Seewölfe Paket 30. Roy Palmer
Selbstverständlich konnten die Kerle auch die dunklen Wolken Pulverqualm sehen, die vom Wind fortgetragen wurden.
Corvo grinste triumphierend und rieb sich die Hände. „Da seht ihr’s mal wieder. Olivaro ist manchmal unausstehlich. Aber wenn’s ans Kämpfen geht, versteht er sein Geschäft.“
Die drei anderen Wächter, die neben Corvo im Zentrum des Dorfplatzes standen, schienen ihrer Sache nicht ganz so sicher zu sein.
„Es könnte auch umgekehrt sein“, meinte einer von ihnen im Grollen der Kanonen und dem Schreien der Sterbenden und Verletzten. „Daß nämlich unsere Leute die Jacke vollkriegen.“
Corvo spuckte aus und schnitt eine Grimasse. „Das glaubst du doch selber nicht. Vier Schiffe gegen eins – da weiß ich schon vorher, wer der Sieger ist. Das ist ein Zuckerlecken für Olivaro.“
„Klar“, sagte ein dritter Schnapphahn, aber ganz überzeugt klang auch seine Stimme nicht.
„Ich bin mal gespannt, was die Schebecke geladen hat“, sagte Corvo. „Wir erfahren es ja gleich.“
„Übrigens“, bemerkte der vierte Wächter. „Wir wissen immer noch nicht, warum Olivaro den englischen Kapitän und das Frauenzimmer am Leben gelassen hat.“
Corvo wandte ihm das Gesicht zu. „Da hast du recht. Aber wollen wir wetten, daß wir es gleich herauskriegen? Die Gelegenheit ist jetzt günstig.“
„Olivaro hat dich gewarnt“, entgegnete sein Nebenmann. „Du sollst das Mädchen nicht anrühren.“
Corvo kicherte. „Wer spricht denn von Anrühren? Oh, ich werde sie nicht mal schief anschauen, verlaß dich drauf.“ Er stieß den Kerl an. „Los, komm mit. Wir unterhalten uns ein wenig mit den beiden Engländer-Bastarden.“
„Und wir?“ fragte der dritte Kerl. Sein Kumpan schaute finster drein. Er wäre auch gern mitgegangen zu den Engländer-Bastarden.
„Ihr bleibt hier und haltet Augen und Ohren auf“, sagte Corvo. „Wir sind gleich wieder zurück. Und das Lager darf nicht unbewacht bleiben.“
„Die Fischer haben die Hosen voll“, widersprach der vierte Pirat. „Bei dem Gefechtslärm trauen die sich nicht, sich in ihr Dorf zu schleichen.“
„Das kann man nie wissen“, sagte Corvo mit einem Gesichtsausdruck, der darauf schließen ließ, daß er sich für einen überaus intelligenten Menschen und alle anderen für Schwachköpfe hielt.
Corvo und der zweite Pirat schritten zu der Hütte, in der Burl Ives und Farah Acton gefangengehalten wurden. Lauernd blickten sie sich nach allen Seiten um. Auf See tobte weiterhin das Gefecht. Hier, im Dorf, war alles ruhig und friedlich.
Corvo öffnete die Tür der Hütte und streckte seinen Kopf etwas vor. Er mußte an die Bemerkungen denken, die Guzman nach dem Überfall auf die Engländer-Karavelle von sich gegeben hatte. Es mußte schon was dran sein. Olivaro verheimlichte seiner Bande etwas. Vielleicht hatte der Kapitän Geld. Oder das Mädchen. Sie wollte sich freikaufen.
Ja, das mußte es sein. Und wenn sie das Geld nicht bei sich hatte, dann verwahrte sie es in ihrer Heimat. Und Olivaro, dieser dreimal verfluchte Hundesohn, hatte vor, mit den Geiseln nach England zu segeln und sich das Geld zu holen.
„Mann, ist das hier dunkel“, sagte der Kerl hinter Corvos Rücken.
„Warte, ich zünde ’ne Lampe an“, brummte Corvo. Er trat ein und pirschte durch den Raum. Fast stieß er sich die Hüfte am Tisch. Er fluchte und griff nach der Öllampe.
Plötzlich war ein Schatten hinter Corvo, aber es war nicht sein Cumpan. Corvo spürte die Gefahr mehr, als er sie sah, und er griff zur Waffe. Doch der Angreifer war schneller. Er stach mit einem Messer zu. Gleichzeitig preßte er Corvo eine Hand gegen den Mund.
