Werte wahren - Gesellschaft gestalten. Franz-Peter Tebartz-van Elst

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Jesus von Nazareth erschließt Papst Benedikt XVI. die sprachliche Herkunft des Wortes ,Barmherzigkeit' aus dem Hebräischen. Dort ist es gleichlautend und gleichbedeutend mit der Vokabel ,Mutterleib' und ,Mutterschoß'. Leben zu tragen und Leben zu geben besteht demnach in seiner Ursprünglichkeit darin, ein Herz für andere zu haben. So, wie der Herzschlag des Kindes im Mutterleib an den Herzrhythmus der Mutter gebunden ist, synchronisiert die gelebte Barmherzigkeit den Menschen mit Gott. Weil der Mensch nach Gottes Bild geschaffen ist, begründet diese Gotteskindschaft jedes Menschen eine Verwandtschaft, die das eigene Herz für die Not des anderen öffnet. Eine Kultur der Barmherzigkeit beginnt mit der Bekehrung zur Kindschaft.Wo der Mensch sich und sein Leben Gott verdankt, prägt ihn eine andere Lebenseinstellung als dort, wo die Meinung Menschen bestimmt, das Leben an sich reißen zu müssen. Gotteskindschaft ist ein Selbstverständnis, das die anderen als Schwestern und Brüder verstehen lässt.Wo die Erinnerung an die Herkunft verblasst, verliert der Mensch die Fähigkeit, mit dem Herzen Gottes zu sehen und zu fühlen. Eine Barmherzigkeit aus dem Mutterschoß des Glaubens ist die Gewähr für eine Kultur des Erbarmens im Miteinander der Gesellschaft und im Füreinander der Generationen.

      Nicht selten ist es die Biografie großer Menschen, die zu verstehen hilft, wann, wie und wo sie ihre innere Bewegung zur Barmherzigkeit gefunden haben. Wer heute das rekonstruierte einfache Elternhaus des heiligen Vinzenz von Paul besucht, begreift etwas von seiner Herkunft, die zum Vermächtnis wird.1581 wird er in Pouy, einem kleinen Dorf in der Gascogne, im Südwesten Frankreichs, als drittes von sechs Kindern geboren. Das karge und zugleich behütete Leben dieser Bauernfamilie prägt diesen Jungen, der früh in der bescheidenen Landwirtschaft mit anpacken muss. Zugleich fällt seine Begabung auf und sein Onkel kann den Vater bewegen, den jungen Vinzenz in ein nahe gelegenes Kolleg nach Dax zu schicken, um eine höhere Schulausbildung zu bekommen. Die Erfolge des Jungen lassen auf ihn aufmerksam werden und die wohlwollende Fürderung durch andere ermöglicht ihm einen Aufstieg und eine Umgebung, in der er sich bald gefällt. Im Rückblick auf diese Zeit seines Lebens gesteht er später einmal: „Ich kann mich erinnern, wie man mir einmal in dem Kolleg, in dem ich studierte, sagen ließ, dass mein Vater, der ein armer Bauer war, nach mir fragte. Ich weigerte mich, mit ihm zu sprechen, wodurch ich eine große Sünde beging.“ Vinzenz von Paul schämte sich, diesen „schlecht gekleideten und ein wenig hinkenden Vater“ vor den anderen zu empfangen.

      Diese Begebenheit aus dem Leben des uns bekannten großen Heiligen zeigt zugleich sein späteres Erschrecken über das Vergessen der eigenen Kindschaft.Wo auch im übertragenen Sinn das Bewusstsein der Herkunft durch die Bemächtigung eigener Einkunft verstellt wird, gibt es eine Verschiebung der Wertigkeiten und die Versuchung zur Selbstbezogenheit. Wo die Erinnerung an unsere Gotteskindschaft verblasst, macht sich der Mensch zum Maß der Dinge.Wo die Verbindung zum Ursprung des Herzens durch manche Umstände des Lebens verloren geht, erkalten und erstarren die Gefühle. Bekehrung zur Kindschaft ist Herzensbildung. Gemeint ist eine Haltung, die um die eigene Bedürftigkeit der Barmherzigkeit weiß und aus der erfahrenen Zuwendung anderen Hinwendung zu schenken vermag. In diesem Sinn ist – wie Thomas von Aquin einmal sagt – „die Not die Mutter aller Taten“. Barmherzigkeit als Bewusstsein von Gotteskindschaft und Glaubensverwandtschaft ist ein Einfühlungsvermögen in die Bedürftigkeit des anderen, wie es die Goldene Regel der Bergpredigt zum Ausdruck bringt: „Alles, was ihr also von anderen erwartet, das tut auch ihnen“ (Mt 7,12).

      Barmherzigkeit als eine mütterliche Begabung, die eine Bekehrung zur Kindschaft ermöglicht, gehört zum Selbstverständnis des Dienstes in den vielen Einrichtungen, die Kirche gerade in der Caritas trägt. Hier ist es immer die Begegnung und Berührung mit den Hilfsbedürftigen, die Kirche selbst evangelisiert. In diesem Sinn bleibt ein Wort des heiligen Vinzenz von Paul an die Ordenschwestern in einer von ihm begründeten Einrichtung eine Weisung an die Caritas im Blick auf alle Bediensteten: Er sagt: „Meine Schwestern, bemüht euch darum, den Kranken in großer Herzlichkeit zu dienen.Teilt mit ihnen ihre Leiden und hört euch ihre Klagen an, wie eine Mutter es tut. Denn die Armen betrachten euch als ihre Mutter, die Für ihre Nahrung sorgt. (…) Ihr seid dazu berufen, die Liebe Gottes ihnen gegenüber sichtbar werden zu lassen, (…) denn die Armen sind eure und auch meine Herren. (…) Ihnen steht es zu, die Himmelspforte zu öffnen, wie es im Evangelium heißt“ (Vinzenz von Paul, X.331).

