Werte wahren - Gesellschaft gestalten. Franz-Peter Tebartz-van Elst

Werte wahren - Gesellschaft gestalten - Franz-Peter Tebartz-van Elst


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Gesellschaft'. Es mangele an Solidarität und an der Bereitschaft, solidarisch zu sein. Es fehle an Riten, vor allem an den Grenzen und Übergängen des Lebens. „Gleichwohl“, so schreibt Habermas, „verfehlt die praktische Vernunft ihre Bestimmung, wenn sie nicht mehr die Kraft hat, in profanen Gemütern ein Bewusstsein für die weltweit verletzte Solidarität, ein Bewusstsein von dem, was fehlt, von dem, was zum Himmel schreit, zu wecken und wachzuhalten.“11 Es fehle das feste Wissen, dass das politische Gemeinwesen von belastbaren Überzeugungen getragen ist, es fehle ausdrücklich auch an „religiös begründeten Stellungnahmen in der politischen Öffentlichkeit.“ (Vgl. dazu Kapite l4/I. – III.)

      Deutlich spricht aus dieser Einschätzung das Bewusstsein, dass es den Menschen in unserer Gesellschaft zunehmend schwerfällt zu erkennen, dass es nicht nur um Diesseitigkeiten geht. Unser Handeln und Sollen ist bezogen auf etwas – das Hier und Jetzt Überschreitende. Es fehlt an Transzendenz.

      Ein Bild macht mich nachdenklich. Es hängt in einem Tagungshaus und ist wie die Reliquie eines Ereignisses, das nie vergessen werden darf, damit es sich nie wiederholt. Das Bild zeigt einen kleinen Teil aus einer größeren Thorarolle, die beim schrecklichen Terror der Reichspogromnacht 1938 zerstört wurde. Nach der Verwüstung der Synagoge in einer deutschen Stadt hat damals ein 17-jähriger Jugendlicher im Respekt vor der Buchrolle, die den Juden heilig ist, diese beschädigten Ausschnitte von der Straße aufgenommen und aufbewahrt. Als Christ verspürte er Ehrfurcht und Anteilnahme.

      Diese Thorareste enthalten Worte des Alten Testamentes aus den ersten fünf Büchern der Bibel. Beim Gottesdienst in der jüdischen Synagoge wird die Thorarolle aus dem Schrein genommen und geöffnet, um daraus Gottes Wort zu verkünden. Die Ausschnitte, die wie Buchseiten hinter dem Glasrahmen des Bildes zu sehen sind, zeigen deutliche Spuren von Zerstörung. Der Text ist nur schwer zu entziffern.Und doch spricht aus dieser Schrift laute Mahnung. Bevor man überhaupt ein Wort identifiziert hat, begreift man:Wo Menschen so brutale Gewalt angetan wird, wie es vor über 70 Jahren in der Reichspogromnacht geschehen ist, wird sie auch Gott angetan. Wo Gottes Wort mit Füßen getreten wird, wie die braunen Barbaren es vor 70 Jahren getan haben, hat der Mensch entsetzlich zu leiden. Der Blick auf diese Reliquie der Thora macht bewusst, was am Ende dieser Schriftrolle aus dem Mund des Mose im Buch Deuteronomium des Alten Testamentes zu lesen ist: „Heute beschwöre ich euch: Verpflichtet eure Kinder, dass auch sie auf alle Bestimmungen dieser Weisung achten und sie halten. Das ist kein leeres Wort, das ohne Bedeutung für euch wäre, sondern es ist euer Leben“ (Dtn 32,46–47).

      Wo Menschen den Respekt vor Gott verlieren, geht auch die Achtung voreinander verloren. Für immer müssen die schrecklichen Ereignisse der Reichspogromnacht zur Mahnung dafür werden, dass wir nicht wegschauen dürfen. Was damals geschehen ist, darf nie vergessen werden. Wir müssen es auch als Christen immer wieder ansprechen, denn mit einer Stummheit vor der Geschichte wächst eine Gleichgültigkeit im Alltag, mit der eine Gottvergessenheit einhergeht, aus der am Ende brutale Menschenverachtung wird. Der Theologe Johann Baptist Metz hat gerade im Blick auf die Gräueltaten, die die Nationalsozialisten dem jüdischen Volk angetan haben, von der Notwendigkeit einer „gefährlichen Erinnerung“13 gesprochen.

      Das Bild mit den Ausschnitten der Thorarolle, die 1938 geschändet wurde, macht bewusst, wie sehr gerade uns Christen das Schicksal des jüdischen Volkes angeht. Die ersten fünf Bücher der Bibel, aus denen die beschädigten Worte kommen, erinnern an das Wort von Papst Johannes Paul II., der der Kirche ins Gedächtnis und ins Herz geschrieben hat, dass die Juden unsere , älteren Geschwister im Glauben' sind. Diese besondere Verwandtschaft bedeutet umso mehr Verpflichtung in der Anteilnahme und im Einsatz für eine wachsame Erinnerung.

