Sehnsucht nach Zypern. Julia Lehnen

Sehnsucht nach Zypern - Julia Lehnen


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nahm wahr, wie seine Kolleginnen und Kollegen unruhig in seine Richtung schauten. Trotzdem nahm er sich die Zeit, ihr zu erklären:

      »Aphrodite war nicht nur die Göttin der Fruchtbarkeit und der Liebe, sondern auch die Herrin des Krieges. Einer ihrer vielen Beinamen ist Encheios, das heißt die Göttin mit dem Speer. Wir suchen nach Hinweisen auf diese Eigenschaft, nach Figuren, die die kämpferische Seite der Aphrodite zeigen. Dadurch können wir mehr über die Aphrodite-Verehrung erfahren und sie in Videos präsentieren.«

      Marie ließ die Augen über den Boden schweifen.

      »Das Problem ist, dass Forscher lange vor uns dieses Gelände untersucht haben. Die wichtigsten Fundstücke befinden sich in amerikanischen oder europäischen Museen.« Er wandte sich um und zeigte auf die weiße Vase. »Diese Riesenvase ist nur eine Kopie. Das Original diente wohl als Wasserbehälter. Weißt du, wo es zu bewundern ist? Im Louvre. Woher kommst Du?«, fragte er interessiert.

      »Aus Deutschland«, antwortete Marie.

      »Dann genießt du sicher das gute Wetter hier«, erwiderte ihr Gegenüber. »Und wo studierst du Archäologie?«

      »Nikos, wo bleibst du? Wir wollen weitermachen«, riefen seine Kollegen.

      »Gar nicht«, antwortete Marie, »ich studiere Forstwirtschaft und überarbeite einen Aphrodite-Wanderführer.«

      Nikos überlegte.

      »Wenn Du Dich für Aphrodite interessierst, gib mir deine E-Mail-Adresse, dann schicke ich dir Literatur-Tipps und Links.«

      Marie freute sich. Sie schrieb ihre E-Mail-Adresse auf die Eintrittskarte und überreichte sie Nikos. Der Mann reagierte viel aufgeschlossener als Alexandros.

      Zum Abschied schaute sie noch einmal zu der überdimensionalen Vase, in der sie sich hätte verstecken können.

      ***

      Abends nahm sie das weiße Schreibheft mit dem grünen rechteckigen Logo »Wald und Holz«, das sie aus Deutschland mitgenommen hatte. Sie setzte sich an den Metallschreibtisch und machte erste Stichpunkte: »Nikosia: Aphrodite von Soloi«.

      Dann zeichnete sie den Winkel, mit dem die Göttin das Kinn hob.

      An der Wand des Büros hing ein Walkie-Talkie, aus dem die gleichen Geräusche kamen, die sie aus dem Auto kannte. Wenn man kein Griechisch verstand, musste man wegen der aufgebrachten Männerstimmen von einem schlimmen Brand ausgehen, aber sie wusste mittlerweile, dass die Beobachtungsposten meist Entwarnung gaben.

      Sie ließ sich weder davon ablenken noch von dem hölzernen Schlüsselkasten, der an der Wand hing. Mindestens dreißig Schlüssel hingen dort, und sie versuchte, sich nicht zu fragen, welche Türen sie jeweils aufschlossen, sondern schrieb als zweiten Ort »Amathous« auf die nächste Seite des Heftes. Darunter skizzierte sie einen Speer und dahinter ein Fragezeichen und ein Ausrufezeichen.

      Aphrodite war auch eine kämpferische Göttin, das hatte sie nicht gewusst. Sie blätterte in einem der Bildbände, die auf dem anderen Schreibtisch lagen.

      Tatsächlich, sie fand die Abbildung einer Statue, die einmal einen Speer in der Hand gehalten hatte.

      11.

      Kapitel

      Am nächsten Morgen sah sich Marie im Spiegel an. Sie war ein wenig braun geworden, aber ihre Haut fühlte sich trocken an. »Tu dir etwas Gutes«, hatte Corinna ihr geraten, das war ganz wichtig.

      Plötzlich tauchte das Bild von Ariadne vor ihrem inneren Auge auf. Sie hatte so schöne, zarte Haut. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, war sie neidisch auf Ariadne, weil sie so toll aussah, und vor allem, weil sie so frei lebte. Sie ließ sich durch ihre Beziehung nicht einengen, wie sie selbst früher durch ihren Ex-Freund Sebastian. Ariadne lebte allein in Nikosia, traf sich mit Dionissis oder anderen Freunden, und Alexandros schien das noch nicht einmal zu stören.

      Marie ärgerte sich über sich selbst, dass sie sich in ihrer letzten Beziehung die Freiheit hatte nehmen lassen. Aber sie hatte ja etwas dagegen getan! Sie hatte sich getrennt und war nach Zypern gegangen. Und jetzt würde sie noch mehr für sich tun!

