Gangster Squad. Paul Lieberman
packen. Wir fahren gleich“, gab er bekannt. Ein gutes Dutzend Fahrgäste brachten die beiden vor der Tür wartenden Transportmittel beinahe zum Platzen. Der eine Wagen war ein schwarzer „Hoffentlich-kommt-er-noch-um-die-nächste-Ecke“-Sedan, gebaut von der Dorris Motor Car Company in St. Louis, die mit dem Slogan warben: „Wir legen Wert auf hohe Qualität – nicht auf einen niedrigen Preis!“ Die Karre gab schon bald den Geist auf und musste ersetzt werden. Das andere Auto war ein ins Auge stechender Marmon Touring Car, gebaut von eben der Firma in Indianapolis, deren gelber Einsitzer das erste 500-Meilen-Rennen in der Stadt gewonnen hatte. Nun konzentrierte sich Marmon auf das Tagesgeschäft und bediente die Wünsche des prosperierenden Automobilmarkts, unterstützt durch die Werbung: „Das beste Auto in der besten Klasse!“ Es hatte eine vom Fahrer aus gesehen weit nach hinten versetzte und geräumige Sitzbank, breite Trittbretter auf jeder Seite und einen Rückspiegel. Auf der Kühlerhaube war eine silberne Figur angebracht, die man nur am Wagen eines millionenschweren Firmen-Besitzers vermuten würde – und genau diesen Eindruck wollte Fred in den kleinen Städtchen auf der Strecke schinden!
Wenn sie an irgendeinem Ort im staubigen Nirgendwo der USA Rast machten, stiegen alle aus, bis auf Fred, seine junge Frau und Muskelpaket Gus. Eine Tante kümmerte sich um Baby Jack, das in einer selbstgebauten Wiege reiste, die mit Seilen im Innenraum des Wagens befestigt war. Die anderen Wunderlichs gingen zu einer nahegelegenen Farm, um ein streunendes Hühnchen zu stehlen, während Fred seinen Dreiteiler anzog und Lillian ein kesses Rüschenkleid mit einem passenden Hut. Auch Gus schmiss sich in Schale und zog ein weißes Hemd und eine Weste über – ohne dabei die Chauffeursmütze zu vergessen. Die Drei fuhren danach mit dem auffällig pompösen Marmon in Richtung Hauptstraße des Städtchens, wobei Gus hinter dem Lenkrad saß und das Pärchen auf der Rückbank Platz nahm. Fred nannte ihn „Kid“ oder „Kumpel“. Gus war der ideale Chauffeur, da er nach dem Abgang aus der sechsten Klasse auf Farmen die Maschinen gefahren und die Motoren repariert hatte.
In der Stadt machte sich Gus auf die Suche nach dem bestbesuchten Saloon und parkte den Marmon direkt davor. Kurz nachdem er ausgestiegen war und während er noch unter die Motorhaube schaute, hatte sich schon eine Menschentraube um den Wagen herum gebildet und begaffte das Auto, das natürlich kein stinknormaler Ford sein konnte, und das piekfein gekleidete, vornehme Paar auf dem Rücksitz. Gus inspizierte den Motor, schüttelte mit dem Kopf und fragte, ob jemand wisse, wo man Werkzeug auftreiben könne. Dann ging er zu Fred und meinte: „Entschuldigen Sie, Sir. Die Reparatur wird einige Zeit in Anspruch nehmen. Warum gehen Sie nicht in die Gaststätte, wo es kühl ist und Sie sich erfrischen können?“
Fred reichte Lillian den Arm zum Unterhaken und stolzierte mit ihr zur Kneipe. Sobald sie darin verschwunden waren, wollte einer der Herumstehenden wissen, wer das denn sei. Chauffeur Gus erzählte daraufhin die Geschichte von der Investmentfirma, die sein Boss leite, und ließ dabei einige wichtige Namen fallen, um die Glaubwürdigkeit der Story zu unterstreichen. Danach fragte er den ahnungslosen Bewohner, ob im Saloon akzeptable Billard-Tische stünden.
„Ja, na klar.“
„Tja, mein Boss hält sich für einen ausgezeichneten Spieler. Er denkt, dass er Billard beherrscht.“
Gus schaute sich argwöhnisch nach allen Seiten um, doch sein „Chef“ war nirgendwo zu sehen. Er verriet den Leuten, dass jeder halbwegs fähige Spieler, der gleichzeitig nüchtern bleibe, seinen Vorgesetzten schlagen könne. Er bat die Umstehenden lediglich darum, ihm für den heißen Tipp einen kleinen Anteil des Preisgeldes zukommen zu lassen, nachdem sie seinen Chef nassgemacht hätten. Blitzschnell verbreitete sich die Neuigkeit, dass ein reicher Schnösel in der Stadt sei, den man leicht ausnehmen könne.
Und so finanzierten sich die Whalens und die Wunderlichs ihre lange und beschwerliche Reise gen Westen – mit dem Geld, das Fred den armen Schluckern im Herzen der USA aus der Tasche zog.
