Werte wahren - Gesellschaft gestalten. Franz-Peter Tebartz-van Elst

Werte wahren - Gesellschaft gestalten - Franz-Peter Tebartz-van Elst


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      In dem geschilderten Fall handelt es sich nicht um einen ,Sonderfall', den man bei der Frage nach der menschlichen Freiheit eigentlich ausschließen kann. Das Gegenteil ist der Fall: Entwickelt sich der Embryo doch nicht erst zum Menschen, sondern als Mensch. So wird gerade der Umgang mit diesem Beispiel gewissermaßen zur ,Nagelprobe' für die Wertegemeinschaft einer Gesellschaft. Es verdeutlicht das typisch menschliche Wesen unserer Freiheit. Wer dennoch nach absoluter Freiheit verlangt, der verkennt die Grundfigur menschlicher Existenz: Als Wesen der Gemeinschaft begrenzt sich unsere Freiheit am Für- und Mitsein der anderen. Dieses macht unser Miteinander-Sein gerade ,menschlich'.

      Der unbedingte Schutz des Lebens muss auch an den Grenzen und Schwächen des Alters und der Krankheit gelten.Wo sich das Leben in seiner womöglich größten Abhängigkeit zeigt, die mutmaßlich angesichts vormalig größerer Eigenständigkeit noch schmerzvoller ist, geht der Mensch seiner Freiheit und einzigartigen Würde nicht verlustig. (Vgl. dazu Kapitel 5/III.)

      Der hohe Wert, den das christliche Menschenbild jedem menschlichen Leben gegenüber (an-)erkennt, bleibt jeder Verfügbarkeit entzogen. Jedwede Grenzziehung wäre im Kern doch eine willkürliche Setzung, die sich in der Regel als utilitaristisch entlarven muss. Auch behindertes Leben ist ganz und gar lebenswert. Denn wo der ganze Mensch, als Geschöpf, vom Schöpfer gewollt, vor Augen ist, scheidet eine mehr oder weniger pauschale Einteilung des Lebens nach ,wert' oder ,unwert' ebenso aus wie eine (konsensual herbeigeführte) Taxierung seines,Wertes'.

      Es gibt einen entscheidenden Unterschied in der Gewichtung von Werten. Die moralische Pflicht des so genannten Embryonenschutzes steht deutlich über der moralischen Verantwortung, uns beispielsweise um neue Arbeitsplätze oder Wohlstand zu sorgen. So absolut klar und selbstverständlich dies für uns klingen mag, der genannte ,Vergleich' ist tatsächlich erst vor wenigen Jahren gezogen worden. „Wer [aber] gerade in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit dem Embryonenschutz über die Proklamation der Hoffnung auf neue Arbeitsplätze die gesellschaftliche und demokratische Grundlage entziehen will, handelt zutiefst gewissen-und verantwortungslos. Er vergeht sich damit langfristig am Rechtsbewusstsein der Menschen in unserem Land.“ 4

      Es ist die entscheidende ,Aufgabe' des christlichen Menschenbildes, ein wachsames und gleichermaßen entschiedenes Gespür dafür zu schaffen, wo sich derartige Schieflagen in unserer Gesellschaft entwickeln. (Vgl. dazu Kapitel 2/II.)

      Man sagt, dass die Wahrheit ,unbequem'ist. Die fast sprichwörtliche Wendung verweist darauf, dass die Konfrontation mit der Wirklichkeit wehtun kann, weil sie Defizite ungeschminkt vor Augen führt. Der Ansatz des Evangeliums klingt einladender: „(Dann) werdet Ihr die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch befreien“ (Joh 8,32). Diese Worte sprechen nicht weniger von der Konfrontation mit der Wirklichkeit, aber die Zielrichtung ist nicht die Entlarvung des Menschen und seiner Schwüchen, sondern die Motivation und Bewegung zu mehr Authentizität im Sinne einer größeren Moralität. Dabei geht es nicht um einen Moralismus, der den Menschen gängelt, sondern um das Anliegen Jesu, den Menschen in seiner Verantwortung für das ihm anvertraute Gut des Lebens zu einer größeren Einsicht, Wachsamkeit und Stimmigkeit zu führen.

      ,Wahrheit wollen' ergibt sich aus der Begegnung des Menschen mit seiner Berufung von Gott her. Es geht um den Horizont, den eine chassidische Geschichte in einer Ausführung von Martin Buber illustriert: „Rabbi Sussja von Anipoli pflegte auf seinen Wanderungen von Ort zu Ort den Menschen zu sagen: ,Ich fürchte mich nicht davor, keine Antwort zu finden, wenn ich nach meinem Tod vom Allmächtigen, dem höchsten Richter, gefragt werde: ,Sussja, warum warst du deinem Volk nicht ein so großer Führer wie Mose oder ein so feuriger Prophet wie Elija oder ein so berühmter Schriftgelehrter wie Rabbi Akiba?'. Aber ich fürchte, dass meine Worte verstummen, wenn ich gefragt werde: ,Sussja, warum bist du nicht Sussja geworden? Warum hast du dich entfernt von dem Bild, nach dem ich dich geschaffen? Warum bist du mit deinen Anlagen und deinen Gaben dir so fremd, so unähnlich geworden?'“ 5

