Stollentod. Anett Steiner

Stollentod - Anett Steiner


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Manchmal war sie beste Freundin, manchmal Kollegin, manchmal tröstete sie ihn über eine sentimentale Nacht und manchmal war sie seine Geliebte.

      »Warum findest du das Timing ungünstig?«, erkundigte sich der Hauptkommissar höflich, auch wenn er sich die Antwort denken konnte.

      »Das Timing Ihrer Kur. Ich verstehe, dass Sie endlich mal was für Ihren Rücken tun müssen, aber dass das ausgerechnet jetzt sein muss, wo ich doch umziehen will. Dass jetzt meine Bewährung in den nächsten Ermittlungen und der Stress des Umzuges zusammenfallen … Ich meine, ich muss Sie doch vertreten, wenn Sie nicht da sind – und nebenbei muss ich den Wohnungswechsel hinbekommen.«

      Annalena wirkte seltsam blass, es schien ganz so, als fürchtete sie, dem anstehenden Pensum nicht gewachsen zu sein. Wie konnte er ihr aus dieser Gedankenfalle heraushelfen?

      »Ich verstehe, dass dich das stresst«, räumte Lorenz ein. »Aber an meinem Termin für die Kur ist leider nicht zu rütteln. Die Maßnahme steht fest, und wenn ich das nicht durchziehe, bekomme ich ernsthaft Probleme mit Roswitha.«

      Dabei hatte er alles andere als Lust auf den geplanten Kuraufenthalt. Aber sein Rücken rebellierte inzwischen ununterbrochen und das Maß seines Schmerzmittelkonsums war nicht länger zumutbar, wie Roswitha ihm versichert hatte. Dass er tatsächlich schon Magenschmerzen von dem Dauereinsatz des Zeugs verspürte, verschwieg er ihr deshalb vorsichtshalber und hatte ihrem Drängen klugerweise nachgegeben und sich um einen Hausarzt bemüht, den er bis dahin noch gar nicht gehabt hatte. Seit seine Frau Clara jung gestorben war, wollten seine Vorbehalte gegen Mediziner nicht weniger werden, wenn man Roswitha als Ausnahme von der Regel betrachten wollte. So hatte er aber schließlich den Kurantrag auf den Weg gebracht und auch genehmigt bekommen. Drei Wochen lang erwarteten ihn nun Heilbäder und Massagen, das konnte sicher nicht schaden. Und um mit Roswitha noch ein paar Jährchen mitzuhalten, musste er letztlich auch leidlich fit bleiben.

      »Mein Umzug geht aber auch beim besten Willen nicht mehr zu schieben, meine Wohnung ist zum Ende dieses Monats gekündigt.« Annalena hatte beide Ellenbogen auf ihren Schreibtisch gestützt und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Sie sah tatsächlich ein wenig verzweifelt aus.

      Lag das nur an dem vermeintlichen Stress, der ihr bevorstand, oder steckte etwas anderes dahinter, fragte sich Lorenz und murmelte:

      »Ich kann verstehen, dass du dem Zeitgeschmack folgen und von der Stadt aufs Land willst. Ich halte es ihn Chemnitz auch nur aus, weil ich weiß, dass ich nach Dienstende wieder nach Hause fahren kann. Annaberg ist wunderschön, aber zum Glück nicht der Nabel der Welt, abends hat man seine Ruhe. Mal ehrlich: Niemand zwingt dich, nach Ehrenfriedersdorf zu ziehen.« Er lächelte mit einem Augenzwinkern und dem Plan, die Sache mit ein wenig Humor zu behandeln. Gerade bei Stress wirkte die richtige Einstellung Wunder, das wusste er aus eigener Erfahrung – und es war eine von Roswithas Lebensweisheiten.

      Aber Annalena war dafür in ihrer momentanen Verfassung wenig empfänglich.

      »Ich mach das ja auch nur für Lukas«, knurrte sie recht unglücklich.

      Lukas, rief Lorenz sich in Erinnerung, war Annalenas offizielle erste große Liebe. Sie hatte den Kollegen auf einer Weiterbildung kennengelernt. Immer, wenn sie von ihm sprach, erröteten ihre Wangen und sie blickte verlegen zu Boden. Und Verlegenheit war zweifellos auch etwas, was ganz und gar nicht zu seiner taffen jungen Kollegin passte. Umso deutlicher verstärkte ihr Verhalten den Eindruck, dass sie sich heftig verliebt zu haben schien. Lorenz gönnte es ihr von Herzen. Niemand konnte immer nur arbeiten, das hatte er auch mal gedacht. Aber die Liebe gehört zum Leben, das begriff er mehr und mehr nach jedem Wochenende, das Roswitha bei ihm in Annaberg verbrachte.

      Das Besondere an dem Haus, in dem er seit Jahren günstig zur Miete wohnte, waren die unlösbaren Probleme mit der Heizung und Warmwasserversorgung. Mehrere alteingesessene und renommierte Sanitärfirmen waren an dem scheinbar einfachen Auftrag gescheitert, für regelbare Temperaturen im Haus zu sorgen. Ein entnervter Klempner hatte sogar einen Fluch vermutet, weil sich das Problem einfach nicht aus der Welt schaffen ließ. Lorenz selbst hatte sich daran gewöhnt, dass es seit ewigen Zeiten kein warmes Wasser zum Duschen gab, und wenn doch, dann war es so heiß, dass Verbrühungen drohten. Mehrere neue Mischarmaturen hatten das nicht ändern können. Das Bemerkenswerte an der Rechtsmedizinerin seines Herzens war, Roswitha akzeptierte sogar das: kaltes Duschwasser. Und welche Frau war zu einer solchen Entbehrung schon regelmäßig bereit?

