden sich bis heute alte Stollen und bergmännische Ruinen. Auf halbem Weg kommt man beim »Jahn Kasper« vorbei, der selbst Bergmann im Sauberg war und den Spitznamen von seinen Kollegen erhielt – jetzt konnte man sich bei ihm einen Imbiss gönnen. Wer in der Vergangenheit genug kriminelle Energie in sich getragen hatte, um darüber nachzudenken, wen er gern hätte verschwinden lassen, dem dürfte die Ehrendorfer Binge in die Hände gespielt haben, ein »großes Loch« unterhalb der Greifensteine, circa fünfundzwanzig Meter tief und teilweise mit Wasser gefüllt, das bis in die siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts nur unzureichend oder gar nicht abgesperrt gewesen war. Natürlich hat es seine Opfer gefordert … Die Greifensteine selbst waren eine Felsformation im Geyerschen Wald zwischen den Orten Thum, Jahnsbach, Geyer und Ehrenfriedersdorf und beherbergten eine aus einem Granitsteinbruch entstandene Naturbühne für Theateraufführungen, Kinovorstellungen und Konzerte. Von Ehrenfriedersdorf aus konnte man sie über den Albin-Langer-Weg, den Triftweg oder de Ruschelbaa erreichen, mitten durch den Wald sollte man besser nicht gehen, wenn man sich nicht auskannte, und das war nicht nur Lorenz’ Meinung in seiner Eigenschaft als Ermittler. Für Waldspaziergänge eignete sich eher der Waldgeisterweg, ein Rundwanderweg, der vor allem für Kinder ein Abenteuer ist und für den Schnitzer aus der Umgebung jährlich einen neuen Waldgeist aus Baumstämmen erschufen. Lorenz erinnerte sich, dass dort unlängst Kollegen wegen Vandalismus ermitteln mussten, weil nicht einmal Waldgeister vor mutwilliger Zerstörung sicher waren.

      »Du solltest auf jeden Fall die fünfundzwanzig Stationen des Bergbaulehrpfades ›Silberstraße‹ absolvieren«, schloss er seine Ausführungen, »wenn du in deinem neuen Wohnort mitreden willst, und auch wissen, was die Stülpnerhöhle ist.«

      Annalena verdrehte die Augen.

      »Jetzt klingen Sie schon wie Lukas. Der ist gebürtiger Ehrenfriedersdorfer und wirbt auch ständig damit, dass ich vom Greifensteiner Aussichtsfelsen bei gutem Wetter bis zum Schloss Augustusburg und dem Fichtelberg sehen könnte. Und dass es eine Menge Sagen über die Burg Greifenstein gibt, brauchen Sie gar nicht erst erwähnen.«

      Lorenz schmunzelte. Die Leidenschaft für alte Sagen hatte er ihr ans Herz gelegt und dieses Anliegen war auf fruchtbaren Boden gefallen. Annalena kannte sich mit Erzgebirgssagen längst bestens aus. Und dass es die Burg Greifenstein einst tatsächlich gegeben hatte, stand inzwischen außer Zweifel. Mitarbeiter des Bezirksfachausschusses für Ur- und Frühgeschichte hatten bei Ausgrabungen am Fuß des Hauptfelsens zahlreiche Tonscherben gefunden, unglasierte Keramik, wie sie im 13. und 14. Jahrhundert verwendet worden war.

      »Entschuldige, ich schieße mal wieder übers Ziel hinaus«, mutmaßte der Kommissar. »Ich bin halt immer zu hundert Prozent bei der Sache, du kennst mich.«

      »Und genau deshalb ist es wohl doch an der Zeit, dass Sie sich mal erholen.«

      »Bei meiner Kur geht es aber um meine Knochen und nicht um meinen Kopf«, erklärte er mit einem Augenzwinkern.

      »Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht etwas Neues von Ihnen lerne. Und das sollte jetzt ein Kompliment sein.«

      »Das hast du sehr nett gesagt, Annalena. Solltest du während meiner Abwesenheit also tatsächlich Fragen haben, scheue dich nicht, meinen Rat zu suchen.«

      Als Annalena sich in den Feierabend verabschiedete, hing Lorenz noch eine Weile seinen Gedanken nach. Mechanisch drehte er sich im Schreibtischstuhl hin und her, was manchmal eine beruhigende Wirkung haben konnte.

      Wenn er ehrlich war, regten sich Zweifel in ihm, was die Durchführung seiner Kur betraf. Nicht dass er sie nicht antreten wollte, aber würde er sie auch antreten können? Er verfolgte mit gewissem Argwohn, dass in den letzten Tagen zunehmend Veranstaltungen abgesagt wurden. Das Gefüge der Welt geriet in besorgniserregendem Ausmaß aus den Angeln wegen dieses neuartigen Coronavirus, das im vergangenen Dezember erstmals in China aufgetaucht war. Inzwischen hatte das Virus seinen Weg nach Europa gefunden. In Italien häuften sich Todesfälle aufgrund von Lungenentzündungen, die von diesem Virus verursacht wurden. Im Moment gab es weder einen Impfstoff noch Medikamente. Immer mehr Länder reagierten mit Ausgangssperren und Einreisebeschränkungen. Lorenz beobachtete diese Entwicklungen mit wachsender Sorge. Nicht seiner eigenen Gesundheit wegen, die hielt er – abgesehen von seinem Rücken – für absolut robust. Er sorgte sich um seine Mutter – sie war wegen eines Glaukoms erblindet und hatte kürzlich einen Schlaganfall erlitten. Von dem hatte sie sich zwar beinahe vollständig wieder erholt, doch wie lange würde sie noch allein leben können? Schon seit einiger Zeit dachte er darüber nach, einen Pflegedienst in ihre Betreuung einzubinden. Außerdem hatte er die nahende Kur zum Anlass genommen, endlich eine Stellenanzeige aufzugeben. Er suchte eine Haushaltshilfe, um mehr Zeit für seine Mutter zu haben. Roswitha hatte ihm prophezeit, dass er die Belastung, täglich bei Frieda nach dem Rechten zu sehen, nicht dauerhaft durchstehen würde. Sie selbst konnte ihm dabei auch keine Hilfe sein, denn seit die Rechtsmedizin in Chemnitz geschlossen worden war, hatte sich Roswithas Arbeitsweg beinahe verdoppelt. Ihr Obduktionstisch stand seitdem in Leipzig. Manchmal, so wie jetzt gerade, vermisste er sie höllisch.

      4

      Manja Hähnlein schreckte aus dem Schlaf auf, für einen Moment fühlte sie sich desorientiert und ihr Herz klopfte stolpernd, ihr Atem stockte, sie fühlte sich leicht schwindelig. Schon wieder war sie schweißgebadet erwacht, in dem kürzlich bezogenen Haus im Ehrenfriedersdorf im Herzen des Erzgebirges hatte sie noch keine einzige Nacht ruhig durchschlafen können. Den Schrei, der ihr auf den Lippen lag, unterdrückte sie mühsam, in der vergangenen Nacht hatte sie damit auch ihren Mann Richard aus


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