Zinnobertod. Reinhard Lehmann

Zinnobertod - Reinhard Lehmann


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der Tatortermittler, begreift zu langsam diese Macht. Zu spät erkennt er die Absicht einer Tätergruppe, künstlerisch visualisierte Skulpturen der Harzer Sagenwelt für ihre Zwecke zu missbrauchen. Seine öffentliche Demütigung und die der Polizei war lange geplant. Vom Wahn getriebene Auftraggeber haben Killer rekrutiert. Die kennen sich bestens mit den Geschichten rund um das Felsplateau des Hexentanzplatzes und der Rosstrappe aus. Sie erzählen von einer geheimnisumwobenen Welt der Hexen und Teufel im Harz. Das sind Kultstätten, die der Huldigung jener Fabelfiguren dienten. Einen solchen Platz wählen sie aus, um Lorenz hier den Geschmack des Todes wahrnehmen zu lassen.

      Er erfährt, wie religiöse Rituale Zwietracht säen und in Feindschaft enden. Diese Art der Einflussnahme ist eine neue Erfahrung. Es ist eine gezielte Form der Manipulation des Bewusstseins und der Willensstärke.

      Bald kommt er dubiosen Geheimnissen auf die Spur. Dabei nutzte er geschickt die Zuneigung der Enkelin des Vermissten. Solche Verbindungen sind ihr verboten. Der religiöse Glaube verbietet den Kontakt zu Personen außerhalb der Gemeinschaft. Es bleibt nicht aus, dass der Intimkontakt unbekannte Schergen in Position bringt: Feinde. Die greifen ohne Vorwarnung an. Sie überwältigen ihn auf dem Bergplateau Hexentanzplatz. Die vermummten Kreaturen fixieren ihn mit Gewebeband an eine der mannsgroßen Fabelskulpturen aus Bronze. Das Mischwesen mit dem hochglanzpolierten Hintern erfüllt seine Aufgabe vorbildlich. Die heißt Demütigung in der Öffentlichkeit. In skandalöser Machart pressen sie sein Gesicht in die Falte des polierten Bronzehinterns. Hautnah drängt sich ihm bis heute der Geschmack des Blutes mit dem Metall aus der Verbindung von Kupfer mit Zinn im Mund auf. In blinder Wut über das eigene Versagen schiebt er alle Vorsicht zurück. Da passiert es. Seine Peiniger schlagen wieder zu. Lorenz setzen sie in einem Verlies unermesslichen Folterqualen aus. Er entkommt schwer verletzt mit knapper Not.

      Ab dem Moment ändert sich die Lage. Die Schlinge um potentielle Täter zieht sich langsam zu. Sie erhellen zugleich Ereignisse in einer finsteren Vergangenheit, die in der Gegenwart weiterhin Zwietracht säen. Das ist eine Geschichte, die der religiösen Familie des Vermissten eine schwere Bürde auferlegt. Es war die Brandmarkung, Werwolf und Nazi zu sein. Verleumdung brachte einem engen Verwandten den grausamen, ungesühnten Tod im russischen Gulag. Wieder ist es ein Mitglied der Familie, das Jahrzehnte später sein Leben verliert. Lorenz erhält Kenntnis vom spektakulärsten Selbstmord in der Geschichte der Harzer Eisenmetallurgie. Es ist ein chancenloser Todessprung, der dem ehemaligen Stahlwerk am Rand der Stadt Thale zu keiner Ehre gereicht. Fakt ist, dass die Gießpfanne mit 1625 Grad Celsius brodelndem Stahl einer ungeborenen Tochter den Vati entreißt. Sie ist heute eine erwachsene Unternehmerin, mit der Lorenz eine Liebschaft in Gang setzte. Der Überlebenskampf schritt voran. Von ihm fordert er, Klarheit in sein Intimleben zu bringen. Gleichzeitig wuchs die Enttäuschung mit. Alles deutete darauf hin, dass sie ihren Kundenkreis in akute Gefahr brachte. Kekse aus der Herstellung in ihrer Manufaktur wiesen Spuren eines Nervengiftes auf. Das ist Quecksilbersulfid, auch Zinnober genannt. Ein Farbpigment zur speziellen Verwendung bei der Produktion von Keksdosen.

      Die Lösung zur Offenlegung des Verursachers ist verblüffend. Sie führt ins Herz der Sekte. In deren Verlauf gelingt es Lorenz, ein Komplott aufzudecken. Die Verbrecher sind alle entlarvt. Dabei sieht Zufriedenheit anders aus.

      Nichts deutete auf jene grauenerregenden Ereignisse hin, welche die friedliche Idylle der Kleinstadt bald darauf zunichtemachen würde. Am Anfang der schrecklichen Welle von Zerstörung menschlichen Lebens standen dreizehn Buchstaben: Teufelsbrücke! Mittendrin der Teufelskopf mit zwei gebogenen Hörnern auf der Stirn. Klar, dass damit die Neugier des zehnjährigen Jungen explodierte. Er stürzte auf die schnörklige, überdimensionale, schwarze Schrift zu. Sie prangte auf dem die Brücke überspannenden Bogen. Mit seinem kindlichen Gemüt erkannte er nichts von der Gefahr, die voraus bestand. Den Schriftzug entzifferte er wegen der vergnüglichen Ungeduld mit Mühe. Nahe der Gruppe zu bleiben, verschwamm das mahnende Wort der Mama.