      »Na, siehst du. Freu dich doch darauf, der Zukunft etwas Positives abzugewinnen. Ein gemeinsames Leben eröffnet einen völlig neuen Abschnitt im Leben. Das mag abgedroschen und altmodisch klingen, aber es ist so. Jeder sollte einmal die Chance geboten bekommen, sich wegen einer nicht richtig verschraubten Tube Zahnpasta in die Haare zu kriegen. Ich hab mir sagen lassen, getrennte Badezimmer wären auf Dauer ebenso gut für die Haltbarkeit einer Beziehung wie getrennte Schlafzimmer wegen Schnarchens.«

      »Sie sind ja ein richtiger Experte, was Zweisamkeit angeht«, frotzelte Annalena. Immerhin schien sich ihre innere Anspannung etwas gelöst zu haben. Ihr Lächeln erreichte sogar die Augen. »Sicher haben Sie recht und ich sollte mich von dem Umzug nicht stressen lassen. Lukas hilft mir ja auch dabei. Außerdem lassen wir ein Umzugsunternehmen für uns schleppen. Ach, letztlich ist das Problem nur in meinem Kopf. So perfektionistisch, wie ich arbeite, bin ich auch privat, und in einem Leben zu zweit kann man nicht mehr alles zu hundert Prozent planen, sondern nur noch zu fünfzig.«

      Und mit Kindern gar nicht mehr, wollte Lorenz gerade erwidern, verkniff sich den Einwurf aber im letzten Moment. Annalenas Selbsteinschätzung bedurfte keines Kommentars. Außerdem ging ihn ihr Privatleben nichts an, er respektierte sie als zuverlässige, intelligente und akribische Kollegin. Aber wenn man zu perfektionistisch war, stand man sich damit gelegentlich selbst im Weg. Auch diese Einsicht stammte aus Roswitha Grimms Weisheitensammlung und Lorenz wusste sie vor allem auf sich selbst anzuwenden.

      »Du schaffst das schon alles«, ermutigte er sie. »Und wenn ich ehrlich bin, habe ich auch mehr Lust auf meine Arbeit als auf die Kur. Aber mit meinem Rücken kann es einfach nicht so weitergehen.« Er glaubte selbst nicht, dass er das sagte, seine ursprüngliche Meinung hatte anders ausgesehen. »Und ich hätte diesem Theater auch nicht zugestimmt, wenn ich für die Kur durchs halbe Land hätte reisen müssen. Aber wie du weißt, bin ich gar nicht weit weg, nur in Wiesenbad.«

      Der Kurort Thermalbad Wiesenbad war, wie der Name erahnen ließ, für seine Therme bekannt. Die Kurklinik dort erschien Lorenz perfekt, weil sie nur sieben Kilometer von seinem Wohnort Annaberg-Buchholz entfernt war. Somit konnte kein Heimweh aufkommen. Der dazugehörige Kurpark war ihm von gelegentlichen Spaziergängen mit Roswitha bereits vertraut, das Kneippbecken und die Klanginsel würden ihn an schöne Stunden mit ihr erinnern. Es hätte sogar die Möglichkeit gegeben, Abend für Abend nach Hause zu fahren, aber Roswitha hatte ihm des ungestörten Erholungseffektes wegen davon abgeraten. Sie war der Meinung, dass der Hauptkommissar sich nur dann wirklich entspannen könnte, wenn Diensttelefon und Dienstplan zu hundert Prozent außer Reichweite waren. Sie mochte recht haben.

      »Es beruhigt mich zu wissen, wo ich Sie finden könnte«, gab Annalena Krest zu. »Natürlich würde ich Sie niemals stören, nicht mal im Notfall, aber der Gedanke beruhigt mich eben.«

      Auch dieses Geständnis erstaunte Lorenz sehr. Bisher hatte sich die junge Frau in ihrem gemeinsamen Dienstalltag bissig und selbständig dargestellt.

      »Es wird aber keinen Notfall geben«, versicherte er ihr. »Und selbst wenn, du bekommst das hin. Immerhin konntest du jetzt schon ein Weilchen von mir lernen«, er zwinkerte ihr zu.

      Sie lächelte ergeben und meinte dann:

      »Es sind ja auch nur drei Wochen. Und wetten wir, dass ich bald mehr über Ehrenfriedersdorf wissen werde als Sie?« Sie spielte damit auf Lorenz’ Leidenschaft für Heimatkundliches an.

      »Das werden wir ja sehen. Interessant ist Ehrenfriedersdorf allemal, das kann ich dir jetzt schon versprechen. Und da meine ich nicht nur die Geschichte von der längsten Schicht im Saubergstollen, die ohnehin jeder kennt!«

      Glaubte man dieser Sage, so war am 25. November 1508 ein junger Bergmann verschüttet worden, dessen Leiche man beinahe auf den Tag


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