Seewölfe Paket 27. Roy Palmer
umkehren und nach einem neuen Aufstieg suchen. Entweder taten sich Klüfte auf, die nicht zu überbrücken waren, oder sie standen vor Steilwänden, an denen nur ein Wahnsinniger hochklettern würde – oder ein Selbstmörder.
Sie gerieten ganz schön ins Schwitzen, zumal die Sonne höher stieg und mit ihrer Glut die Ostseite der Insel in einen Backofen verwandelte. Unten in der Bucht war es angenehm kühl gewesen – durch das Wasser und die hohen, schattenspendenden Felswände.
Die Galeone und die beiden Schaluppen sahen allmählich wie kleine Spielzeuge aus. Die Mannen auf den Decks schrumpften zu Zwergen und noch kleineren Figürchen, je höher die drei gelangten.
Aber dann wurden sie für die Plackerei entschädigt. Sie erreichten ein kleines Bergplateau, das einem Burgturm nicht unähnlich war. Felsen umgaben wie Zinnen die etwas oval geformte Fläche. Hier endlich war der Wind wieder spürbar und brachte Abkühlung.
Doch das war alles unwesentlich gegenüber dem gewaltigen Panorama, das sich ihren Augen darbot. Der unendlich weite Blick über die See wurde nur im Norden – nach Nordwesten im Dunst verlaufend – von den Küsten Mindanaos begrenzt und im Westen von der Nachbarinsel. Sonst war da die See – und das auf einer Fläche, die in die Unendlichkeit zu reichen schien. Sie zeigte ein gleichmäßiges Wellenmuster, das blinkte und glitzerte und dennoch erstarrt erschien.
Sonst sahen sie die See unmittelbar und nur von der Höhe ihrer Schiffsmarsen. Sie „klebten“ auf dem Wasser. Doch hier waren sie auf der Flughöhe der Seevögel und „schwebten“ über der See.
Sie waren stumm und starrten. Der Westwind strich über sie weg und ließ ihre Haare flattern. Dann brach Don Juan das Schweigen.
„Phantastisch“, murmelte er, und seine Stimme klang belegt. „So etwas habe ich noch nicht gesehen. Was sind wir? Winzlinge in dieser Weite, kleine miese Kakerlaken.“
Hasard warf ihm einen Blick zu. „So kann man das natürlich auch bezeichnen – je nachdem, wie man das betrachtet. Die Kakerlake hält uns wahrscheinlich für Riesen.“
„Ich könnte hier Tage verbringen“, sagte Don Juan. Er schien etwas berauscht zu sein.
Dan O’Flynn, bisher schweigsam, sagte trocken: „Für die Nächte würde ich das auch nicht empfehlen. Da wird’s hier oben lausig kalt.“
Er erntete einen schiefen Blick von Don Juan, aber das bemerkte er nicht. Er war an einen etwa brusthohen Felsen am Westrand des Plateaus getreten und spähte durch den Kieker zur Nachbarinsel hinüber. Den Proviantsack hatte er abgelegt.
„He-he!“ sagte er erstaunt. „Da wird ja auch gerodet!“
Hasard und Don Juan traten zu ihm und spähten ebenfalls durch ihre Spektive.
„Tatsächlich“, sagte Hasard, und dann fügte er grimmig hinzu: „Aber etwas ist anders, nicht wahr? Die Mijnheers schauen zu, und andere müssen schuften, offenbar Gefangene. Und sie entästen die Bäume auch. Soll wohl Bauholz werden. Ah – da wird auch eine Peitsche geschwungen! Siehst du’s, Dan?“
„Ja. Diese Bastarde! Das hört und hört nicht auf – irgendeiner ist immer der Geschundene, weil der andere mächtiger und stärker ist und seine Macht auskosten muß. Gestern die Spanier, heute die Holländer und morgen andere Fronherren. Wir Engländer brauchen uns da gar nicht auszuklammern.“ Dan O’Flynn redete sich in Wut. „Aufhängen sollte man diese Mistkerle! Der Teufel soll sie holen! Und wir schwärmen hier über den herrlichen Rundblick!“
Ja, dieser herrliche Rundblick war ihnen vermiest. Die rauhe Wirklichkeit hatte sie wieder im Griff. Sie war nicht nur rauh, sondern auch böse. Es gab keinen Frieden.
„Es sind auch Frauen dabei“, sagte Don Juan gepreßt, „braunhäutige Frauen. Ob es jene sind, die entführt wurden?“
„Glaube ich nicht“, sagte Hasard hart.