      Wer einmal die Gelegenheit hatte, in einer Synagoge an einer Bar-Mizwa-Feier teilzunehmen, hat erlebt, wie bei diesem Fest der Religionsmündigkeit eines jüdischen Jungen ihm der Gebetsschal umgelegt wird und ihm das Sch'mah Israel in einer Kapsel auf die Stirn gebunden wird. Zugleich überreicht man ihm einen silbernen Gebetsfinger wie ein Zeigestab. Dann öffnen ältere Männer eine kostbar dekorierte Thorarolle und zum ersten Mal darf der Jugendliche öffentlich aus der Thora lesen. Ihm wird Gottes Wort so anvertraut, wie es in Psalm 119 aus den Gebeten Israels zur Sprache kommt: „Wie geht ein junger Mann seinen Pfad ohne Tadel? Wenn er sich hält an dein Wort. (…) Gott, ich berge deinen Spruch im Herzen, damit ich gegen dich nicht sündige. Gepriesen seist du Herr, lehre mich deine Gesetze“ (Ps 119,9.11–12). Mit Jubelrufen und Tanz antwortet die umstehende Gemeinschaft auf diese Berührung mit dem Wort Gottes.

      Wo Menschen sich Gottes Wort aneignen, ist geheiligter Boden. Wo Menschen Gottes Wort mit Füßen treten, tun sich Abgründe auf. Der 17-jährige Christ, der 1938 die beschädigten Ausschnitte der jüdischen Thora aus dem Dreck der Straße und dem Schmutz einer Gott und Menschen verachtenden Ideologie gerettet hat, betrachtete diesen Rest der Thora zeit seines Lebens mit Ehrfurcht und hat sie als Reliquie gegen das Vergessen gezeigt. Als er 1970 starb, wurde sie zum Vermächtnis einer Erinnerung, die nie verblassen darf.

      Jedes Jahr im Herbst, wenn die Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz in Fulda stattfindet, beginnen die Beratungen mit dem Gebet am Grab des heiligen Bonifatius. Dazu steigen alle Bischöfe hinab in die Krypta des Domes. Diese Schritte sind wie eine Berührung mit der Anfang der Kirche in unserem Land. Sie sind eine Begegnung mit dem Apostel der Deutschen im Gebet.

      Am 5.Juni des Jahres 754 erlitt er mit zahlreichen Gefährten in Friesland den Martertod. Acht Jahre zuvor war er zum Bischof von Mainz geweiht worden. Ein Zeuge, der für unsere Heimat zum Halt im Glauben geworden ist. Zu seinem Andenken findet in Fulda jedes Jahr das große Bonifatiusfest statt.

      Am Grab dieses großen Glaubenszeugen kann man unmittelbar spüren, was Papst Johannes Paul II. im Blick auf die Heiligen der Kirchengeschichte gesagt hat: „Heilige veralten nie; sie verlieren nie ihre Gültigkeit. Sie bleiben ständig Zeugen für die Jugend der Kirche. Sie werden nie Menschen der Vergangenheit, Männer und Frauen von gestern. Im Gegenteil: Sie sind immer Männer und Frauen von morgen, Menschen der im Evangelium verheißenen Zukunft. Zeugen der kommenden Welt.“

      Wer in die Krypta des Domes in Fulda hinabsteigt, begreift: ,Geschichte ist Geschichtetes'. Zeugnisse des Glaubens werden zum Fundament für neue Erfahrungen mit dem Evangelium, die sich aus bestandenen Herausforderungen bilden. Unser Glaube basiert auf Gewissheiten, für die Menschen vor uns einstehen.Wer sich an das Grab des heiligen Bonifatius begibt, begreift, dass seine Mission die Grundlage ist für ein Bekenntnis zu Jesus Christus und seiner Kirche in stürmischen Zeiten. Der Apostel der Deutschen schreibt in einem seiner Briefe: „Die Kirche, die wie ein großes Schiff auf dem Meer dieser Welt dahinfährt und von den verschiedenen Flutwellen der Versuchungen hin und her geworfen wird, dürfen wir nicht verlassen; wir müssen vielmehr das Steuer ergreifen und sie auf Kurs halten.“

      Die Kirche zur Zeit des Bonifatius war – wie wir heute – manchem Gegenwind ausgesetzt. Dieser große Missionar wusste darum, dass solche Zeiten immer beides beinhalten, die Versuchung, von Bord zu gehen, das Schiff treiben zu lassen, und die Gnade, die Gott gibt, wo Menschen treu bleiben.

      Auch in der Krise, die die Kirche heute zu bestehen hat, ist bei manchen Christen die Versuchung groß, auszutreten oder sich zurückzuziehen. Gerade in solchen Stürmen brauchen wir Menschen mit der Festigkeit von Felsen in der Brandung. Zu allen Zeiten beginnt die Erneuerung der Kirche mit Christen, die sich aus Leidenschaft und Liebe für die Sache Jesu, für seine Kirche, zu eigen machen, was der heilige Bonifatius schreibt: „Lasst uns nicht wie stumme Hunde sein, nicht wie Menschen, die nur zusehen und schweigen. Lasst uns nicht wie Mietlinge sein,die fliehen,wenn der Wolf kommt.“

      Nur wer bleibt, wird auch das andere erfahren: „Bedrängnis bewirkt Geduld, Geduld aber Bewährung und Bewährung Hoffnung“ (Röm 5,3–4). Diese Worte des Apostels Paulus sprechen an, wie Läuterung zu einer neuen Leidenschaft führt. Nicht zusehen, sondern hinsehen; nicht kritisieren, sondern engagieren;nicht lamentieren, sondern motivieren; diese Mentalität des heiligen Bonifatius zeigt, welchen Mut zur Mission die Kirche


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