Werte wahren - Gesellschaft gestalten. Franz-Peter Tebartz-van Elst

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Gleichnis vom Barmherzigen Samariter (vgl.Lk 10,25–37) hat Jesus die Frage des Gesetzeslehrers: ,Wer ist mein Nächster?' in eine andere Frage umgewandelt: ,Wem kann ich zum Nächsten werden, weil er meiner Hilfe bedarf?' Nicht der Blick in Richtung Grenze, nämlich: ,Wie weit darf ich gehen?' steht im Vordergrund. Jesus kehrt den Blick um und fragt: ,Wie weit bin ich bereit, mich für den Nächsten und damit für das Gute einzubringen?'

      Auch hat Jesus – beispielsweise mit den Antithesen in der Bergpredigt – selbst die ethischen Weisungen der Zehn Gebote bekräftigt und vertieft. So heißt es dort: „Zu den Alten ist gesagt worden,du sollst nicht töten.(…) Ich aber sage euch: Jeder, der seinem Bruder auch nur zürnt, soll dem Gericht verfallen sein“ (vgl. Mt 5,21–22).

      Schon bei den Propheten im Alten Testament steht die Begrifflichkeit des Tötens dafür, einen Menschen in schwerer Weise wirtschaftlich auszubeuten oder ihn sozial und rechtlich zu unterdrücken,d.h., ihn in seinen Lebensmöglichkeiten drastisch zu beschneiden. Den Propheten des Alten Bundes und Jesus selbst geht es um die Verbesserung der Verhältnisse und nicht darum, das Schlimmste zu verhüten. So sind die Antithesen der Bergpredigt verbindliche Orientierungszeichen für die Bildung des christlichen Gewissens, das durch sie geschärft und auf das eigentliche Ziel des christlichen Lebens ausgerichtet wird.

      Der selige John Henry Newman, der große Theologe und Pädagoge des 19. Jahrhunderts, hatte wohl Recht, wenn er das Gewissen als „Ursprungsort der Gotteserfahrung“ verstand.28 In diesem Sinn ist die Wachsamkeit von Politik und Gesellschaft für Räume des Glaubens so wichtig, in denen die Kunst des verantwortlichen Lebens vermittelt wird.

      Zu Beginn des Jahres 2007 machte in Münster ein spektakuläres Theaterprojekt auf sich aufmerksam. „Kultur der Barmherzigkeit“ – so lautete der Titel einer Vorstellung, die es sich zu eigen gemacht hatte, die sieben Werke der Barmherzigkeit wieder in Erinnerung zu rufen.Weil viele in unserer Gesellschaft nicht mehr wissen, ,wer' damit gemeint ist,gibt es die Sorge, es könnte verloren gehen, ,was' damit gemeint ist. Hungrige speisen, Durstige tränken, Fremde beherbergen, Nackte bekleiden,Kranke pflegen,Gefangene besuchen und Tote bestatten – das ist die Diakonie, die im Evangelium vom Weltgericht zum Maßstab der Christusverbundenheit wird: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan!“ (Mt 25,40).

      Dem unkonventionellen Theaterprojekt in Münster ging es darum, in den Nöten der Menschen die Tugend der Barmherzigkeit wieder zur Geltung zu bringen. Deshalb waren Obdachlose, Flüchtlinge und Strafgefangene als Akteure mit einbezogen. Begegnung als Berührung mit der Welt der anderen. Barmherzigkeit als Bewegung des Herzens: „Nur wer fühlt, was er sieht, gibt, was er hat!“ Den Zuschauern wurde bewusst: Der ,Mut zum Dienen' vermittelt sich durch ,persönliche Präsenz'. ,Dien-mut' ist Diakonie aus der Herzens verwandtschaft mit dem Gott, der von sich sagt: „Ich bin unter euch wie der, der bedient“ (Lk 22,27).

      Diese Offenbarung Jesu im Lukasevangelium ist die Wegbeschreibung zu den Krankenhäusern und Altenpflegeheimen, zu Kindertagesstätten und Behinderteneinrichtungen, zu Hospiz und Sozialstationen und letztlich zu allen Einrichtungen, die von Kirche im Geist des Evangeliums getragen werden. Es sind diese Orte, wie sie nicht selten im Engagement von Christen aus den Herausforderungen der sozialen Frage und Bewegung des 19. Jahrhunderts eine Verbindung von Humanität und Spiritualität hervorgebracht haben, die uns begreifen lässt, was eine verlässliche Sozialität in unserer Gesellschaft trägt.