      Stavros war zum Forsthaus gekommen, um sein Motorrad abzuholen, doch der Ausflug nach Amathous hatte sie so beflügelt, dass sie fragte, ob sie es noch einmal leihen könnte. Sie erklärte ihm, dass sie wegen der Rosenkosmetik nach Agros fahren wollte, und Stavros war einverstanden.

      Als Alexandros die Vorbereitungen bemerkte, blieb er in einiger Entfernung stehen und runzelte die Stirn.

      »Ich finde das unökologisch. Gestern unterwegs, heute ein Ausflug: Das ist Spritverschwendung. Außerdem kennst du die Straßen hier im Gebirge nicht. Du musst enge Kurven fahren, und es gibt viele Unfälle.«

      Stavros unterbrach ihn, klopfte Marie auf die Schulter und sagte in Alexandros’ Richtung:

      »Du immer mit deinen Unfällen. Nur weil du mal einen hattest, muss das doch anderen nicht so gehen. Lass Marie! Agros ist ein lohnenswertes Ziel.« Dann wandte er sich ihr zu. »Stell die Maschine oben auf dem Parkplatz ab, Marie, und geh zu Fuß ins Dorf hinunter, dann fährst du weniger Kurven. Probier nicht zu viel Rosenlikör bei Tsolákis! Viel Spaß!«

      Sie startete, die hügelige Strecke kam ihr bekannt vor. Fast wie zuhause im Sauerland, dachte sie, nur etwas mehr Steine auf der Fahrbahn. Sie fuhr an uralten, hohen Pappeln vorbei, an Bächen, die sich tief in Täler eingeschnitten hatten. Es gab kaum Verkehr auf der Straße, sie legte sich intensiv in die Kurven, sodass sie ihr Ziel Agros bald erreichte.

      Das ganze Dorf war von Rosenfeldern umgeben. Seltsam, obwohl die Blüte längst vorbei war, hing über dem Dorf noch immer der Duft von Rosen.

      Sie näherte sich der Destillerie Tsolákis und besichtigte das kleine Geschäft. Neben Rosenlikör und -wein wurde Parfum und Kosmetik angeboten. Sie sah sich Fotos von der Rosenblüte im Frühjahr an und sog den Duft des Ladens in sich auf.

      Dann probierte sie die Cremes und verteilte duftende, kühle Lotion auf der Haut. Kam es ihr nur so vor oder fühlte sich ihre Haut gleich viel zarter an? Mit Tages- und Nachtcreme, Reinigungsmilch, Körperlotion und einem Fläschchen Rosenöl verließ sie die Manufaktur.

      Auf der Rückfahrt entdeckte sie neue große Straßenschilder, die auf Sehenswürdigkeiten hinwiesen. Sie fuhr langsamer und entzifferte das Wort »Chrommine«.

      Als sie das Forsthaus erreichte, saß Stavros auf der Terrasse. Sie fragte ihn sofort:

      »Haben diese Chromminenschilder etwas mit den Straßenbauplänen und den angesägten Bäumen zu tun?«

      »Es kann sein, dass es da einen Zusammenhang gibt, aber ich habe keine Ahnung, wer dahintersteckt. Ich fahre auf dem Rückweg an den Schildern vorbei und schaue sie mir an.« Er übernahm den Helm und stieg auf die Kawasaki.

      Marie bedankte sich, zog den Motorradanzug aus, den Ludmilla ihr geliehen hatte, und legte ihn auf einem Terrassenstuhl ab.

      Der Gedanke, dass eine längst stillgelegte Chrommine in Kürze wiedereröffnet werden soll, bedrückte sie. Doch sie fand einfach nicht den Punkt, an dem sie ansetzen könnte, um dagegen vorzugehen. Vielleicht würde ihr etwas einfallen, wenn sie sich mit etwas anderem beschäftigte.

      Sie holte die Kamera und begann, das Forsthaus und die Umgebung zu fotografieren.

      »Musst du wirklich jeden Kieselstein aufnehmen?« Alexandros kam näher.

      Anstatt sich provozieren zu lassen, erklärte sie:

      »Es erinnert mich an ein Forsthaus bei uns Zuhause: Groß, weiß, grüne Fensterläden, eine Glocke am Eingangstor, Brunnen im Hof und Kies. Wenn du mal nach Deutschland kommst, zeige ich es dir.«

      »Ich interessiere mich eher für Italien, Spanien und Frankreich.«

      »Klar, die Länder gefallen mir auch«, sagte sie und dachte: Kann er nicht einmal etwas Nettes antworten? Er hätte auch einfach »Ja« sagen können.

      Nachdem sie fertig war,


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