Seewölfe Paket 7. Roy Palmer
wollte der Seewolf dem Todfeind eine reelle Chance lassen, sich gegen ihn zu behaupten.
Bulbas zeigte sich völlig überraschend.
Sein Grollen flog auf den Baum zu. Hasard sah den mächtigen Leib, schwarz, braun und weiß gestreift. Bulbas mußte einen Nachbarbaum erklommen haben, nur so hatte er den Schlingen entgehen können.
Auf allen vieren landete er auf dem Ast, der von Hasards Gabel fortstrebte. Der Ast schwang bedenklich auf und ab, Hasard verlor fast den Halt. Er kämpfte um sein Gleichgewicht.
Bulbas fauchte, brüllte und glitt auf ihn zu. Er war ein zähnefletschender, krallenbewehrter Kämpfer, der auch dem hartgesottensten Mann das Fürchten beibrachte.
Schießen? Hasard besann sich auf seinen Plan. Er wich ein Stück zurück und ließ sich dann aus der Gabel zu Boden fallen. Gleichzeitig griff er nach dem Bogen und ließ den Radschloß-Drehling am Lederriemen herabbaumeln. Er landete, fing den Aufprall in den Kniekehlen ab und zog einen Pfeil aus dem Köcher.
Warum, dachte er, warum hast du das nicht eher getan?
Bulbas war grollend über ihm und schickte sich an, herabzuspringen und ihn unter seinem Gewicht, seinen scharfen Krallen zu begraben.
Hasard bewegte sich rückwärts und mußte aufpassen, nicht in die Schlinge zu geraten. Er legte den Pfeil auf die Bogensehne, spannte und schoß – der Pfeil zischte über Bulbas weg.
Der Tiger brüllte auf, Haß loderte in seinen gelben Lichtern. Er duckte sich sprungbereit. Hasard taxierte die Distanzen, drehte sich halb und sprang über den Bachlauf.
Bulbas sank aus dem Baum aufs Ufer, sein Aufsetzen geschah nahezu lautlos. Er schob sich auf den Menschen zu, flach, die Muskeln gespannt.
Dann spürte er die Nähe des Wassers und verhielt.
Hasard hatte einen zweiten Pfeil aufgelegt und ließ ihn schwirren. Die Spitze bohrte sich in Bulbas’ Schulterfleisch und hatte genug Schwung und Druck, sein Fell zu durchdringen. Grausig klang das Brüllen des Tieres in Hasards Ohren.
Bulbas flog über den Bachlauf, und nur ein gewaltiger Sprung zurück ins Dickicht rettete den Seewolf. Er fiel, rappelte sich wieder auf und nahm mit fliegenden Fingern einen dritten Pfeil.
Bulbas, der Mörder, der Amokläufer, schlich auf ihn zu.
Dann aber verfing er sich in der Schlinge.
Hasard nutzte seine Verwirrung, um den dritten Pfeil in seinen Hals zu schießen. Im nächsten Augenblick mußte er wieder ausweichen und zurückspringen, denn der Tiger wollte sich blind vor Zorn auf ihn werfen.
Eine Wurzel stoppte Hasard. Er strauchelte und fiel auf den Rücken. Der heiße, beißende Atem der Bestie war vor ihm. Eine Pranke raste auf ihn nieder und traf seine rechte Schulter. Siedender Schmerz durchzuckte den Körper des Seewolfs.
Es ist aus, dachte er, diesmal ist es wirklich aus.
Aber Bulbas konnte nicht mehr weiter. Die Schlinge hatte sich zusammengezogen und hielt seine Hinterläufe fest. Zwei Pfeile steckten in ihm, das Betäubungsmittel wirkte jetzt. Lasch setzte er seine Pranke auf den Boden und ließ ein langgezogenes Stöhnen ertönen. Dann sank er auf die Seite. Seine Läufe regten sich noch träge, aber dann hörte auch das auf.
Hasard blutete, war zerschunden und mit Schmutz besudelt. Aber die Verzweiflung glitt von ihm ab. Er sprang auf und stieß den alten Kampf- und Siegesschrei der Seewölfe aus.
„Arwenack! Ho, Ar-we-nack!“
1.
Rasch und unregelmäßig, fast fliegend ging der Atem des jungen Kriegers. Immer wieder verhielt er und lauschte in den nächtlichen Dschungel. Mangrovenblätter umschlossen schwer und ledrig seine Gestalt, als wollten sie ihn niederringen und erwürgen.
Geräuschvolle Aktivitäten belebten den Regenwald von Rempang, aber es war nicht das Zirpen und Quaken, das Schlagen der Nachtvögel, das Rascheln und Knacken, das den Inselmalaien beunruhigte.
