Immunsystem und Psyche – ein starkes Paar. Anna E. Röcker
biopsychosozial ausgerichtet sein, das heißt, dass biologische, psychische und soziale Aspekte gleichermaßen berücksichtigt werden, wenn es um Gesundheit und Krankheit geht. Das »alte« und derzeitig vorherrschende Modell der Biomedizin ist durch eine dualistische Betrachtung des Menschen charakterisiert, d.h., man geht von einer Trennung von Körper und Seele aus. Es ist außerdem von reduktionistischen Konzepten geprägt, bei denen von weniger komplexen Einheiten auf höher komplexe Einheiten geschlossen wird (»bottom-up«): Durch das Erforschen kleinster Bestandteile unserer Existenz (z.B. Neurotransmitter) versucht man dabei höher komplexe Entitäten (z.B. psychisches Befinden) zu verstehen. Das biopsychosoziale Paradigma hingegen besagt, dass Schlüsse in erster Linie von höher komplexen Einheiten (z.B. psychisches Befinden) in Richtung nieder komplexerer Einheiten (z.B. Neurotransmitter) gezogen werden sollten (»top-down«). Ein weiteres »top-down«-Beispiel wäre, dass wir von den sozialen Beziehungen eines Menschen auf die Verbindungen innerhalb des Organismus (z.B. zwischen biochemischen Stoffen) Rückschlüsse ziehen.
Jedes Krankheitsgeschehen ist aus biopsychosozialer Sicht immer ein komplexer Vorgang, der individuell betrachtet werden muss. Der Blick muss auf das große Ganze gerichtet sein, da es bekanntlich mehr ist als die Summe der Einzelteile.
Der immunologische »6. Sinn«
Wir sehen, hören, riechen, schmecken und fühlen und wir haben darüber hinaus Zugang zu Informationen, die nicht so offensichtlich auf sich aufmerksam machen, für unser Leben aber von größter Bedeutung sind: Wir können beim Immunsystem von einem »6. Sinn« sprechen, der uns nicht nur laufend darüber informiert, was außerhalb von unserem Körper vorgeht, sondern auch darüber, was in unserem Körper passiert. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass wir über eine achtsame Selbstwahrnehmung verfügen. Gerade in unserer modernen Zeit mit den vielfältigen Einflüssen und Anforderungen ist die Selbstwahrnehmung häufig eingeschränkt.
So macht sich z.B. eine Erkältung schon bemerkbar, bevor die ersten Symptome auftauchen. Auch der Ausbruch einer schwereren Erkrankung zeigt sich oft schon lange vorher in unklaren Befindlichkeitsstörungen wie Erschöpfung, psychischer Verstimmung, sozialem Rückzug oder Schlafstörungen.
Erklärbar ist dieser »6. Sinn« durch die enge Vernetzung von Immun-, Hormon- und Nervensystem: Die verschiedenen Systeme können sich über die Freisetzung von Botenstoffen (Transmitter-Moleküle) untereinander verständigen und stehen in direkter Verbindung mit dem Gehirn.
Eine wichtige Informationsquelle dabei sind die schon erwähnten natürlichen Killerzellen. Sie patrouillieren unentwegt durch den Organismus, um körperfremde Substanzen aufzuspüren, die ausgemerzt werden müssen. Die schädlichen Substanzen werden aber nicht nur vernichtet, sondern die Informationen über damit verbundene entzündliche Aktivitäten werden über den Parasympathikus (Teil des vegetativen Nervensystems, siehe Seite 51) auch ans Gehirn weitergegeben. Dort werden die Informationen umgewandelt und verarbeitet. Auf diese Weise hält uns das Immunsystem mithilfe des Parasympathikus kontinuierlich über entzündliche Vorgänge in unserem Organismus auf dem Laufenden.
Dieses und andere Beispiele verdeutlichen uns, dass wir ständig ein implizites Wissen über das haben, was immunologisch in unserem Organismus passiert. Wenn wir diese inneren Informationen wahrnehmen und unspezifisches Unwohlsein, Erschöpfung, immer wiederkehrende Erkältungen oder Schlafstörungen ernst nehmen, können wir frühzeitig regulierend einwirken. Wir können negative Einflüsse auch mit unserem Verhalten abwehren, uns besser abgrenzen oder gezielt Ruhezeiten einbauen und Entspannungstechniken anwenden, bevor es zu einer dauernden Überlastung der Immunaktivitäten und damit zu Krankheit kommt.