      Wo Kirche soziale Einrichtungen in großer Vielfalt trägt, geht es um den exemplarischen Hinweis auf den, der das Leben trägt. „Deus caritas est“ – so beginnt die erste Enzyklika Papst Benedikt XVI. Sein Verweis auf dieses Wort des ersten Johannesbriefes ist die Bündelung der Botschaft, die Christen bewegt, sich der sozialen Frage ihrer Zeit in einem Horizont zu stellen, der sich am Anfang dieses päpstlichen Schreibens wie eine Kurzformel unseres Glaubens liest: „Gott ist die Liebe. In diesen Worten (aus dem ersten Johannesbrief)ist die Mitte des christlichen Glaubens, das christliche Gottesbild und auch das daraus folgende Bild des Menschen und seines Weges in einzigartiger Klarheit ausgesprochen.“ 30 Daraus leitet der Papst an anderer Stelle einen Auftrag ab, der der Caritas Gesicht gibt: „Alles Handeln der Kirche ist Ausdruck einer Liebe, die das ganzheitliche Wohl des Menschen anstrebt: seine Evangelisierung durch das Wort und die Sakramente (…). So ist die Liebe der Dienst, den die Kirche entfaltet, um unentwegt den materiellen Leiden und Nöten der Menschen zu begegnen.“ 31

      Christliche Barmherzigkeit ist mehr als geleistete Taten. Es ist vor allem die gelebte Begründung, dass die Liebe Gottes den Menschen in seinen Grenzen trägt. So sehr Caritas heute professionelle Organisation sein muss und Gesundheitspflege sich auf einem profitorientierten Markt behaupten muss – das Entscheidende des kirchlichen Engagements in diesem Bereich besteht in der Einstellung, dass das Erbarmen umsonst ist oder, wie Vinzenz von Paul es sagt: „Herzlichkeit ist die kleine Münze der Liebe.“ Menschen, die in unserer Gesellschaft für das Unbezahlbare einstehen, sind die Platzhalter Gottes.

      Das ,Zeugnis des Lebens' braucht das deutende ,Zeugnis des Wortes', denn die Motivation zur Liebe hat einen Namen: Jesus Christus. Die Menschwerdung Gottes gibt der Barmherzigkeit ein Gesicht, das in unserer abendländischchristlichen Gesellschaft zum Maßstab geworden ist. Gleichzeitig stellt sich unter zunehmend säkularisierten Lebensbedingungen die Frage, ob das ursprünglich Christliche noch als das unterscheidende Christliche wahrgenommen wird. Vieles von der Ethik des Evangeliums ist so selbstverständlich in das Menschenbild unserer Verfassung und Rechtsprechung, unserer Sorge um das Soziale und Kulturelle eingegangen, dass der frühere bayerische Kultusminister Hans Maier vor zwanzig Jahren die kritische Frage stellen konnte, wie weit die Wahrnehmung des originär Christlichen in unserer Zeit zum Opfer des eigenen Erfolges geworden ist. Heute zeigt sich, dass die inzwischen rasant stattgefundene Selbstsäkularisierung aller Lebensbereiche die neue Nachfrage und Notwendigkeit provoziert, ins Wort zu bringen, worin das spezifisch Christliche besteht. Die zahlreichen Bemühungen um die Formulierung von Leitbildern, gerade in kirchlich getragenen Einrichtungen des Gesundheits- und Bildungsbereiches, belegen, dass eine Zertifizierung von angebotenen Leistungen nicht ohne die Verifizierung der tragenden Botschaft auskommt. Auszusprechen, was Christen zur Barmherzigkeit bewegt, und anzusprechen, wofür Christen in einer pluralen Gesellschaft einstehen wollen, provoziert auf neue Weise das Profil des Missionarischen.

      Der Rückblick in das gewachsene institutionelle Engagement der Kirche im sozialen Bereich zeigt die bleibende Notwendigkeit, sich den fortschreitenden verändernden sozialen Herausforderungen in einer Bereitschaft zu stellen, die das originär Christliche in den Zeichen der Zeit wahrnimmt und anspricht. Wo Christen tun, was ,dran' ist, vermitteln sie die Relevanz des Evangeliums in der jeweiligen Zeit. Dieser innere und inhaltliche Zusammenhang ist das Proprium einer missionarischen Pastoral, wie es das Zweite Vatikanische Konzil in der Konstitution „Gaudium et spes“ als Leitbild für das Handeln der Kirche in der Welt von heute herausstellt: „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände.“32

      Diese Selbstverpflichtung markiert eine kirchliche Caritas. Der Erfurter Bischof Joachim Wanke illustriert diesen wesenhaften inhaltlichen Zusammenhang ,Wo Caritas draufsteht, muss Kirche drin sein, und wo Kirche draufsteht, muss Caritas drin sein'. Dieser Ansatz ist der Horizont, in dem der heilige Vinzenz von Paul Barmherzigkeit als das Schlüsselwort christlicher Verkündigung identifiziert. Wenn er im Blick auf den menschgewordenen Gott sagen kann: „Liebe sei Tat!“, sind die Worte des Evangeliums zugleich in ihm. Eine Kultur der Barmherzigkeit in einer Gesellschaft des Marktes ist ausdauernd über den kategorischen Imperativ zu Sozialleistungen nur schwer zu erreichen. Wo karitatives Engagement aber explizit als kirchliches Zeugnis gelebt und verstanden wird, macht es neugierig, wie das Evangelium Taten und Worte in einen Einklang bringen kann, der die Investition und Motivation zur gelebten Liebe als Attraktion vermittelt. Der Blick in die reiche Geschichte kirchlicher Caritas lässt drei Ausrichtungen erkennen, die zu einer Kultur der Barmherzigkeit in unserer Gesellschaft


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