Sehnsucht nach Zypern. Julia Lehnen

Sehnsucht nach Zypern - Julia Lehnen


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      Als sie hineingingen, staunte Marie. Von der Decke bis zum Boden waren die Wände mit biblischen Szenen von außerordentlicher Farbintensität bemalt: Rot, gold, und als sie nach oben ins blaue Gewölbe schaute, hatte sie den Eindruck, in den Himmel zu blicken.

      Sie blieb vor dem Bild des heiligen Nikolaus, der ein langes, weißes Gewand trug, stehen. Sie kannte den Heiligen von den Kirchgängen in ihrem Heimatort. Und wenn sie an den Nikolaustag dachte, wurde ihr warm ums Herz. Wie sehr hatte sie sich als Kind über die mit Süßigkeiten gefüllten Stiefel gefreut. Die Farben leuchteten so stark, sie konnte kaum glauben, dass die meisten Gemälde über achthundert Jahre alt waren.

      Schließlich ging sie den Gang entlang und zündete am Ende eine Kerze an. Dann wandte sie sich an ihre Kollegen.

      »Ich verstehe nur nicht, warum die Zyprer die Kirche hier oben im Gebirge gebaut haben und nicht in Pafos oder Limassol, da könnten sie doch viel mehr Menschen besuchen.«

      Alexandros ging direkt auf sie zu. Seine Augen blickten sie streng an, sie wirkten noch dunkler als sonst. Er erklärte, dass das französische Adelsgeschlecht, das im Mittelalter die Insel beherrschte, die orthodoxen Zyprer zu Katholiken machen wollte. Viele Zyprer weigerten sich, zogen sich ins Gebirge zurück und bauten die Scheunendachkirchen.

      »Auf diese Weise bewahrten sie ihre Identität, die die Mitteleuropäer bedrohten.« Er schaute sie so durchdringend an, als würde Marie persönlich seine Identität bedrohen.

      Sie wich seinem Blick aus und näherte sich den Fresken. Beklommene Stille breitete sich in der kleinen Kirche aus.

      Stavros räusperte sich.

      »Nun lass doch die Vergangenheit ruhen, Alexandros.«

      Beide schwiegen einen Moment, dann zeigte Marie auf die Fresken.

      »Kennt ihr jemanden, der mit Wandmalereien vertraut ist?«

      Stavros zuckte mit den Achseln, dachte nach und äußerte dann:

      »Sotiris, der Pfarrer von Omodos, den müsstest du fragen. Jetzt will ich dir aber erstmal zeigen, wie der Wanderweg hier hinführt.«

      Sie verließen die Kirche und Stavros begleitete sie an den Anfang des Wanderwegs. Marie ließ ihren Blick über die bewaldeten rotbraunen Hügel schweifen, schaute in den blauen Himmel und sog die frische Luft ein. Von Weitem hörte sie Wasser rauschen.

      »Es ist wirklich schön hier!«, sagte Marie zu Stavros.

      Sie kamen an einer Birke vorbei. Marie betrachtete die Zweige, pflückte einige junge hellgrüne Blätter und legte sie in ihre Tasche.

      Alexandros wandte sich ihr zu.

      »Birkenblätter kannst du pflücken, aber es gibt hier im Nationalpark seltene Wildblumen, die wir schützen wollen.«

      »Das ist bei uns in Deutschland genauso, in meiner Heimat wachsen Orchideen, Enziane ...« Bevor sie den Satz zu Ende bringen konnte, unterbrach Stavros sie.

      »Wofür brauchst du die Blätter?«

      »Für Kräuterdip. Frische Birkenblätter haben viel Vitamin C und Calcium. Wenn man sie kleinschneidet, geben sie dem Dip die Würze.«

      »Darüber solltest du mal mit Milla sprechen, sie probiert gern neue Rezepte aus.«

      Während sie sich weiter mit Stavros unterhielt, steuerten sie auf ein Waldstück zu. Dort verschwand ein holpriger Pfad, rechts davor stand ein großer, gelber Bagger.

      Stavros versuchte sein Unbehagen zu verbergen, indem er Alexandros betont gelassen fragte:

      »Stand der neulich auch hier?«

      »Den sehe ich zum ersten Mal. Bist du darüber informiert worden?«

      »Nein, für unseren Wanderweg brauchen wir den nicht.«

      Rechts und links des Weges waren die Büsche auf einer Breite von einem Meter abgesägt worden. Marie schaute Stavros fragend an. Der räusperte sich und sagte:

      »Wegen der Krise schlagen einige Zyprioten Holz im Wald.«

      »Oder ist das der erste Schritt zum Straßenbau?« Marie stützte ihre Hand an einer schräg stehenden Kiefer ab und betrachtete den Bagger, der den Zugang zum Wanderweg blockierte.

