Seewölfe Paket 18. Roy Palmer
dem Rudergänger sofort Anweisung, und Mister Boyd scheuchte die Männer an die Brassen. Barba, ihr Erster Steuermann, der die Nacht über auf dem Hauptdeck verbracht und die Segelmänöver geleitet hatte, enterte zum Achterdeck auf. Er war ein Riese von Gestalt, und sein Gesicht war über und über mit Narben bedeckt. Er sah aus wie ein fürchterlicher Schlagetot reinsten Wassers, aber dieser Barba genoß das Vertrauen der Roten Korsarin. Er war ein grundehrlicher Kerl, der sich jederzeit für die Rote Korsarin in Stücke schlagen ließ, bevor er duldete, daß auch nur irgend jemand seine Pfoten nach ihr ausstreckte, ohne daß sie es selber erlaubt hätte.
Darüber hinaus Verfügte Barba aber auch über ein paar Augen, die es an Schärfe mit denen Dan O’Flynns auf der „Isabella IX.“ aufnahmen.
„Ich habe es auch gesehen, Siri-Tong“, sagte er. „Schlangenkriegerinnen befinden sich an Bord, wenn mich nicht alles täuscht, Tatona.“
Die Rote Korsarin, die bestimmt ebenfalls über hervorragende Augen verfügte, blickte Barba nur an. Es war nicht das erstemal, daß dieser Riese sie in Erstaunen versetzte. Aber sie sagte nichts – sie war jedoch gespannt darauf, wie Barba das hatte sehen können, denn die Sonne war noch nicht hoch, über der See lag noch graue Dämmerung.
Barba lächelte, denn er las den Unglauben auf dem Gesicht der Roten Korsarin.
„Sie haben an Bord eine Schiffslaterne entzündet. Sie schwenken sie hin und her, und das gibt genügend Licht für Barbas Augen!“
Die Rote Korsarin eilte zum Schanzkleid, während der große Viermaster nach Backbord herumschwang – und dann sah sie es auch. Das Auslegerboot, das beinahe vor dem Wind herlief und ein großes Dreiecks-Mattensegel gesetzt hatte, näherte sich „Roter Drache“ rasend schnell.
„Tatona – es ist Tatona!“ Araua konnte sich nicht beherrschen. Siri-Tong ließ sie lächelnd gewähren, denn überdeutlich hatte sie gespürt, wie die Sorge um ihre Mutter Araua bedrückt hatte. Aber nicht nur die um ihre Mutter, sondern auch die um alle anderen Schlangenkriegerinnen, die Araua alle seit langem kannte, und die sich oft um sie gekümmert hatten, als sie noch ein Kind war. Die sie vieles gelehrt hatten, als aus dem kleinen Mädchen eine heranwachsende junge Kriegerin wurde. Diese Schlangenkriegerinnen der Tempelwache, das wußte Siri-Tong nur zu gut, lebten miteinander wie eine große Familie, sie hatte genügend Beispiele davon erlebt.
Das Auslegerboot vollführte eine rasche Wendung, dann schor es auch schon längsseits, und eine der Schlangenkriegerinnen fing geschickt die Leine auf, die ihnen von Bord des Viermasters zugeworfen wurde.
Eine Jakobsleiter klatschte die Bordwand herab, dann enterten die fünf Schlangenkriegerinnen auf.
Noch ehe Tatona etwas zu sagen vermochte, war die Rote Korsarin heran. Alle Schlangenkriegerinnen, Tatona ausgenommen, wiesen Brandmale und Peitschenstriemen auf, die noch nicht einmal vernarbt waren.
Das Gesicht Siri-Tongs wurde hart, und auch über Arauas Nasenwurzel gruben sich zwei steile Falten in ihre sonst makellos glatte Haut.
„Man hat euch gefoltert!“ stellte die Rote Korsarin fest, und der Zorn schoß in ihr empor. „Was ist sonst noch geschehen, Tatona?“ fragte sie, und Tatona wußte sofort, worauf Siri-Tong anspielte. Doch sie schüttelte den Kopf.
„Nein, das nicht, Siri-Tong. Sie haben es nicht gewagt, jedenfalls nicht vor unserer Flucht. Arkana hat ihnen ihre Macht demonstriert, und das war ein Schock für sie. Der Black Queen sind vor Schreck fast die Augen aus den Höhlen gequollen, und ich weiß, daß Arkana sie hätte töten können. Aber auch Caligula, ihr Unterführer, hat vor Entsetzen die Augen gerollt. Ich denke, sie haben es nicht wieder versucht. Wenn ja, dann werden sie es büßen. Beim Schlangengott, Rote Korsarin, dann wird unsere Rache sie treffen, alle, ohne jede Ausnahme!“
Siri-Tong störte der Kreis, den ihre Crew um sie und die Schlangenkriegerinnen gebildet hatte, in diesem Moment nicht, obwohl sie dergleichen sonst nicht duldete. Bis auf Barba bestand ihre Crew aus Engländern, die aber inzwischen als solche rein äußerlich gar nicht mehr zu erkennen waren. Siri-Tong hatte diese Männer einst aus der Gewalt El Supremos, des größenwahnsinnigen Herrschers über Bora-Bora, befreit, und die Männer hatten sich entschieden, bei ihr zu bleiben.
