Stollentod. Anett Steiner

Stollentod - Anett Steiner


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ich suche ebenfalls Mitarbeiter. Fachkräfte mit Bergbauerfahrung.«

      In Richards Hirn war die Verblüffung dabei, den Kampf gegen die Bierschwere aufzunehmen. Er wusste nur eins sicher: Seit seiner Geburt fehlte ihm eine gesunde Portion Argwohn. Und dennoch – bot sich hier etwa die Gelegenheit, zwischen zwei Jobs zu wählen und sich am Ende das lukrativere Angebot aussuchen zu können? Manja würde begeistert sein. Zu gern würde er es ihr endlich ermöglichen, sich zu Hause um die Mädchen zu kümmern und nicht arbeiten zu müssen. In ihrer momentanen finanziellen Situation war dies undenkbar. Richard trank sein Bier aus. Vom Alkohol mutig geworden, fragte er:

      »Was genau wollen Sie mir denn anbieten?«

      »Ich möchte Sie bitten, darüber nachzudenken, nicht für SMF in Pöhla anzufangen, sondern für einen anderen Arbeitgeber in Ehrenfriedersdorf. Die Konditionen sind verhandelbar.«

      »Ehren… wo?« Aber als er lange genug darüber nachdachte, fiel ihm ein, dass in der Vergangenheit dort Zinn gefördert worden war.

      »Ehrenfriedersdorf bei Annaberg-Buchholz, mitten im schönen Erzgebirge. Dort könnte schon bald Ihr Zuhause sein. Natürlich bekommen Sie jede Unterstützung, die Sie brauchen. Soll ich nach einer Wohnung oder einem Haus für Sie suchen? Sie haben doch Familie, oder?«

      Es fiel Richard plötzlich schwer, zuzuhören und gleichzeitig über eine Antwort nachzudenken. Das mochte am Alkohol liegen, oder an der bleiernen Müdigkeit, die zunehmend Besitz von ihm ergriff.

      »Familie? Ja, zwei Töchter habe ich.«

      »Gratuliere. Dann also ein Haus mit Kinderzimmern?«

      Haus? Kinderzimmer? Das ging Richard alles entschieden zu schnell. Oder fühlte es sich genau so an, wenn das Schicksal die Zügel in die Hand nahm? Wie auch immer, ein Haus würden sie sich niemals leisten können, so verlockend der Gedanke auch sein mochte. Er entschied, das Spiel mitzumachen, aber rein gar nichts mehr von sich preiszugeben.

      »Wieso geben Sie mir nicht einfach Ihre Visitenkarte und unterbreiten mir einen konkreten Vorschlag? Ich rufe Sie an, wenn ich ein Angebot von SMF habe. Dann werden wir sehen, wer das Rennen macht. Und jetzt: Wie komme ich am schnellsten zum Bahnhof nach Schwarzenberg?«

      »Trinken Sie in Ruhe noch eins, ich bringe Sie hin.«

      *

      In einen dicken Mantel gehüllt, schlenderte Manja Hähnlein am Ufer des Senftenberger Sees entlang. Wie immer half ihr die Ruhe über dem Wasser, sich zu erden. Hier konnte sie ihre Akkus laden. Manja hatte gesund glänzendes, rötlich schimmerndes Haar, das ihr in Wellen über den Rücken bis zum Po fiel. Die ungezähmte Mähne hatte ihr schon oft neidische Blicke eingebracht. Ihre grünen Augen suchten einen imaginären Punkt am Horizont, während sie loszulassen versuchte. Was würde die Zukunft bringen? Die Geister riefen sie an einen anderen Ort. Und wenn sie den Geistern nicht folgte, würde das nur Ärger bringen. Sie schaute gedankenverloren über das große glitzernde Wasser, zog den Kragen höher und begann recht bald zu frösteln.

      Einen See, so hatte Richard ihr versichert, als er aus Sachsen zurückkam, würde es auch in der neuen Heimat geben. Neue Heimat, welch seltsame Paarung widersprüchlicher Worte. Tausche Senftenberger See gegen Greifenbachstauweiher, dachte sie. So jedenfalls wurde das Gewässer bei Ehrenfriedersdorf in einem Touristenführer über das Erzgebirge beschrieben – bald würde sie erfahren, dass die Einheimischen es schlicht Geyrischer Teich nannten.

      Richard hatte einen von zwei angebotenen Arbeitsverträgen in Sachsen unterschrieben. Ehrenfriedersdorf hatte das Rennen vor Pöhla gemacht, was eindeutig an den Konditionen lag. Für den Anfang hatte ihr Mann erwogen, während der Woche in ein Pensionszimmer zu ziehen und an den Wochenenden zurück in die Lausitz zu pendeln. Aber war wäre das für ein Familienleben? Von den Geistern, die sie riefen, ganz zu schweigen, davon würde Manja ihm gar nicht erst erzählen. Als der neue Arbeitgeber ein bezahlbares Haus vermittelte, war der gemeinsame Umzug ins Erzgebirge dann endgültig beschlossene Sache. Die Geister … sie konnte mit kaum jemandem darüber reden, ohne für verrückt erklärt oder wenigstens belächelt zu werden. Daran hatte sie sich längst gewöhnt. Und bei genauerem Nachdenken hinterließ sie in Senftenberg nur wenig, was sie wirklich vermissen würde. Der See war eigentlich das Einzige.