Der Blick auf den »Wirt«
In der konventionellen Medizin wird in erster Linie auf den Erreger, also z.B. auf das Virus, das uns krank machen kann, geachtet. Dabei sollte unsere Aufmerksamkeit dem Wirt gehören, er ist wichtiger als der Erreger, wie schon Louis Pasteur sagte. Um ihn – um den ganzen Menschen – geht es bei einer Erkrankung, die aus der Beziehung Mensch und Mikrobe entsteht. Dabei hat ein alter Wirt bzw. Mensch eine geschwächte Immunfunktion und kann etwas schlechter gegen ein Virus vorgehen. Dasselbe gilt für einen vorerkrankten Menschen, der bereits ein verändertes, ein funktionsgestörtes Immunsystem hat. Auch ein chronisch gestresster Wirt ist in Gefahr, was jüngere und ältere Menschen gleichermaßen betrifft. Die Frage nach dem »Wirt« bedeutet dadurch auch, dass man sich die Frage stellen muss, wie es einem Menschen in seinem Leben geht und ob er in »gesunden« sozialen und gesellschaftlichen Bezügen lebt. Denn alles, was chronischen Stress verursacht, macht anfälliger für virale und bakterielle Infektionen, aber auch für allergische Reaktionen oder Wundheilungsstörungen. Die Ursachen für chronische Belastungen sind hoch individuell und vielfältig. Aus der PNI-Forschung wissen wir beispielsweise, dass anhaltende Ängste und Sorgen, schwerwiegende Konflikte in wichtigen Beziehungen, chronische Einsamkeit oder Traumatisierungen in der Kindheit das Stress- und Immunsystem aus dem Lot bringen können. Bei der Betrachtung der derzeitigen Corona-Situation muss der Stellenwert der individuellen psychoneuroimmunologischen Situation berücksichtigt und in die öffentliche Diskussion miteinbezogen werden. Eine Stärkung der individuellen psychischen Verfassung von Menschen (z.B. durch soziale Integration statt Einsamkeit) stärkt deren Immunabwehr und schützt so u.a. vor Virusinfektionen bzw. kann den Krankheitsverlauf positiv beeinflussen.
Was unser Immunsystem schwächt und was es stärkt
Umgang mit Stress
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) bezeichnet Stress als eine der größten Gesundheitsgefahren des 21. Jahrhunderts. Druck am Arbeitsplatz, Armut, Angst vor Krankheit, Probleme in Beziehungen, Überforderung durch Mehrfachbelastungen in Familie und Beruf, gesellschaftliche Ausgrenzung sind nur einige der Themen, die vermehrt zu stressbedingten Krankheiten führen.
Betrachten wir den Zusammenhang zwischen Immunsystem und Stress, können wir feststellen, dass unser Immunsystem auf akuten und chronischen Stress unterschiedlich reagiert.
Akuter Stress und das Immunsystem
Bei akutem Stress kommt es zunächst zu einem Anstieg der zellulären Immunaktivität, gewissermaßen zu einem Boost der Immunfunktion. Dies hat sich im Laufe der Evolution bewährt, um in akuten Stresssituationen vor Gefahren zu schützen. Dabei werden die lebensnotwendigen Körperaktivitäten hochgefahren, Blutdruck und Herzfrequenz steigen, man atmet schneller und flacher, die Muskeln spannen sich an, der Hautwiderstand nimmt ab. Energie in jeder Form muss freigesetzt werden, um wegzulaufen oder zu kämpfen und damit das Leben zu retten. Stress ist also immer ein Ganzkörpererlebnis – der gesamte Organismus ist bis in das Zellinnere hinein beteiligt.
In Kombination mit biologischen Abwehrvorgängen werden bei akutem Stress auch psychosoziale Abwehrmechanismen aktiviert, um uns beispielsweise in Belastungssituation handlungsfähig zu machen. Werden wir z.B. unvermittelt mit einer schwierigen Aufgabe betraut, der wir uns nicht gewachsen fühlen, kommt es nicht nur akut zu einer stressbedingten Veränderung der Körperaktivität einschließlich einer Immunsteigerung, sondern auch zu einem Anstieg unserer mentalen Leistungsfähigkeit, um die Stresssituation besser bewältigen zu können.
Chronischer Stress und das Immunsystem
Erst wenn solche schwierigen Situationen immer wieder auftreten, wir mit ihnen langfristig nur schlecht umgehen können und sie uns chronisch überfordern, fährt das schützende Immunsystem in seiner Aktivität dauerhaft herunter, Entzündungsprozesse bleiben erhöht, die Zellalterung ist beschleunigt, und wir reagieren auch psychisch mit einer chronischen Belastungsreaktion – mit all ihren negativen Folgen für unsere biopsychosoziale Gesundheit.
Der Einfluss des subjektiven Erlebens