Die Doors, Jim Morrison und ich. Ray Manzarek
ich doch nicht“, grunzte er.
Nun, meine Lieben, heute weiß ich, was es war. Es war der Blues. Es war die South Side von Chicago. Es war die Musik der Schwarzafrikaner. Sie war schwarz, schwarzer Blues. Eine einzigartige Erfindung auf diesem Planeten. Eine Musikform, die sich völlig von allem unterscheidet, was es je gegeben hat.
Ich weiß bis heute nicht, wer es war, der mir an diesem heißen Sommernachmittag ins Ohr sang. Aber er veränderte mein Leben. Er öffnete die Tür, um die Traurigkeit in mein Leben zu lassen. Den Schmerz und das Leid verlorener Liebe. Die Tragik. Die Franzosen kennen das: triste. Vielleicht war es Muddy Waters, oder John Lee Hooker, Magic Sam, Sonny Boy Williamson, Howlin’ Wolf. Oder einer von den hundert anderen, die es sonst noch gab. Aber als ich diese Klänge hörte, wußte ich, oh Gott, das ist die bewegendste Musik, die mir je begegnet ist. Sie hat dieses Schlangenhafte. Diesen Rhythmus. Sie hat diese Wildheit … diese Leidenschaft … und ein Gefühl des Verstehens, des Mitleidenkönnens. Die Stimme des Sängers war voller Weisheit. Und so voller Schmerz. Wißt Ihr, wie es war? Wie klassische Musik aus Rußland. Wie Tschaikowsky und Prokofieff und Strawinsky. Oder wie Bartók und Smetana. Wie eine Polonaise von Chopin. Es war wie slawische Musik. Heavy und tiefgründig und traurig. Kombiniert mit dem Backbeat auf zwei und vier und dem zwölftaktigen Bluesschema, führte es den Chicago Boy von damals in den siebten Himmel. Der Blues! Das war’s. Er veränderte mein ganzes Leben. Warum … ich gab sogar meinen Schlag ab, als ich dran war … für den Blues.
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In diesen entscheidenden Jahren meiner Entwicklung konnte ich den Blues tatsächlich noch live sehen. Nicht in Nightclubs – das kam erst, als ich älter war –, aber statt dessen auf dem legendären Straßenmarkt an der Maxwell Street, wo meine Eltern in der Zeit, als sie sich kennenlernten, ihre Platten gekauft hatten. Das war ein riesiger Markt unter freiem Himmel, mitten im sogenannten „Ghetto“. Jedes Wochenende waren die Gehwege ganzer Straßenzüge in allen Richtungen von den verschiedensten Ständen gesäumt, an denen es tausenderlei Sachen zu kaufen gab. Plunder und Langgesuchtes aller Art. Haarwaschmittel und Radkappen. Werkzeuge und Autoreifen. Damenkleider und Nylonstrümpfe. Haushaltswaren und Schuhreparaturen (die sofort ausgeführt wurden). Trödel, Krimskrams und Nippes. Alte Flaschen aus blauem Kobalt, das bei der Flaschenherstellung nicht mehr verwendet wurde, seit man die Gefährlichkeit dieses Stoffes entdeckt hatte, das aber für eine tolle, tiefblaue Farbe sorgte. Alte Lampen, alte Töpfe und Pfannen, alte Autoteile, alte Klamotten, alte Familienfotos, alte Bücher, alte Vorhänge, alte Möbel, alte Platten (aber nichts Angesagtes), alte Zeitungen, altes dies und altes das. All das befand sich auf provisorischen Tischen, die aus zwei Böcken und einer Holzplanke bestanden, oder es lag auf einer Decke auf der Straße ausgebreitet, oder der Anbieter hielt es einfach in der Hand – ganz traurig und zu Herzen gehend. An den Ecken standen Musiker. Straßenmusiker, die ein bißchen Kleingeld sammelten und Gospelmusik machten; einige, aber nicht viele, spielten auch Blues. Dieser Maxwell Street Market war voller Menschen, voller Leben und Schwung, und er bot Erfahrungen einer Art, die ein Junge wie ich nie zuvor erlebt hatte. Es war wie am Markttag im Mittelalter. Oder auf einem Straßenverkauf in Islamabad. Ich war auf einem persischen Bazar, an einem Ort voller Zauber und Geheimnis. Und ich fühlte mich sicher und beschützt. Mein Vater war bei mir. Und seine starke Hand hielt die meine ganz fest, als wir die Zauberwelt betraten.
Meine Eltern waren in dieser Gegend Chicagos, rund um Bridgeport, aufgewachsen. Sie waren dort am Rande des Ghettos zur Schule gegangen, hatten sich kennengelernt und umworben und schließlich geheiratet, daher hatten sie noch viele Freunde, die nun an der Ecke Halsted/14. Straße kleine Geschäfte betrieben. Kleidung, Schuhe, Billigkosmetika und Friseurutensilien, Eisenwaren und Feinkost. Mein Vater kannte dort sehr viele Leute. Und manchmal nahm er mich in die Großmärkte mit, wo wir dann zum Beispiel eine Friseursalonflasche Vitalis kauften. Das mußte sein, ich hatte überall Wirbel. Nach dem Haarewaschen mußte irgendwas her, um die irre Energie einzudämmen, die sonst die kornblonden Locken eines Chicago Boys in hundert verschiedene Richtungen vom Kopf abstehen ließ. Und bei drei Jungs und einem Mann im Haus war der Verbrauch an Vitalis ganz enorm.
