Zinnobertod. Reinhard Lehmann

Zinnobertod - Reinhard Lehmann


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Hierzu zählte, den nach den Regeln der Behörde, soweit außer Frage realisierbar, mit eigenen Abläufen zu durchsetzen. Bisher funktionierte das ausgezeichnet. Er stammte aus einem Elternhaus mit geringem Einkommen. In kurzer Zeit lernte er, sich durchzuboxen. Dieses Vermächtnis investierte Lorenz in den Aufbau einer rundweg eindrucksvollen Karriere. Die kam zwar vorwärts, schob dagegen den krönenden Abschluss im gehobenen Dienst der Kriminalpolizei vor sich hin. Um zwei Stufen die Leiter hinaufzufallen, erlaubte das Amt. Das Band tiefer Befriedigung litt streckenweise darunter. Ausgepowert durch ein vom Personal ausgelaugtes Landeskriminalamt, Engpässen bei der Beförderung einschließlich der Vergütung bedurfte es Beamten wie ihn.

      Der fliegende Atem mit einem klopfenden Puls verzog sich beim Betreten des Raumes schlagartig. Rasch fand er zu dem stetig gleichen Rhythmus, der für die Bekundung ernsthaft gesetzter Absichten zuständig war. Das betraf ebenfalls, die Peinlichkeit des Auftritts bewusst hinzunehmen. Unrasiert, Zigarettenrauch verbreitend, mit zerknitterten Klamotten bot er nicht den besten Anblick. Das scherte ihn mehr am Rande. Von all dem vermutete die Person hinter dem Schreibtisch nichts. Er war der geschmeidig-protzige Chef. Ein Gigant mit Befehlsgewalt über die Abteilung 2, zu der das Dezernat 25 mit der Tatortgruppe gehörte. Dem ordnete sich Lorenz generell unter. Egal, was da auf ihn zukam. Wie das ausging, stand nicht zur Debatte. All die unterschwelligen Gedanken störten den Beamten nicht im Geringsten.

      »Ich brauche Sie für einen Sondereinsatz«, brach die Anspannung endgültig. Alle Anzeichen, wieder einen Ranzer zu kassieren, verschwanden.

      »Also hab ich nichts falsch angepackt«, verzog sich im Sekundenbruchteil. Dabei lag die Ausrede im Hinterstübchen parat. Sein Verhältnis mit der Cyberspezialistin gehörte nicht zum Themenkreis. Das war ein Privatproblem, nicht das der Polizei. Na ja, für tiefgründige Gespräche über den Job blieb bisher keine Zeit. Die paar Stunden zwischendurch galten dem Vergnügen. Das war die einzig richtige Verständigungsbasis. Den Versuch, eine Vorstellung von dem zu erhalten, was ihn erwartete, winkte er im tiefsten Inneren ab. Hängen blieben da gegebenenfalls die Abende in den Kneipen, die 120 Zigaretten pro Tag, die schmuddelige zivile Kleidung. Der Drang nach dem Kick, zu kitzlige Fälle zu bearbeiten.

      »Ich werde meine Haut gepfeffert verkaufen«, schob den Frust über den Ausfall der geplanten paar Tage Urlaub auf dem Darß in die Ferne. »Seifenblasen zerplatzen. Waren sie nicht dafür da? Und hatten sie nicht mit ihrem Glanz eine Aufgabe erfüllt, um dann ungeschminkt Wahrheiten zu verkünden?« Simone blieb der leibhaftige, rühmenswerte Engel mit den schwarzen Haaren. Der Geschmack ihrer Haut lag anhaltend auf der Zunge. Er trug ihn mit hinein zum Chef, um zumindest daraus für den heutigen Tag Hoffnung zu schöpfen. Gedanken für die Ewigkeit, die er in höchstem Maße verinnerlichte. »Keine Angst, wir geben uns einander hin. Täglich, zwischendurch, mit sportlicher Note. Ich bin dein Preis. Geh in dich. Der Job hat Priorität, sei wachsam!«, verlor sich in Anbetracht der Aufforderung, sich zu setzen.

      Wer von der Obrigkeit dafür ein Auge hatte, entzog sich ihm. Weil sich an dem nichts ändern ließ, erwiesen sich jegliche fieberhaften Überlegungen als unnütz. Hier drehte sich alles um Disziplin. Das Gefühl, Großes zu bewirken, stimmte ihn beschwingt. Intern zählte er zu den leistungsstarken Gutmenschen mit Visionen, die in der Lage waren, einen Riecher für Erfolg zu generieren. Den Spannungsbogen zwischen privatem und dienstlichem Engagement hatte er lange vorher für sich geklärt. Verbrechen Einhalt zu gebieten, ein Anspruch, den er täglich bereit war, anzustreben. Einzig das zählte.

      »Lorenz, setzen Sie sich«, klang nach einer Einladung, nicht wie ein Befehl. Der Rest verlor sich in den üblichen Beschwörungen. »Bleiben Sie bei der Stange. Es ist Urlaubszeit. Na ja, Sie wissen damit umzugehen. Ein Sondereinsatz. Vorübergehend überstelle ich Sie dem Revierkriminaldienst der Polizeidirektion im Harz. Ich habe Sie persönlich avisiert. Bereit?«, sah er ihn fragend an und streckte den Daumen nach oben. Die Antwort schien dem Chef geläufig. Trotz alledem schob er den dafür üblichen Spruch hinterher: »Ich sorge für angemessene Unterstützung, Lorenz.« Es dauerte Millisekunden, um sich darauf einzustellen.

