Zinnobertod. Reinhard Lehmann

Zinnobertod - Reinhard Lehmann


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eben darum. Sag, verlangt eure Religion nicht das friedliche Miteinander, um Gott zu erleben?«

      »Korrekt! Onkel zählte zu den gern gesehenen Menschen. Ich achte ihn wegen der streitbaren Verwirklichung seiner Glaubensvorstellung«, warf er Jürgen einen Blick zu. »Ist ein zu vollendetes Ebenbild unseres Herrn. Bitte akzeptiere, das gehört hier nicht her. Sonst klingt das wie ein Schuldbekenntnis.«

      »Oh, solcherart Einsichten sind okay. Das vereinfacht meinen Job. Gibt mir obendrein die erste Richtung vor. Ich beabsichtige auf jeden Fall, mit Ihrer Verwandten zu sprechen. Begleitet mich einer der Anwesenden? Sie, der Cousin?«

      Minuten nach diesen Turbulenzen zerstreute sich die Runde.

      »Herr Lorenz, einen Moment bitte. Ich habe Ihren Besuch genossen. Mein Sekretariat hat im Berghotel auf dem Hexentanzplatz ein Zimmer reservieren lassen. Passt das?«

      »Danke, Bürgermeister. Eine prima Idee. Der Job hier ist bald erledigt. Ich sorge für die Aufhebung der Absperrung an der Teufelsbrücke. An Spuren ist da nichts Neues zu holen. Zum Schluss ein Gedanke außer der Reihe.«

      »Bitte, gern. Ich kann mir denken, worauf Sie anspielen«, sagte das Stadtoberhaupt einnehmend lächelnd.

      »Hmm, tja, damit ist alles gesagt. Eine hochinteressante Diskussion, die sich hier am Tisch bot. Sie verfügen über mitdenkendes Personal. Herzlichen Glückwunsch!«

      »Danke! Die Stadt lebt vom Engagement ihrer Bewohner. Differenzstandpunkte zu verkraften ist Teil meines Jobs. Das trifft auf uns beide zu. Rufen Sie mich an, jederzeit, wenn Gesprächsbedarf besteht. Ich habe Herrn Feist gebeten, Sie zu begleiten. Er wartet vor dem Rathaus. Die Cousine war Ihr Ziel. Oder haben Sie Ihre Absicht geändert?«

      »Oh ja, fleißige Raben sehen Sie in der Gestalt des lobenswerten Menschen«, erklärte sich Wilhelm Feist.

      »Göttlich, Sie an meiner Seite zu wissen. Steigen Sie ein. Wohin führt die Reise?«

      »Unser Ziel ist der Nachbarort. Ein altes Bauerngehöft. Sie werden staunen. Die Besitzer haben ihrer Fantasie freien Lauf gelassen. Meine Cousine wohnt dort. Sie ist ledig, die Eltern bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Ich habe ihr geholfen, von Gottes Pfad nicht abzuweichen.«

      »Danke! Ich beabsichtige nicht, die Beständigkeit zur Religion zu prüfen. Für mich ist es bedeutsam, dass von der Person die Meldung zum Verschwinden eines Menschen ausging. Eine Pflicht, die Ihnen ebenfalls oblag. Der vielgerühmte Wanderführer trägt den gleichen Nachnamen. Verbirgt sich dahinter nicht eine ausgedehnte Verwandtschaft?«

      »Das stimmt. Allerdings sah ich anfangs keinen Grund zum Handeln. Zudem fand ich sein Verschwinden auch nicht besorgniserregend. Nachdem ich mit anderen Mitgliedern des Harzklubs gesprochen hatte, beschlossen wir, einfach abzuwarten. Eines Tages fehlte der redegewandte Rentner. Der Felsen auf der Rosstrappe blieb leer. Erste Anfragen von Urlaubern trudelten bei der Stadtverwaltung ein. Die Touristen sehnten sich nach den Geschichten des sagenumwobenen Mythenführers. Vergebens! Kein Problem, um zu hinterfragen. Erich hatte sich öfters zurückgezogen. Der Grund: Meditation. Ich sah ihn oftmals wochenlang nicht. Fragen Sie nachher seine Enkelin. Die klärt das auf.«

      »Wir sprechen von Evelyn Feist? Mensch Wilhelm, ich habe keine Lust, Ihnen alles aus der Nase zu ziehen. Erzählen Sie. Wer ist sie in Wirklichkeit? Lassen Sie die Kuh vom Eis. Wieso spüre ich Anspannung in Ihren Worten?«

      »Verzeihung! Ich versuch´s, fange von vorn an. Sie arbeitet freiberuflich, ist Kunsthandwerkerin. Töpferwaren mit ausgeprägten Farbnuancen stehen ganz ober auf der Beliebtheitsskala. Auf den Wochenmärkten im Harz ist sie oft anzutreffen. Sie begegnen ihr gleich auf dem Wirtschaftshof ihrer Oma.«

      »Ist ein Wort. Okay! Ihr Gesicht, Wilhelm. Es ist blass. Gibt es Spannungen, von denen Sie mir nichts erzählt haben?«