Manchmal gingen wir auch irgendwo rein, um bei einem seiner Bekannten ein paar Schuhe zu kaufen. Bei Sid’s Shoes. Dort stellte er mich dann vor: „Sid, das ist mein Sohn.“
„Hey, Ray!“ Sid begrüßte zuerst meinen Vater; schließlich mußten bestimmte Männerrituale eingehalten werden, bevor ein Jungspund wie ich an die Reihe kam. „Lange nicht gesehen. Wie geht’s Frau und Kindern?“
„Helen geht’s gut. Das ist mein Ältester, Ray Junior.“
„Ein hübscher Junge, Ray“, meinte Sid.
„Raymond, sag Mr. Bernstein Guten Tag“, befahl mein Vater.
„Hallo, Mr. Bernstein. Wie geht es Ihnen, Sir?“ Ich gab mich betont höflich.
Sid hob und senkte meine Hand wie einen Pumpenschwengel. „Na, mir geht’s gut, Ray Junior. Danke der Nachfrage.“ Er schüttelte mir weiter die Hand, grinste und ließ mich dann los. Was für ein Bär von einem Mann! Groß und knallhart, wie alle Einwandererkinder, die das Trauma der Entwurzelung in den 1890er Jahren überstanden hatten.
„Weißt du, Ray“, sagte er zu meinem Vater, „wenn der Junge soweit ist, daß er einen schicken Anzug für seine Abschlußfeier braucht“ ... er wandte sich wieder mir zu: „In welche Klasse gehst du, mein Junge?“
„In die achte, Sir.“
„Dann kommst du mit ihm wieder, und ich besorge ihm was ganz Besonderes. Wir gehen nach nebenan zu meinem Bruder. Der hat immer die neuesten Sachen.“ Die Bernstein-Brüder waren sehr modebewußt. Sehr au courant – aber mit der Coolness der Straße, nicht der Salons. Und zehn Monate später war es soweit. Als ich von der Everett School abging, kaufte mir mein Vater (bei den Bernstein-Brüdern) einen der schärfsten Anzüge, die ich je getragen habe. Es war ein Einreiher in einem dunklen, coolen Blau. Nicht dieses Business-Blau, sondern eine verrückte, elektrisierende Farbe. Total cool.
Und dazu trug ich ein rosa „Mr. B“-Hemd. Es hatte einen ausgestellten, breiten Kragen, ganz weich und biegsam, so daß man die Spitzen gut einrollen konnte. Es sah aus, als ob ich die Tragflächen eines Pan Am-Clippers oder einer viermotorigen TWA-Transatlantikmaschine um den Hals hatte. Es war der letzte Schrei. Einfach „zu cool“. Und aufgepaßt, ich hatte dazu einen grellgrünen Schlips umgebunden. Auuuu! Achtung … der Typ war scharf! Der sah aus wie Bo Diddley, vielleicht noch mit ’nem Schuß Jelly Roll Morton, um den Stilmix abzurunden.
Nach unserem Besuch bei Mr. Bernstein – Sid’s Shoes – war es Zeit zum Mittagessen, und mein Vater führte mich in die Geheimnisse der Imbißläden ein. Es war das erste Mal, daß ich ein Corned-Beef-Sandwich bekam. Wir gingen in eins der Imbißgeschäfte auf der Halsted Street, und göttliche Gerüche umspielten meine Nase. Ich atmete tief ein und dachte, ich bin im Fleischwarenhimmel. Aus der Warmhaltetheke roch es nach Knoblauch und Gewürzen … Ambrosia. Berge von Corned Beef und Salami und Roggenbrot, alles schon fertig aufgeschnitten zum Mitnehmen. Daneben waren Zwiebeln und Chicago Hot Dogs aufgeschichtet. Auf dem Grill brutzelten Dutzende von ihnen mit knackiger Kruste vor sich hin; sie warteten nur darauf, einer der berühmten Heißen aus Chicago zu werden.
„Willst du einen Red-Hot?! Hey, Kleiner, willst du einen Red-Hot? Ray, willst du ein Corn Beef?“ Hinter der Theke stand ein Mann mit Hängebacken, der meinen Vater begrüßte; ein weiterer Jugendfreund, Marty Glickman.
„Ein Roggenbrot mit Pastrami, Marty. Und nicht so viel Senf“, rief mein Vater zurück. „Für dich ein Hot Dog, Ray?“
Ich nickte, wobei mir schon das Wasser im Mund zusammenlief.
„Einen Red-Hot für Ray Junior, Marty.“ Er dachte eine Sekunde nach, faßte sich an den Bauch und sagte: „Gib mir mal doch lieber ein Corned Beef. Mein Magen macht mir wieder Probleme.“ (Das geht mir heute auch so.)
„Aber mit Senf, Ray?“
„Nicht so viel, Marty. Du bist da immer ziemlich großzügig, alter Freund.“
Marty lachte, und seine Backen schwabbelten. Jahrelang hatte