      »Sieh«, rief er aus voller Kehle, um die entfesselte Energie lebhaft mit den Händen zu bekräftigen. Die leibliche Mutter verharrte zwanzig Meter vor ihm auf dem Wanderweg. Sie hörte den Ruf nicht.

      Das tosende Wasser unter der Brücke erlaubte keine Kommunikation. Mit Handzeichen bedeutete sie ihm, zurückzukommen. Vergebens! Die inspirierende Kraft der Maske hatte endgültig das Interesse des Kindes geweckt. Anfassen um alles in der Welt, darauf war er erpicht. Wie? Das blieb unbeantwortet. Er war ein Bürschchen im Wachstum. Das Ziel weit über den ausgestreckten Händen. Unerreichbar, im ersten Moment. Nicht dafür, einen blitzschnellen Entschluss zu fassen.

      Das Teufelsgesicht präsentierte sein verheißungsvolles Lachen. Es begleitete den Sturz des Jungen in die Tiefe. Das doppeldeutige Grinsen war, äußerlich betrachtet, des Teufels Lohn. Es flankierte den Burschen den Weg über die Brückenbrüstung hinaus.

      Der markerschütternde Schrei, die Ohnmacht der Untätigkeit, der Schock des Ereignisses zeigten sich omnipräsent. Aus der Gruppe setzten Gestalten zu einem Endspurt an. Zu spät.

      Der Körper trieb flussabwärts. Der schlauchartige, felsige Talabschnitt gab den Wassermassen genügend Speed. Zig Meter unterhalb der Brücke bremsten Felsbrocken die Irrfahrt, um dadurch die Bergung des Jungen zu erlauben. Glück im Unglück. Ab sofort galt der Kampf der abrupt abflauenden Lebensenergie. Ersthelfer aus der Wandergruppe pressten den Tod aus dem geschundenen Oberkörper.

      »Der Junge übersteht es«, erklärte der eine halbe Stunde später eintreffende Notarzt. »Ohne Wiederbelebung wäre der Tod eingetreten. Sie haben das Richtige unternommen. Keine Sorge. Die Verletzungen verheilen zügig.«

      Er hatte es kaum ausgesprochen, da überschlugen sich die Ereignisse. Das Team des Bergrettungsdienstes erlebte Minuten nach dem Abtransport des Kindes eine unheilvolle Überraschung. Knapp neben der Bergeposition des Jungen offenbarte sich ein grausiger Fund. Ein teilskelettierter menschlicher Körper ohne Kopf, eingehüllt in Kleidungsfetzen, forderte neue Aufmerksamkeit. In dem Moment wandelte sich der urige Platz rund um die Teufelsbrücke zum medienwirksamen Tatort.

      Frust begleitete Benno Lorenz. »Verdammt, warum ich? Das ist eine Beleidigung für jeden alten Hasen im Amt«, hielt er dem Chef vom Dezernat 25 im LKA entgegen.

      »Bleiben Sie cool«, erwiderte der grinsend.

      »Oberkommissar, Sie sind ein ausgebuffter Draufgänger. Einer der besten Tatortermittler. Ich setze auf Sie! Zum abschließenden Verständnis: Ziehen Sie den Job nach eigenem Ermessen durch.«

      Dies traf den Ehrgeiz des ambitionierten Einzelkämpfers. Er war hundertprozentig die Sorte Mensch, auf den das zu seiner Person erstellte psychologische Profil zutraf.

      »Für Sie ein Routinejob«, rundete die Sache ab. Die Beschwichtigung half. Lorenz presste mit den Zähnen knirschend seine Zustimmung heraus.

      »Okay, auf mich ist Verlass. Was gibt es zu klären, Chef?«

      Der nickte bestimmend. »Ich schicke Sie in den Harz. Urlaubsvertretung, ab sofort, Oberkommissar! Ein teilskelettierter menschlicher Körper ohne Kopf hat gigantische Wellen geschlagen. Meine Erwartung ist, dass Sie den Vorgang in der Stadt der Mythen schnellstens abschließen.«

      »Habe ich Unterstützung vom Revierkriminaldienst im Harz?«

      »Dem Grunde nach, ja. Bitte, ich brauche vor Ort einen ausgebufften Beamten. Ergreifen Sie die Chance. Ihre Beförderung, steht die nicht an? Na ja, egal, Sie sind dran. Und, es tut mir leid, Lorenz, wegen der unpräzisen Aussage«, sagte der Kriminaloberrat gedämpft. »Sehen Sie es wie ein Trostpflaster. Der Einsatz stimmt die Kollegen garantiert positiv.«

      »Wenn Gott nichts anderes im Schilde führt. Okay, Skelettfragmente ohne Kopf werfen eine Menge Fragen auf.«

      »Sicher, Lorenz! Ihr Job besteht darin, Licht in die Sache zu bringen. Wo ist das Problem? Ich sehe keines. Verlieren Sie sich im Fulltimejob, vierundzwanzig Stunden. Kommen Sie mit Fakten zurück. Ich beabsichtige, den Fall schnellstens abzuhaken. Begreifen Sie das?«

      »Ja!«,


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