      Bekehrung zur Kindschaft ist das existenzielle Eingeständnis, ohne den anderen und seine Zuwendung nicht leben zu können und zu wollen. In diesem Sinne sind es die Armen, die uns lehren, was uns selbst vielleicht abhandengekommen ist und was es neu zu suchen gilt. Dieses Kriterium einer Kultur der Barmherzigkeit hebt die gefährliche Trennung zwischen dem Geber und dem Bittsteller, zwischen oben und unten, zwischen Institution und Charisma auf. Es geht um eine Haltung, wie sie im Leitbild einer kirchlichen Trägergesellschaft für karitative Einrichtungen beispielhaft formuliert ist: „Hochachtung bewegt den Willen zur Liebe. Sie erweckt jene Ehrerbietung und Zuneigung, die man dem Mitmenschen schuldet, und gibt sich kund in allem, was man spricht und tut.“ 33 Im Leben des heiligen Vinzenz von Paul gibt es diese Dynamik, die ihn selbst nach Jahren des vermeintlichen Aufstiegs – im scheinbaren Abstieg zu den Armen – den Einstieg in eine Kultur der Barmherzigkeit finden lässt. Durch eigene leidvolle Erfahrungen, durch Passion, findet er zur Compassion – eine Haltung, die inzwischen in der Religionspädagogik als neues Lernziel definiert wird. 1617 gründet er den ersten Caritas-Verein,1625 die Gemeinschaft der Lazaristen zur religiösen Unterweisung des Volkes und 1633 – gemeinsam mit Louise de Marillac – die Barmherzigen Schwestern. Die Identifikation mit dem armen Lazarus bewirkt in ihm eine Blickveränderung und Lebenswende, die einem zweiten Kriterium kirchlicher Caritas Gestalt gibt.

      Vor einigen Jahren startete die Wochenzeitung „DIE ZEIT“ eine Artikelserie über die Bedeutung der großen Religionen: „Was soll ich glauben?“ – so der Titel. Am Anfang stand ein Interview mit dem Philosophen Peter Sloterdijk und Walter Kardinal Kasper. Den Tenor dieses Streitgespräches spiegelt der Titel des ersten Beitrags: „Religion ist nie cool!“ Unter dieser Überschrift geht es gleich weiter: „Glaube schien in Europa erledigt. Jetzt ist er wieder da. Warum nur?“ Ein merkwürdiger Widerspruch und ein pastoraler Spagat: Auf der einen Seite sagen Jugendliche, dass es ,uncool' sei, mit Glaube und Kirche etwas im Sinn zu haben. Auf der anderen Seite suchen immer mehr Menschen – manchmal mit kaltem Blick –, was das Herz erwärmen kann. Sloterdijk geht soweit zu sagen, dass Menschen glühend werden, wo sie an den Glutkern des Glaubens kommen, und warnt zugleich vor der Weißglut des Fanatismus. Kardinal Kasper stimmt ihm zu; stellt der Sorge aber den Segen voran, dass Glaube glühend macht in der Liebe, im Einsatz für Frieden und Gerechtigkeit. Er hat zuerst vor Augen: „Bis heute werden Menschen glühend im Einsatz für andere und verglühen sogar darin.“ Religion ist nie cool, weil ein kaltes Herz nicht glauben kann.

      Wo Religion und Glaube heute wieder vorkommen, stellt sich für Menschen neu die Frage, wie man den Blick über das Eigene hinaus gewinnen kann. Immer öfter macht die Ahnung von sich reden: ,Es muss doch mehr geben als all das, was wir haben und besitzen, was wir behaupten und was uns besetzt!' Dieser Seufzer rührt an den Glutkern unseres Lebens. Wo das Interesse am eigenen Fortkommen den Lebenssinn bestimmt, erlöschen irgendwann die Kräfte. Es gibt die Rede vom ,Burn-out-Syndrom', wo Menschen das rechte Maß verloren haben. Nicht wenige, die einen solchen Kollaps überwunden haben, sprechen später davon, wie das Interesse am anderen und für andere sie geheilt und neue Maßstäbe in ihr Leben gebracht hat. Wo in einem Herzen die innere Glut erstickt, verliert die Seele den Sinn des Lebens. Viel ist heute die Rede von den ,burning persons'. Sie werden in Wirtschaft und Werbung gesucht, wo Neues und Visionäres initiiert werden soll. Schon in der Spur der Emmausjünger sind ,die brennenden Herzen' (vgl. Lk 24,32) die Voraussetzung dafür, dass die Botschaft von der Auferstehung Jesu auf den Weg zu den Menschen kommt. Wo das Innerste entzündet wird,kommt der Mensch zu seiner größten Entfaltung. Vom Glutkern des Glaubens bekommt das Leben seine Energie. Das Wort von der ,Selbstverwirklichung', das ohnehin seinen Zenit überschritten hat, ist dann ,Einsatz für andere'.

      Diese Befähigung zur Leidenschaft begreift der heilige Vinzenz von Paul in einem Bildvergleich: „Wenn Gottes Liebe ein Feuer ist, dann ist der Eifer seine Flamme; wenn die Liebe eine Sonne ist, dann ist der Eifer ihr Strahl. Der Eifer ist das Reinste in


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