Schon vor der Jahrhundertwende machte in Los Angeles die Furcht vor den aus anderen Städten einfallenden Übeltätern die Runde. Das rasant wachsende Eisenbahnnetz hatte die junge Stadt erst 1876 erreicht, als sich die Southern Pacific mit der Linie aus dem Norden vereinigte. Im selben Jahr wurde der Posten des Polizeichefs eingerichtet, der damals lediglich sechs Beamten vorstand. Bis 1891 hatte sich Los Angeles zu einer weitverzweigten Stadt mit 65.000 Einwohnern entwickelt, über die eine Polizeitruppe von 75 Personen wachte, die Gefängnisaufseher und Büroangestellten, den Gerichtsdiener und die Sekretärin mitgerechnet. Wenn man nun noch die beiden Männer abzog, die die von Pferden gezogene „grüne Minna“ durch die Gegend kutschierten, standen Chief John Glass ganze 48 Streifenbeamte zur Verfügung, um ein Gebiet von 94 Quadratkilometern zu überwachen und die dringlichsten Aufgaben zu erledigen. „Viel zu viele Pokerrunden werden in den Hinterzimmern von Tabakläden und Saloons gespielt. Das Glücksspiel verursacht einen großen Schaden bei den jungen Männern dieser Stadt und stellt eine Einnahmequelle für die Schweinehunde dar, die zu faul zum Arbeiten sind“, erklärte Glass den Einwohnern in seinem Jahresbericht. „Die Lotterien lassen sich nicht so einfach ausradieren … Auch hat die Anzahl von Pfandleihern und Geschäftsleuten, die mit gebrauchten Artikeln handeln, zugenommen.“ Doch der Polizeichef konnte glücklicherweise auch eine gute Nachricht vermelden: Die Anzahl der Bordelle war konstant geblieben, da die Beamten „den Zuhältern den Krieg erklärt haben. Ich glaube, dass noch nie so wenige ruchlose und verschlagene Menschen in dieser Stadt lebten.“ Und es gab noch mehr erfreuliche Nachrichten. Insgesamt konnten 1.867,10 Dollar eingespart werden, da die Insassen des Gefängnisses ihr Essen selbst kochten und keine Küchen für die Beköstigung beauftragt werden mussten. Jedoch hatte Chief Glass auch eine beklemmende Warnung für die sonnendurchströmte Stadt parat, die sich so gerne als der amerikanische Garten Eden sah. „Ein nicht zu ignorierendes Ärgernis und eine Gefahr für die Bürger unserer Stadt ist die jährliche Zunahme der Einwohner. Jeden Winter drängen Diebe, Safeknacker und raffiniertes Gaunergesindel von den großen Städten des Ostens nach Los Angeles.“ Obwohl einige „Halsabschneider aus dem Osten“ mit viel Tamtam festgenommen worden waren, sah Glass die Zeit gekommen, seine Beamten mit mehr als einem Polizeiknüppel und einem Ledergürtel auszustatten und sich nicht darauf zu verlassen, dass sie sich ihre eigenen Handschellen und Revolver zulegen. Der Polizeichef bat die Stadt, den Cops die genannten notwendigen Utensilien zur Verfügung zur stellen und sie zusätzlich mit einer „Polizeipfeife, einem Generalschlüssel … und einem erstklassigen Repetiergewehr“ auszurüsten.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kam es zu ersten Schießereien zwischen den Ständen der Obsthändler, die nach L.A. gezogen waren. Es sollten die ersten Anzeichen sein, dass die berüchtigte Black-Hand-Gang, die in New York ihren Ursprung hatte, ihr Unwesen in der Stadt trieb – und von nun an wurden die unwillkommenen Neuankömmlinge in der Stadt alle über einen Kamm geschorenen und als „Gangster aus dem Osten“ abgestempelt. Am 2. Juni 1906 wurde George Maisano durch drei Schüsse in den Rücken niedergestreckt. Er lebte danach noch lange genug, um der Polizei zu verraten, dass der Schütze Joe Ardizzone gewesen war, ein zugezogener Obsthändler, im italienischen Viertel als der „Eiserne Mann“ bekannt. Einem Bericht aus dieser Zeit zufolge verschwand Ardizzone „plötzlich von der Bildfläche“. „Es ist ein schwieriger Fall, da die Italiener des Viertels alles versuchen, um dem Kriminellen bei der Flucht zu helfen, und sich weigern, zum Fall auszusagen. Angeblich haben sie nichts gehört.“
Nur wenige Monate später erschoss ein Mann auf einem Fahrrad Joseph Cuccia, Vater von drei Kindern, als dieser mit dem Pferdegespann die North Main Street entlangfuhr. Die Pferde gingen durch und schleiften den auf der Seite liegenden Wagen noch zwei Blocks weiter. Ein Augenzeuge verfolgte den flüchtenden Fahrradfahrer, der sich umdrehte und die Pistole auf ihn richtete: „Mir rennt keiner hinterher!“ Das nächste Opfer war der Herrenfriseur Giovannino Bentivegna, der durch das Fenster seines Geschäfts erschossen wurde. Laut Auskunft der Polizeibehörde fand man einen Brief in seiner Tasche, geschrieben im sizilianischen Dialekt. Daneben war „die krakelige Zeichnung eines Clowns und eines Cops“ zu sehen, die bekannte Warnung der Black-Hand-Gang an Polizeiinformanten. Diese Art von Zwischenfällen standen in New Yorks Little Italy nach der Einwanderungswelle der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts auf der Tagesordnung. Aber in Los Angeles? Eine Straße