Corvo sank zu Boden. Er wollte noch schreien, aber kein Laut drang aus seinem Mund. Ein glühendheißes Feuer fraß ihn von innen auf, Corvo krümmte sich auf den Bohlen und sah, hörte, fühlte, roch, schmeckte nichts mehr.
„Was is’n los?“ murmelte Corvos Kumpan. Er verharrte im Türspalt, kniff die Augen zusammen und versuchte, etwas zu erkennen. Da, neben dem Tisch, war das nicht Corvo?
Der Mann, den der Pirat schwach erkannte, war Domingo Calafuria. Er hatte Corvo niedergestochen, und jetzt ahmte er dessen Stimme nach.
„Ach, ich habe mich bloß gestoßen“, brummelte er. „Komm her.“
Der Pirat fiel auf den Trick herein und näherte sich dem Tisch.
„Wo ist denn die Lampe?“ fragte er.
Es war die letzte Frage, die er in seinem Leben stellte, denn in diesem Augenblick war Rodrigo hinter ihm – Rodrigo, der hinter der Tür gelauert hatte.
Ein schwerer Hieb traf den Schnapphahn im Nacken. Er krachte auf die Knie und stöhnte. Aber er hatte noch die Energie, das Entermesser zu zücken und zu Rodrigo herumzufahren. Rodrigo war auf der Hut. Er warf sein Messer – und auch dieser Feind war außer Gefecht gesetzt.
Vater und Sohn Calafuria schüttelten sich rasch die Hände.
„Gratuliere“, flüsterte Domingo. „Das hast du gut hingekriegt. Sag jetzt den anderen Bescheid, und wir führen Teil zwei unseres Planes aus.“
„Sofort.“
Von unten, aus dem Keller, in dem die Familie Calafuria selbst gefangen gewesen war, ertönte eine Männerstimme. Burl Ives hatte sich entschlossen, den Geräuschen auf den Grund zu gehen, die oben erklungen waren. Alles hatte sich ganz nach einem Kampf angehört.
„Wer ist da?“ fragte er.
Farah klammerte sich an seinem Arm fest. Sie hatte gräßliche Angst, und es gelang ihr nicht, das Zittern in ihren Knien zu bezwingen.
Domingo stieß seinen Sohn mit dem Ellenbogen an.
„Das sind die beiden Gefangenen“, raunte er. „Verstehst du, was der Mann sagt?“
„Kein Wort.“
Sie öffneten die Luke so leise, wie es möglich war, und Domingo flüsterte: „Versteht ihr Spanisch?“
„Ein bißchen“, entgegnete Burl Ives.
„Wir sind Freunde“, erklärte Domingo mit gedämpfter Stimme. „Wir haben soeben zwei Piraten außer Gefecht gesetzt. Wir wollen euch befreien.“
„Das kann nicht wahr sein“, sagte der Kapitän.
Er übersetzte Farah, was der Spanier gesagt hatte, und sie sank überglücklich in seine Arme.
Kurz darauf standen die beiden neben ihren Rettern. Rodrigo war unterdessen ins Freie gehuscht und hatte die anderen Fischer verständigt. Einer nach dem anderen betraten sie die Hütte, allen voran Hernán Zorba. Wie Verschwörer schüttelten sie Ives und dem Mädchen die Hände.
„Es sind noch zwei Piraten auszuschalten“, sagte Rodrigo.
„Nur zwei?“ fragte Ives. „Mit wem schlagen sich die anderen herum?“ Aufmerksam lauschte er dem Gefechtslärm.
Domingo setzte dem Kapitän auseinander, was sich zugetragen hatte, und Ives begriff nahezu alles. Wieder erklärte er es Farah Acton. Dann wandte sich der Kapitän an Domingo, Rodrigo und die anderen Fischer und wies auf die beiden toten Piraten.
„Ich habe eine Idee“, sagte er.
Aufmerksam lauschten die Fischer dem, was er ihnen in seinem gebrochenen Spanisch auseinanderzusetzen versuchte.
Etwas später gewahrten die Posten eine Gestalt, die in einer Gasse auftauchte und ihnen zuwinkte. Die Kerle hoben die Musketen und ließen sie sofort wieder sinken.
„Das ist Corvo“, sagte der eine.
In der Tat schien es sich um den raubvogelgesichtigen Schnapphahn zu handeln. Doch in Wirklichkeit handelte es sich bei dem Mann um Domingo. Er hatte sich Corvos Sachen angezogen, und noch einmal imitierte er