Zinnobertod. Reinhard Lehmann

Zinnobertod - Reinhard Lehmann


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ist. Ich rieche das. Die Lage im Harzvorland ist angespannt. Sie sind der Joker. Ach, ein winziges Detail wäre in dem Zusammenhang zu beachten.«

      Er hob den Kopf, sah den KOK mit zusammengekniffenen Lippen an. Die öffnete er schlagartig, um ernüchternde Worte preiszugeben.

      »Mensch Lorenz, passen Sie gefälligst auf sich auf! Keine Eigenmächtigkeiten! Disziplin! Gott behüte. Verkacken Sie das nicht. Für den Jahresabschluss der polizeilichen Kriminalstatistik brauche ich aufgeklärte Fälle. Ein solcher Fund ist nicht nützlich für das Tourismusgeschäft der Harzstadt. Mein Rat, spannen Sie den Bürgermeister mit seinem Team in die Datensammlung ein. Irgendeiner hat garantiert was bemerkt. Die Stadt quillt ja über mit potentiellen Nachrichtenträgern.«

      »Reden wir von den steigenden Touristenzahlen?«

      »Was denn sonst, Lorenz. Mahlzeit, wenn die Medien Beute wittern. Es reicht, dass der Torso mitten in der Urlaubshochzeit zufällig zum Vorschein kam.«

      »Chef, Sie haben da Details weggelassen.«

      »Was? Quatschen Sie nicht rum!«, brauste der auf. »Sagte ich ja. Begeben Sie sich zu den Kollegen vor Ort. Schauen Sie, ob es da irgendwelche Verbindungen zum Vermissten gibt. Eine Menge treuer Anhänger verehren die gesuchte Person. Lassen Sie sich das vernünftig erklären. Denkbar ist alles. Nachrangig ein möglicher Bezug zum Fund in der Bode.«

      »Hmm, wenn Sie meinen. Ich bin voll dabei«, erklärte sich Lorenz, um sofort nachzuschieben. »Rein hypothetisch betrachtet. Mir sind viele Tote bei den Ermittlungen in den Jahren begegnet. Die schmoren in der Vergangenheit. Ich dagegen kümmere mich um das Heute und die Zukunft.«

      »Prima! Na das passt bestens in meine Überlegungen hinein. Schätzen Sie sich glücklich und freuen Sie sich, dass ich Sie nicht mit einem nackten Befehl abgespeist habe. Ihr Verständnis ist gefragt. Ich brauche jemanden mit eisernem Kalkül. Um Ihnen mehr Informationen zu liefern, hieße das, in die Trickkiste zu greifen. Funktioniert leider nicht. Erledigen Sie das vor Ort, oder bleibt das am Chef des Amtes hängen?«

      »Blödsinn, ist das ein Test? Herr Kriminaloberrat, Sie foppen mich. Die Aufgabe ist eindeutig. Erklären Sie mir die Vorgehensweise in Kurzform. Das reicht. Zufrieden?«

      »Ich glaube ja. Das ist eine schlitzohrige Antwort. Hmm, Sie wissen es besser. Ohne Frage mit versöhnlicher Absicht. Passt haargenau in das Klischee eines Spitzenbeamten. Bissig, mit blitzschneller Reaktion.« Er grinste. Sein Blick traf den von Lorenz. Mitleidserfüllt. Glasig. Aufgewühlt von einem harten Disput. »Habe gehört, das hilft, die Aversion gegen Glaubensfanatiker abzulegen.«

      »Oh je, das ist zutiefst konkret. Vorschlag, wir kommen wieder runter vom hohen Ross. Sie sind mein Chef, geben die Befehle. Ergo, keine Sorge. Sie investieren in einen Profi mit Hungergehalt«, sagte er mit beißendem Spott auf der Zunge. Dafür erntete er einen fragenden Blick. »Das wüsste ich. Lorenz, erst der Job. Die Lobhudelei folgt. In dieser Reihenfolge. Haben Sie das begriffen? Abtreten!«

      Eine Stunde später jagte ein eisiger Schauer über die Haut. Sein Handy schaltete sich per Freisprechanlage im PKW zu. »Hier ist das Sekretariat der Stadtverwaltung. Sie sind Oberkommissar Lorenz?«

      »Korrekt, der bin ich!«

      »Na Gott sei Dank. Es dreht sich um den Fund menschlicher Skelettreste in der Bode. Ich verbinde Sie mit dem Bürgermeister.«

      Seine Konzentration galt in dieser Sekunde unwiderruflich dem Anrufer. Obendrein hatte er eine geistige Notiz parat. Volltreffer! Das traf den Nerv des Stadtpolitikers. Der ursprüngliche Erregungszustand verblasste im Nu. Ein Funke von Sympathie sprang über.