„Warum nicht?“
„Weil sie erst ihren Spaß mit den Frauen haben wollen. Mit abgearbeiteten, abgezehrten und entkräfteten Frauen haben sie den nicht. Die Mädchen spannen sie dann in ihren Frondienst ein, wenn sie ihrer überdrüssig sind. Eher nicht. Aber beides ist schlimm genug, Entehrung und Schändung genauso wie Fronarbeit unter barbarischen Schergen.“ Er schwieg einen Moment und setzte dann fast wütend hinzu: „Was sind wir doch für liebe Menschen, wenn ich daran denke, daß wir unseren Gefangenen, den Kerl, der vor Toten ausspuckt, hegen und pflegen. Jetzt hat er Sumpffieber, liegt in einer Achterdeckskammer und wird gepäppelt, der Ärmste. Aber sein Sündenregister dürfte das gleiche sein wie das der Peitschenschwinger dort drüben.“
„Ich zähle fünfzehn Aufpasser und siebzehn Gefangene, davon fünf Frauen“, sagte Dan O’Flynn. „Ein feines Verhältnis. Da hat nahezu jeder seinen Privatgefangenen, den er kujonieren kann. Für eine Flucht besteht nicht die geringste Chance, außerdem ist ringsum Wasser, und in der Bergwildnis würde man über kurz oder lang umkommen.“
„Mich interessiert, ob du irgendwo einen festen Ausguckposten entdecken kannst, Dan“, sagte Hasard. „Außerdem empfehle ich, daß ihr euch den Küstenverlauf – soweit er einsehbar ist – einprägt.“
Sie nickten, und für eine Weile herrschte Schweigen, während sie die Nachbarinsel Stück für Stück mit den Spektiven regelrecht abtasteten.
Dan O’Flynn wurde mit seinen scharfen Augen fündig. Er entdeckte im Südosten der Insel unweit der Küste einen felsigen Bergkegel – ähnlich ihrem derzeitigen Beobachtungsstandort –, und auf dem bewegte sich eine Gestalt, offenbar ebenfalls mit einem Spektiv bewaffnet. Einmal blitzte es auf, als der Kerl mit dem Kieker die östliche Kimm absuchte und das Sonnenlicht auf die vordere Linse fiel. Oder die Messinghülse hatte das Licht reflektiert.
Sie reagierten automatisch, duckten sich ab und suchten Positionen, die ihnen Deckungen nach Südwesten boten. Hasard umwickelte sein Spektiv mit einem Halstuch. Dan O’Flynn und Don Juan folgten seinem Beispiel.
Hier oben, über der Zone des Regenwaldes, wuchsen Fichten und Nadelhölzer, letztere zum Teil in buschiger Form. Sie waren es, die ihnen Deckung verschafften.
Natürlich mußten sie vorsichtig sein, und sie bewegten sich so wenig wie möglich. Aber Hasard ging davon aus, daß der Posten dort drüben die See beobachten sollte – logisch, denn wer auch immer die Insel aufsuchte, er mußte sich von See her nähern. Insofern war die Nachbarinsel Sarangani uninteressant für den niederländischen Ausguck.
Aber eins stand fest: Wer auch immer tagsüber in Sichtweite der Insel geriet, er würde bemerkt werden, und zwar frühzeitig, wenn der Ausguck nicht gerade schlief. Und die Mijnheers würden genug Zeit haben, sich auf den Besuch einzustellen. Wenn es ein feindlicher Besuch war, konnten sie sich in aller Ruhe auf eine Abwehr einrichten.
Bedauerlich war, daß die drei Männer nichts von dem Stützpunkt sahen. Die Südküste der Balut-Insel blieb ihren Blicken verborgen. Eins wußte Hasard bereits. Als er kurz nach dem Ankern nach dem Fieberkranken geschaut hatte, war auch der Kutscher erschienen und hatte ihm berichtet, daß er Marten de Groot ein bißchen ausgehorcht hätte, als der am Phantasieren gewesen war.
Danach hatten die Mijnheers an der Südküste Baluts auf einer in die See vorkragenden Felsnase ein Kastell mit Wehrtürmen errichtet und unterhalb des Kastells einen kleinen Hafen angelegt. Abgeschirmt wurde das Kastell von riesigen Palisaden, dreimal so hoch wie ein Mann. Zum Hafen hin befand sich in der Palisadenumwehrung als Ein- und Ausgang ein massives Tor mit zwei Flügeln.
Nach allem, was Hasard vom Kutscher vernommen hatte, mußte dieses Inselkastell eine verdammt harte Nuß sein, die nicht so ohne weiteres zu knacken war. Daß de Groot bei seinen diesbezüglichen Aussagen übertrieben hatte, glaubte Hasard nicht. Die Holländer waren gründliche und geschickte Handwerker, erfahren im Deich- und Brückenbau, und wenn die so ein Kastell errichteten, dann mußte das ein solider, gut durchdachter Bau sein, keine Bruchbude, die beim ersten Ansturm umfiel wie ein Kartenhaus.
„Was meinst du, Dan“, fragte er, „kann der Ausguck auf dem Bergkegel auch seine Kumpane und die Gefangenen beim Roden beobachten?“