      »Chef, ich habe kein Problem, auszuhelfen. Seit zwei Jahren arbeite ich in fremden Gefilden. Bin buchstäblich der Ausputzer mit Besoldungsgruppe A 10.«

      »Was denn, versteckt sich da eine Beschwerde? Nicht heute. Sie pokern zum falschen Zeitpunkt«, bohrte sich die Antwort monoton in sein Ohr. Sie besaß eine gewisse Schärfe und demonstrierte Angriffslust. Dieser Eindruck bestätigte sich. Es bestand keine Chance, sich zu wehren. Er gewahrte, wie die Disziplin Besitz von ihm ergriff. Ein Grund mehr, das Gesicht zu wahren.

      Wie um sich zu beruhigen, sog er ein paarmal die Luft ein und erklärte: »Bringen wir die Sache hinter uns. Ich bin bereit!«

      »Und wie Sie das sind. Sie lecken sich die Lippen. Ich sehe, wie es Sie drängt, sich zu beweisen. Das ist wieder eine Chance, sich in unkonventionellen Vorgehensweisen der Fallbearbeitung auszuprobieren. Lorenz, Sie gehören zu den Kriminalisten mit Biss. Die brauche ich bitter nötig. Und bitte, stecken Sie das dämliche Grinsen weg.«

      Er schaute zu dem Oberrat auf. Verdammt, sein Verhalten war nicht professionell. Persönliche Interessen der Jobausführung voranzustellen, nein, das funktionierte nicht. Der Chef hatte den Sarkasmus mit der Besoldung auf eigene Art weggesteckt. Gott sei Dank. Wenn es einen Augenblick gab, dieser Blamage zu entrinnen, schien das sofort angebracht. Es kam anders. Der Vorgesetzte drückte eine Taste auf der Sprechanlage.

      »Bitte bringen Sie für mich und den Oberkommissar Kaffee, Zucker und Milch und Gebäck. Kommen Sie, Lorenz, setzen wir uns dort drüben an den Tisch. Unser Gespräch dauert eine Weile. Klar, ich erteile Ihnen den Befehl, das war’s. Das bringt nichts. Die Sache ist zu prekär. Finden Sie es selber heraus. Da kommt eine Winzigkeit obendrauf«, brachte er in einer Art väterlichem Ton rüber. »Sie realisieren den Job im Alleingang. Ich verfüge volle Handlungsfreiheit. Sagen wir, drei bis fünf Tage für die Zeugenbefragungen. Sie lösen das Rätsel um den Vorgang, den Sie gleich zur Kenntnis erhalten. Und Achtung: Ich schicke Sie in einen Krieg! Erstaunt? Inhalieren Sie das wörtlich. Es ist bitterernst. Vermeiden Sie öffentliches Aufsehen!«

      »Chef, was soll die Vorrede. Entweder bin ich dafür der geeignete Ermittler oder nicht.«

      »Okay. Auf den Punkt gebracht heißt das: ein teilskelettierter, menschlicher Körper ohne Kopf im Flusslauf der Bode stiftet Unruhe. Hmm, hätte ich bald vergessen. Da gibt es eine ungeklärte Vermisstenanzeige. Die sticht mir ins Auge.«

      »Weil? Und weswegen ist das ein Vorgang, der dem LKA anhängig ist?«

      »Der Kerl ist beim Staatsschutz eingängig bekannt. Bei dem handelt es sich um den geschassten Anführer einer Sekte.«

      »Da ist mein Einsatz eine reine Formsache? Wir reagieren, um Ruhe in den Vorgang zu bringen?«

      »Ja und nein! Ich brauche einen nüchternen Bericht, den Sie verfassen. Keine Heldentaten. Ich setze auf Ihre Integrität. Beweisen Sie, dass mein bester Ermittler das nachfolgende Beförderungsamt verdient hat. Diesen Ritterschlag würde ich gern vollziehen.«

      »Uff, das haut mich um«, erwiderte Lorenz. »Das Ausputzen mit meinem Vorwärtskommen zu verknüpfen, endet hin und wieder tödlich.«

      »Quatsch, das basteln Sie hin. Da bin ich voller Zuversicht. Bitte, Oberkommissar, ich brauche kein Konfliktpotential mit den anderen Kollegen. Wir reagieren auf das Amtshilfegesuch der Polizeidirektion Harz. Schlagen Sie dort auf. Schalten Sie sich in die Ermittlungen ein«, hob er eine Art Sprechgesang an.

      »Werde ich, verlassen Sie sich drauf. Okay. Sie erwarten von mir die Abklärung von Identitäten nebst Todesursache in drei bis fünf Tagen. Ist das in Ihrem Sinn?«

      Auf das in die Länge gezogene »Hmm, tja, äh« folgte: »Korrekt! Keinen Schritt anders. Vergessen Sie nicht, der Bürgermeister der Stadt betet Sie garantiert an, den Fund tunlichst bedeckt zu kommunizieren. Erfüllen Sie ihm den Wunsch. Den erkennungsdienstlichen Teil, die Daktyloskopie, den Nachweis der DNA, überlassen Sie den Kollegen vom Dezernat 23. Schauen Sie zuerst da vorbei. Die Rechtsmediziner schaffen gemeinsam mit dem Forensiker über den Todesfall Gewissheit. Runden Sie das Bild vor Ort ab. Die Frage, ob ein Gewaltverbrechen beziehungsweise eine natürliche Todesursache vorliegt,


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