      »Herr Bürgermeister, wir sind beide einer Meinung. Hier steht eindeutig eine Menge auf dem Spiel. Ob Unfall, Totschlag oder Mord, es gibt ein Ergebnis, garantiert. Ich verbürge mich dafür. Es stimmt, die Umstände sind kurios.«

      »Einzig aus diesem Grund befeuern sie kontroverse Diskussionen. Ein menschliches Skelett ohne Kopf in der Bode, das ist ein äußerst schreckliches Ereignis. Herr Lorenz, das Image der Stadt leidet. Degradiert da jemand den Tourismus in unserer Harzregion zu einem Tal der Tränen? Haben wir ein ernsthaftes Problem? Bitte, lassen Sie mich Ihnen helfen. Wir reden bei mir am Tisch darüber. Ich habe Verstärkung hinzugezogen. Das versetzt Sie garantiert in Erstaunen. Bei dieser Gelegenheit: Negativschlagzeilen verabscheue ich. Sie ebenfalls, meinte Ihr Vorgesetzter. Seien Sie nicht zimperlich«, gab er telefonisch mit auf den Weg. »Und, passt das? Im Übrigen, Sie fahren ja in ein Urlauberparadies«, folgte mit einem vernehmbaren Lachen. »Spaß beiseite. Kundige Kriminalisten besuchen uns nicht jeden Tag. Mein Vorschlag: Lernen Sie den Brunnen der Weisheit kennen. Das dient den Ermittlungen. Wo wir schon mal dabei sind, der Weg zu mir führt unmittelbar daran vorbei. Ein ehrenamtlicher Mitarbeiter vom Harzklub erwartet Sie. Wann treffen Sie ein?«

      »In einer Stunde, sagt zumindest das Navigationssystem.«

      »Bestens, Herr Lorenz. Konzentrieren Sie sich auf das Café gegenüber dem Rathaus. Ist nicht zu verfehlen. Parkmöglichkeiten finden Sie in der angrenzenden Einkaufspassage.«

      »Danke, ich komme klar. Sie kennenzulernen, ist mir eine Ehre«, brummte er zufrieden und drückte das Gespräch weg. Es gab nichts mehr zu sagen. Zurück blieb der Gedanke an die unzureichende Vorbereitung. Dem Termin fuhr er buchstäblich blind entgegen. Mit Wissenslücken aufzukreuzen, gefiel ihm absolut nicht. »Scheiße, die werfen mich in aller Ruhe in eine Sache rein, die mir unter Umständen das Genick bricht«, murmelte er mit Blick auf den Straßenverkehr. Die bloße Erkenntnis, dass der Harzklub mit dem Zweigverein der Stadt enormen Druck auf den Stadtvater ausübte, drängte sich im Gedächtnis nach vorn. Ein bis dahin unbekannter Fakt verblieb. Der Vermisste hatte engen Kontakt zum Verein. Da blieb die Frage offen, wieso sein Verschwinden nicht auffiel. Keine Anzeige bei der Polizei. Und ebenfalls keine Nachfragen im Bekanntenkreis. Einzig die Enkelin reagierte. Für sie war ihr Opa nicht nur ein Teil der Familie, sondern ein Geschichtenerzähler, stetig vermittelnd, um Zusammenhalt der Menschen bemüht. Klar zählte er zu den prominenten Wanderführern in der Region. War ein meisterhafter Kenner der germanischen Mythologie in der Harzer Sagenwelt. Darauf aus, nicht auf der Erde, sondern problemlos über Meere und sogar auf den Wolken zu reiten. Wie Sleipnir, das gewaltige Schlachtross, Wotans achtbeiniges Zauberpferd? War es denkbar, dass sich hier jemand verbarg, der den Zorn Andersgläubiger auf sich zog? Züngelte da ein Glaubenskrieg? Für Lorenz blieb das weitestgehend unbeantwortet. Die Frage drängte nach einer Lösung. Ungestüm, jeden Kilometer anmahnend, den der Passat auf dem Weg in die Harzstadt zurücklegte. Wie gefährlich war ein Skelett? Oder der vermisste Wanderführer? Für die Öffentlichkeit offenbarte sich mit dieser Person jemand, der in den Sommermonaten die Walpurgisnacht mit der Götterdämmerung den Zuhörern nahebrachte. Ein Künstler, in der Lage, die großflächigen Wandgemälde an der Seitenfassade eines Hauses inmitten der Stadt zum Leben zu erwecken. Ein Meisterredner, der die Mythologie zur Werbemasse erkor, um die Lobpreisung seiner Gottesansichten mit dem Einzug ins Paradies zu verweben. Die verhieß Rettung vor dem grausamen Tod. Eine Botschaft, die den sensationshungrigen Harztouristen zeitweise ein bloßes, primitives Lächeln entrang. Fragmente an Daten, die er dem flüchtigen Stöbern in einem dünnen Ordner entnahm.

      »Hier lesen Sie das. Der Rest obliegt Ihrer Intelligenz. Und vergessen Sie nicht, Sie sind im Augenblick meine einzige scharfe Klinge. Mit dem Status des Sonderermittlers verfügen Sie über ausreichende Kompetenzen. Fragen Sie nicht, handeln Sie!«

      Erst auf dem Parkplatz, im Auto sitzend, sammelten sich die einzelnen Bilder. Die Zigarettenlänge brachte Klarheit. Unterm Strich hing da eine banale Begebenheit dran. Zwei furchtbar nüchterne Fakten. Ein teilskelettierter menschlicher Körper ohne Kopf und eine Vermisstenanzeige. Alles eingepackt in den Bericht der Kollegen von der Polizeidirektion. Mehr Fragen, keine Antworten. Was stimmte daran nicht?

      Am Zielort eingetroffen, schwächelte er. Der heiße Augusttag trieb unnachgiebig den Schweiß auf die Haut.

      »Mir ist übel«, murmelte er. Das hielt ihn nicht davon ab, sich die nächste Zigarette anzuzünden. Verständlicherweise draußen unter dem Sonnendach des Eiscafés am Rathausplatz. Den Rauch von vierzig Stück hatte er lange im Vorfeld inhaliert. Im Moment vertrieben die Glimmstängel die Wartezeit


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