Der Tod nahte schleichend, lautlos.
Mannigfache Gefahren lauerten in dem erstickenden Wildwuchs der feuchten, schwartigen Pflanzen, aber nur die eine fürchteten die Orang Laut, die Seemenschen, wirklich. Sie ließ jegliche andere Bedrohung neben sich verblassen, jede Giftschlange, jeden angriffslustigen Affen, jeden Stich, jede Krankheit, von Insekten oder von bösen Geistern übertragen.
Bulbas, der Einzelgänger. Bulbas, der größte und am schönsten gezeichnete Tiger, den es auf Inselindien je gegeben hatte, war der unumschränkte Herrscher des Urwalds.
Legenden wurden über ihn erzählt, schaurige Geschichten, doch die Orang Laut hatten, als sie vor den Spaniern geflüchtet waren, nicht geahnt, daß der Amokläufer ausgerechnet auf dieser Insel anzutreffen war. Als sie ihm dann begegnet waren, tief im Dschungel, hatte der Tiger vier von ihnen gerissen. Einem fünften Mann war trotz seiner Verletzungen die Flucht zum Wasser gelungen, den anderen jedoch hatte Bulbas den Weg zurück zu den Prahos abgeschnitten – Männer, Frauen, Kindern.
Halb wahnsinnig vor Angst hatten sie Zuflucht in Höhlen und Erdlöchern der höhergelegenen Inselregion gesucht.
Der junge Krieger packte seine Waffen fester. In der linken Hand hielt er den Kris, den schlangenförmig gewundenen Krummdolch der Malaien. Die Finger der Rechten umspannten das Heft eines mit Akribie scharfgeschliffenen Parangs, eines Kurzschwerts, dessen Klinge sich nach vorn leicht verbreiterte.
Mit beiden Waffen konnte der Eingeborene ausgezeichnet umgehen, aber er wußte wie seine Stammesbrüder, daß Kris und Parang im Kampf gegen den Tiger ebenso lächerlicheVerteidigungsmittel waren wie Speer, Pfeil und Bogen oder Blasrohr. Bulbas war so schnell, so gewandt, daß es bisher niemandem gelungen war, ihm etwa einen giftigen Pfeil unter das Fell zu jagen.
Der junge Mann pirschte weiter.
Überall konnte Bulbas lauern. Vielleicht befand er sich bereits ganz dicht hinter seinem Widersacher. Oder duckte er sich hier, linker Hand, sprungbereit im Gebüsch? Und rechts? Konnte er nicht auch rechts sein und das dolchscharfe, nadelspitze Gebiß mordgierig entblößen, die krallenbewehrten Pranken heben?
Kurz zuvor glaubte der Krieger jenes unheimliche Grollen vernommen zu haben, das Bulbas’ Kommen ankündigte.
Schweiß bedeckte das Gesicht und den Körper des jungen Orang Laut, und er ertappte sich dabei, wie er zitterte.
Ja, er hatte Angst.
Sie wurde von der Gewißheit genährt, diesem mächtigen Gegner von vornherein unterlegen zu sein. Freiwillig hatte der Krieger sich gemeldet, aber in diesem Augenblick erschrak er vor dem eigenen Mut. Doch er bezwang seine aufsteigende Panik. Die Wassernomaden, sein Stamm, hatten ihn als Retter in der Not vorgeschickt, sie warteten darauf, daß er sich auf ein mörderisches Duell mit Bulbas einließ.
Als menschlicher Köder sollte der junge Mann die Aufmerksamkeit des Tigers auf sich lenken, während die Brüder und Schwestern des Stammes den Durchbruch zur See wagten. Dort unten, im Süden von Rempang, hatten sie am späten Nachmittag Schiffe gesichtet, große und kleine Prahos sowie einen stolzen Dreimaster in der Konstruktionsart der weißen Männer, die die Malaien wie den Tod haßten. Die Prahos schienen jedoch das Geschehen zu bestimmen, und so hatte der Häuptling der Orang Laut befunden, daß man von diesen Ankömmlingen Hilfe erhoffen könne.
So schnell wie möglich wollten sie ans Ufer stürzen und zu den Schiffen schwimmen.
Im Interesse der Gemeinschaft konnten sie sich dabei um den jungen Krieger nicht mehr kümmern. Er mußte fallen, wenn die anderen leben sollten.
Ein Opfer war nötig.
Der junge Mann hatte die Niederungen der Insel erreicht und strebte durch Sumpfgesträuch voran, als ihn ein Laut zusammenfahren und erneut verharren ließ.