      Später am Nachmittag, es begann bereits zu dunkeln, kehrte Manja mit den Bus nach Hause zurück zu Mann und Kindern. Der sensiblen jungen Frau war klar, dass sie ihre Gespenster nicht loswerden würde, auch nicht, wenn sie mit ihrer Familie nach Sachsen zog. Aber das war in Ordnung, mit den Jahren war sie stark genug geworden, um sich ihnen zu stellen. Es hatte zwar ein paar Psychosen lang gedauert, bis sie die Ahnungen als das akzeptieren konnte, was sie waren: eine Gabe. Eine Gabe, mit der sie Gutes bewirken konnte, wenn sie sich nicht dagegen wehrte. Sie hatte sich lange gesträubt, aber nicht ernsthaft genug, wie der Psychologe meinte. Aber den Typen würde sie ebenso hinter sich lassen wie Senftenberg.

      Richard stammte ursprünglich aus dem Ruhrgebiet. Er hatte dort in einer Kohlenzeche gearbeitet, als sie sich während eines Urlaubes im Harz kennen- und lieben lernten. Daraufhin war er ohne große Umstände ins Lausitzer Revier gewechselt und hatte Manja schon bald einen Ring an den Finger gesteckt, dann kamen die Kinder. Etwas komplizierter wurde ihr gemeinsames Leben erst, als Richard seinen Job verlor. Kohleausstieg … sie konnte das Wort nicht mehr hören.

      Jetzt war Richard seit knapp anderthalb Jahren ohne Anstellung. Kurzerhand hatte er die Elternzeit für die jüngste Tochter Josefine in Anspruch genommen und Manja war stattdessen weiter zur Arbeit gegangen, eine Kompromisslösung, mit der beide nicht eben glücklich waren. Manja vermisste das Muttersein und Richard seine Versorgerrolle. Mit der Zeit hatte sich zudem die finanzielle Lage zugespitzt. Richard hatte ihr wiederholt ans Herz gelegt, offen zu sein, was die Zukunft betraf. Dunkle Ahnungen konnte sie diesbezüglich jedenfalls nicht erspüren. Außerdem hatte Sachsen in Manjas Familiengeschichte bereits einmal eine Rolle gespielt, ihre Mutter stammte aus dem Erzgebirge, was Manja kurzerhand als gutes Omen wertete. Sie war erst kurz nach der politischen Wende mit Manja in die Lausitz gezogen. Rückblickend eines Mannes wegen, der es nicht wert gewesen war, die Heimat aufzugeben, hatte die Mutter erklärt und sich wehmütig die Tränen verkniffen. So gesehen, war der nun geplante Umzug der vier Hähnleins nicht unbedingt ein Auszug in die Ferne, sondern vielleicht sogar ein Nachhausekommen – es war wieder einmal alles eine Frage des richtigen Standpunktes, befand Manja.

      3

      »Das Timing für meinen ersten Alleingang ist, nun ja, nicht gerade günstig!«

      Hauptkommissar Ralf Lorenz von der Kripo Chemnitz wunderte sich über die Worte seiner sonst so selbstsicheren Kollegin, Kommissaranwärterin Annalena Krest. Der jungen Frau stand ein leicht gehetzter Ausdruck ins Gesicht geschrieben, der so gar nicht zu ihr passen wollte. War sie es nicht, die sonst immer an seinen veralteten Ermittlungsmethoden herumkritisierte und neuen Wind von der Polizeischule in den Dienstalltag bringen wollte? Jetzt hätte sie drei Wochen ungestört die Chance dazu und das schien ihr auch wieder nicht recht zu sein.

      Lorenz runzelte die Stirn und war versucht, voller Unverständnis den Kopf zu schütteln, verkniff sich diese Geste aber, denn Annalena konnte sehr impulsiv sein, wenn sie sich unverstanden oder ungerecht behandelt fühlte. Als ihr Vorgesetzter wagte er die Vermutung, dass es hausgemachter Stress war, der seine Mitarbeiterin ein wenig aus ihrer eigenen Mitte zu bringen drohte. Er war ohnehin sicher, dass die Jugend von heute deutlich weniger belastbar und schneller reizbar war als zur Zeit seiner eigenen wilden Jahre, aber Annalena hatte er bisher anders eingeschätzt.

      Lorenz schmunzelte beim Gedanken an seine eigene Sturm- und Drangzeit, die schon eine gefühlte Ewigkeit der Vergangenheit angehörte, die er aber sehr, sehr genossen hatte. Nicht minder genoss er seit einiger Zeit seinen zweiten Frühling, eine Tatsache, die zu großen Teilen der attraktiven Rechtsmedizinerin Roswitha Grimm zu verdanken war. Der früh verwitwete Beamte führte eine entspannte Beziehung mit dieser Frau. Anfangs hatten sich ihre Wege nur beruflich gekreuzt, und es war wohl Roswithas Beharrlichkeit und Feinfühligkeit zu verdanken, dass sich mehr daraus entwickelt hatte. Das Wunderbare daran war, dass sie die Zeiten ihres Beisammenseins zwanglos gestalteten und jedem Abschied eine gewisse Unverbindlichkeit anhaftete, die es selbst Lorenz


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