      Während sie überlegte, was man gegen das Abholzen tun könne, bewegte sich die Kiefer über ihr. Der unterste Zweig berührte ihren Kopf. Merkwürdig, es war ganz windstill.

      »Komm da weg, Marie, sofort!« Stavros riss sie an ihrem freien Arm von dem Baum weg in Richtung Kirche.

      Sekunden später krachte die gesamte Baumkrone herunter. Alexandros trat vorsichtig zum Stamm. Er war fast komplett durchgesägt, zehn Zentimeter unterhalb der Stelle, an der Marie ihre Hand gehabt hatte, der leichte Druck ihres Körpers hatte ihn herunterstürzen lassen.

      »Wer macht so etwas?« Marie starrte auf die Kiefer, die vor ihr auf der Wiese lag.

      »Ich weiß es nicht. Du ... du könntest jetzt darunter liegen. Ich rufe sofort die Forstabteilung an.« Er nahm sein Handy und wählte die Nummer, doch niemand reagierte. »Morgen früh versuche ich es wieder.«

      Misstrauisch untersuchte er die anderen Kiefern am Wegesrand. Auch andere Stämme waren angesägt, einige neigten sich leicht, manche waren schon umgeknickt. Das war versuchter Totschlag an den Wanderern.

      Auf dem Rückweg saß Marie hinten im Jeep und überlegte fieberhaft, wer die Anweisung gegeben haben könnte, die Bäume so anzusägen. Vorne unterhielten sich Stavros und Alexandros aufgebracht. Offensichtlich war Stavros klargeworden, dass Abwarten keine Lösung war.

      ***

      Marie setzte sich auf die Terrasse und dachte über die angesägten Bäume nach. Gab es irgendetwas, das sie tun konnte?

      Währenddessen schleppte Alexandros eine mit Wasser gefüllte Zinkgießkanne vom Fluss zum Gemüsegarten und goss die Tomatenstauden. Im Nu war die Gießkanne leer, er lief erneut zum Fluss und humpelte mit der vollen Gießkanne den Abhang hinauf, überquerte den Rasen und ging zum Gemüsebeet.

      Marie sprang auf, um ihm zu helfen.

      »Warum nimmst du nicht den Gartenschlauch?«, sie zeigte auf den Wasserhahn an der Außenwand neben der Küchentür.

      »Ich trainiere.«

      »Du pflanzt doch den ganzen Tag. Wenn du so weiter machst, fällst du um.«

      Sie ging zum Gemüsebeet und begann, die braunen Blätter der Tomaten und Bohnenpflanzen abzuzupfen, holte dann eine Schüssel aus der Küche und pflückte die reifen Früchte.

      Alexandros goss mittlerweile die Stangenbohnen. Er stand direkt neben einer Metallstange, um die sich die zarte hellgrüne Spitze der Pflanze rankte.

      Die Farbe kontrastierte mit Alexandros’ dunkelrotem Poloshirt, das wie viele seiner Oberteile auf der Brust geflickt war.

      »Warum sind alle deine Poloshirts an der gleichen Stelle genäht?«

      »Weil ich das Emblem herausgeschnitten habe: Krokodil, Polospieler oder Möwe.«

      »Du hast die Markensymbole herausgetrennt? Viele Leute kaufen sie deswegen.«

      »Das habe ich früher auch getan. Dann wollte ich damit nichts mehr zu tun haben. Ich habe die Embleme herausgeschnitten, die Löcher wieder zugenäht und werde sie so lange tragen, bis sie kaputt sind. Wenn ich neue kaufe, dann No-Name-Shirts«, erklärte er, während er sich entfernte, um frisches Wasser zu holen.

      Als er wiederkam, goss er die Bohnen und begann dann, die Blätter nach Schnecken abzusuchen, hielt inne und fragte plötzlich:

      »Warum bist du hier?«

      Marie stellte die Schüssel mit den Bohnen auf den Boden und antwortete dann:

      »Ich wollte raus, etwas Neues kennen lernen, deshalb habe ich mich für ein Naturschutzprojekt im Ausland beworben.«

      »Es


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