      Der Weg zu einer Selbsterkenntnis als Frucht einer vertieften Gotteserkenntnis hat für Christen immer eine persönliche und gemeinschaftsbezogene Implikation.Aus der Werteorientierung im Glauben für eine Lebensführung, die dem Evangelium entspricht, erwachsen Offenheit und Verantwortung für das Gemeinwohl. Christlicher Glaube will die Persönlichkeit des Menschen als Geschöpf Gottes so prägen, dass Kultur, Gesellschaft, Wirtschaft und die ganze Schöpfung dadurch zu einem verlässlichen und verbindlichen Werteprofil finden. Die von Papst Benedikt XVI. In seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag am 22. September 2011 aufgezeigte „Ökologie des Menschen“6 setzt ein christliches Wertefundament voraus, das unter den säkularen Lebensbedingungen moderner Gesellschaften in seiner Glaubensqualität und Glaubwürdigkeit die persönliche Bezeugung und Vermittlung braucht. In diesem Zusammenhang wird zunehmend plausibel, was Frère Roger Schutz, der Begründer der Gemeinschaft von Taizè, als den ,Wahrheitstest' christlicher Prägung in säkularer Gesellschaft herausstellt: „Wir Christen sind das einzige Evangelium, das die Welt heute noch liest.“

      Im Kontext der Debatte um das für und Wider der christlichen Leitkultur in unserem Land schreibt der evangelische Exeget Klaus Berger im Magazin ,Focus', dass er es nicht für sinnvoll halte, von „einer (christlichen) religiösen Leitkultur zu sprechen.Was müssten dann in der Konsequenz die jeweils anderen tun? Müssen dann alle Muslime einen Weihnachtsbaum kaufen?“ 7

      Auch wenn sicher davon auszugehen ist, dass der Hinweis auf die Anschaffung weihnachtlichen Grüns nicht ganz ernst gemeint ist, geben die bisweilen heftigen Reaktionen in der genannten Debatte sehr zu denken. Es ist erstaunlich zu sehen,in welcher Schieflage sich unsere Gesellschaft und die in ihr geführte Debatte befinden, wenn das bloße Aufzählen der christlichen Beiträge zu unserer Kultur und die Nennung der im Verhältnis zwischen modernem Rechtsstaat und Islam ungeklärten Fragen so viel Gegenrede auslöst. Es wird jedoch gerade um des Evangeliums willen darauf ankommen, sich ausdrücklich als Christen an den Debatten zu beteiligen, bei denen es um die Zukunft Deutschlands und Europas und darin um die Bedeutung der monotheistischen Religionen geht. (Vgl. dazu Kapitel7/I.-III.)

      Der kulturelle Anspruch des Christentums in Europa leitet sich aus der Lebendigkeit seiner gesellschaftlichen Präsenz ab. So muss es erlaubt sein, auf fast 50 Millionen Menschen in Deutschland hinzuweisen, die sich jeden Monat neu entscheiden, einer der beiden großen Kirchen anzugehören, auch wenn es immer wieder Zeiten gibt, in denen nahezu alles,was in der öffentlichen Debatte zur Kirche gesagt wird, dagegen zu sprechen scheint. Es ist nur gerecht, auf das vielfältige caritative, soziale und liturgische Engagement hinzuweisen, das von den Gliedern des Volkes Gottes oft unbemerkt geleistet wird. (Vgl. dazu Kapitel 3/II. und Kapitel 4/III.)

      Es gibt in unserem Land keinen merkwürdigen Dualismus von Religion und Kultur – so als sei Religion ein unhistorischer Nucleus, der sich im Laufe der Geschichte in verschiedene Kulturen eingenistet hat. Das Christentum hat sich nicht die Substrate verschiedener Epochen der Geschichte zu eigen gemacht,es hat sie durchdrungen. Durch diese Dynamik eigener Art, die auch durch die Epoche der so genannten Aufklärung gegangen ist,haben sich Werte und gesellschaftliche Prinzipien in unserem Land ausgebildet. (Vgl.Kapitel 2/I.)

      Immer wieder sind Judentum, Christentum und Islam dazu aufgerufen, als monotheistische Religionen gemeinsam aufzutreten und sich für Gerechtigkeit in einer immer egoistischer werdenden Gesellschaft einzusetzen. Doch Würde man den Kern des christlichen Glaubens aufgeben, wenn man, um eines faulen Friedens zwischen den Religionen willen, die zentralen Glaubenswahrheiten verschweigt:Gottessohnschaft Jesu, Dreifaltigkeit, Sühnetod am Kreuz ... Ein möglicher Grund für die Zurückhaltung, zustimmend von der christlichen Kultur zu sprechen, mag darin liegen, dass diese lange verschwiegen wurde oder als zu schwierig und nicht zumutbar kleingeredet wurde.

      Es muss entschieden widersprochen werden, wo es zu der Tendenz kommt, die Dreifaltigkeit Gottes und den Kreuzestod Jesu Christi umzudeuten. An den ,Fundamenten des Glaubens' sind Kompromisse und falsch verstandene Toleranz fehl am Platz. Hier sind Zeugnis und Bekenntnis gefordert. Christen sind der Gesellschaft das Zeugnis schuldig, dass Gott selbst Mensch wurde, unter uns wohnte und für unsere Sünden gestorben ist. Im Dialog


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