      »Nein, nicht, wie Sie es erwarten. Ich versuche, Ihnen klarzumachen, dass es besser für Sie wäre, meine Worte zu verinnerlichen. Die Hofbesitzerin ist eine ehrbare Person. Hatten Sie im Leben je die Möglichkeit, einem religiösen Oberhaupt zu begegnen? Höre ich ein Nein?« Er lachte verhalten. »Entschuldigung, ich habe die Antwort vorweggenommen. Das ist die Älteste. Sie steht in der Hierarchie der Gläubiger an erster Stelle. Hinzu kommt der geheimnisumwitterte Ruf einer Wahrsagerin. Mit ihren 86 Jahren ist sie ein wahres Leuchtfeuer. Ihre Passion, die Malerei, erwähne ich nebenbei. Herr Lorenz, ich bin ihr Neffe. Der Familienzusammenhalt ist uns heilig. Machen Sie sich selber ein Bild. Ansonsten treffen wir gleich mit meiner Cousine zusammen. Fragen sind ja erlaubt. Sie bewohnt ein alle Annehmlichkeiten bietendes Appartement innerhalb des Anwesens.«

      »Ja. Verstehe. Um die Sache abzukürzen, halte ich für mich fest: Ihre Cousine genießt die Geborgenheit einer intakten Familie. Sie lebt nicht im Nirgendwo.«

      »Okay. Dem stimme ich zu. Ihr Verhältnis zum Opa ist logischerweise anders zu bewerten. Ich habe mehr Abstand.«

      »Weil? Gibt es dafür eine Erklärung? Das klingt ein wenig nach einem angespannten Verhältnis zwischen Ihnen.«

      »Gott hat Kenntnis, dass mein Onkel in einer schweren Vergangenheit gefangen war. Dies hat ihn vom Weg angebracht. Bitte, ich beabsichtige nicht, vorzugreifen. Eines ist sicher, persönliche Befindlichkeiten schaffen Befangenheit. Das ist der Stimme Gottes unwürdig.«

      »Klingt logisch. Obwohl dem ein Stück Überzeugung fehlt. Eines spricht für Sie. Es ist eine gewisse Portion an Talent, Menschen zu beschwatzen.«

      »Hmm, ist nicht grade ein Kompliment, Herr Lorenz. Ist es nicht legitim, sein Wissen erst freizugeben, wenn keine Gefahr droht? Meine Gefühlswelt mag Ihnen sicher etwas sonderbar vorkommen. Die Bibel zu lesen ist die eine Seite, deren Gebote zu befolgen eine andere. Zumindest gibt es jede Menge weiterer Ebenen, die Genuss versprechen. Graben Sie an der Stelle und mein Onkel verliert den Strahlenkranz der Lichtgestalt. Die Familie, vergessen Sie niemals deren Einfluss.«

      »Oha, ich bin im Begriff, das zu unterschätzen. Ist nicht meine Absicht. Herr Feist, ich frage Sie mit aller Deutlichkeit. Weshalb fahren wir zur Hofanlage? Weil dort Ihre Cousine wohnt? Nein, Sie verheimlichen mir was. Für mich ist sie eine Zeugin. Die Vorladung zur Polizei wäre der bequemere Weg.«

      »Ihr Problem! Ich helfe Ihnen auf die Sprünge.«

      »Nein, danke! Ergo, worum geht’s? Ich meine, hat Ihre Cousine Andeutungen gemacht? Wieso bringen Sie die Familie ins Spiel?«

      »Herr Lorenz, das überlasse ich Ihrem kriminalistischen Feingefühl. Erich hatte vor langer Zeit die Fähigkeit verloren, Sprachrohr Gottes zu sein. Die Gruppe hat sich von ihm abgewandt. Jene Achtung, die sie früher brüderlich miteinander verband, ist in Wut, Hass und Spott umgeschlagen.«

      »Ja, ist eine verrückte Sache. Sie gehören ebenfalls diesem Kreis an«, sagte Lorenz zur Bestätigung nickend. »Vorschlag! Alles ist in Ordnung. Die Vergangenheit ist vorbei. Die Zukunft bietet einen vielversprechenden neuen Ansatz. Sehen Sie in mir eine Art Steuermann. Das entlastet Sie, großspurig zu tönen.«

      »Da verkneife ich mir lieber das Lachen. Verzeihung, Herr Lorenz, wonach suchen Sie denn auf dem Hof? Welche Erkenntnis erhoffen Sie sich?«

      »Jawohl! In erster Instanz nach der Dame, die eine Vermisstenanzeige aufgab. In Ihrem vertrauten Umfeld. Und, wie sich herausstellte, zu einer Person mit gleichem Familiennamen. Wie Sie, Wilhelm Feist. Mit dem Unterschied, dass er nicht redet. Sie dafür umso mehr. Erstaunlich, wie Sie ihn in den Himmel gehoben haben. Ich habe das nicht rasch genug verarbeitet, weil der Held Sekunden später ein Abtrünniger ist. Für mich ergibt sich da die genialste Aussicht auf eine bemerkenswerte Persönlichkeit.« Seine Stimme überschlug sich. »Ich vermute, der Ort kann uns einiges an Aufschluss verschaffen und helfen, den Tod aufzuspüren.«

      In Bruchteilen von Sekunden durchfuhr Wilhelm ein eiskalter Schauer. Er reagierte verhalten. »Hmm, schwer zu sagen. Unser Gott ist unermesslich. Auf jeden Fall begegnen Sie überlegenen Ereignissen.«

      Für sein unüberlegtes Herauspoltern ohrfeigte er sich innerlich. Üppig darüber zu reden, bringt Unglück. Halte Dich zurück, entsprach da eher den tausend Variablen für ein solches


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