Siri-Tong war einen Schritt zurückgetreten.
„Black Queen, Caligula? Hast du eben diese Namen genannt, Tatona?“ vergewisserte sie sich.
Tatona nickte, dann beschrieb sie die beiden, und auch die große dreimastige Galeone, die in der Bucht geankert hatte. Anschließend schilderte sie alles, was sich zugetragen hatte, seit das Unwetter über der Karibik losgebrochen war.
Siri-Tong und die anderen hörten schweigend zu. Dann legte die Rote Korsarin Tatona die Rechte schwer auf die Schulter.
„Diese Black Queen ist gefährlich. Sie will die Herrschaft über die Karibik. Nun, wir werden sehen, ob sie sie erringen kann. Wir nehmen jetzt Kurs auf die Caicos-Inseln, aber wir werden erst in der kommenden Nacht über die Piraten der Black Queen herfallen. Das aber wird so plötzlich geschehen, daß sie keine Chance mehr zur Gegenwehr hat. Sie kann jetzt noch nicht damit rechnen, daß Hilfe kommt, zumal sie wohl auch nicht weiß, daß Arkana und ihr alle zur Schlangeninsel gehört.“
Tatona sah die Rote Korsarin an.
„Vergiß nicht, sie hat Arkana und die anderen als Geiseln. Sie wird nicht zögern, sie zu töten, und wir werden nicht schnell genug sein, das zu verhindern.“
Die Rote Korsarin lächelte.
„Arkana wird zur gleichen Stunde frei sein, in der mein Viermaster mit geöffneten Stückpforten in die Bucht einsegelt. Keine Sorge, Tatona, Barba versteht sich auf solche Unternehmen, du und ich, wir werden ihn mit deinen Schlangenkriegerinnen begleiten …“
„Ich ebenfalls, Siri-Tong, das bin ich meiner Mutter …“
Siri-Tong drehte sich um.
„Nein, Araua, du bleibst an Bord. Ich habe die Verantwortung für dich. Niemand zweifelt an deinem Mut, aber Arkana würde es mir nie verzeihen, wenn dir etwas zustößt. Die Black Queen ist samt Caligula eine der gefährlichsten Gegnerinnen, die ich mir vorstellen kann. Du bleibst hier, und wenn ich dich an einen der Masten binden lassen muß! Mein letztes Wort.“
Araua stand wie erstarrt. Sie kannte die Rote Korsarin, und sie wußte, daß es unmöglich war, sie um den Finger zu wickeln, wie sie es beim Wikinger stets vermocht hatte, wenn sie etwas durchsetzen wollte.
Tatona nahm Araua zur Seite.
„Siri-Tong hat recht, Araua. Du solltest auf Siri-Tong hören, sie meint es gut, und sie ist wirklich für dich verantwortlich. Füge dich, Araua, mach uns keine Schande, versprichst du mir das?“
Araua fügte sich, auch wenn es ihr so schwerfiel wie noch nie zuvor.
Tatona strich ihr übers Haar.
„Du bist erwachsen, Araua. Du wirst einst unsere Hohepriesterin sein. Niemand von uns kann dir noch Befehle erteilen. Aber als Hohepriesterin mußt du wissen, daß vor dem Gefühl der Verstand zu siegen hat. Dies hat deine Mutter immer befolgt – nur so überlebten wir die Hölle von Mocha. Sei unbesorgt – wir retten Arkana. Und noch weißt du ja gar nicht, ob der Schlangengott dir nicht eine ganz besondere Aufgabe zugedacht hat. Warte es ab …“
Araua blickte Tatona an. Immer hatte Tatona es verstanden, ihr bei all den kleinen und auch großen Schwierigkeiten ihres jungen Lebens mit Rat und Tat zu helfen.
„Warte, Tatona, ich möchte dir noch etwas erzählen. Im Schlangentempel hat sich etwas zugetragen …“ Und sie berichtete der überraschten Tatona, daß der Schlangengott verlangt hatte, Siri-Tong zu ihm in seinen Tempel zu führen. Tatona erfuhr auch von dem Auftrag, den der Schlangengott ihr, Araua, Siri-Tong und seiner Hohepriesterin Arkana gegeben hatte.
Eine ganze Weile, nachdem Araua ihr alles berichtet hatte, schwieg Tatona. Dann fuhr sie Araua wieder über das schwarze, lange Haar.
„Höre immer gut darauf, was Siri-Tong dir sagt, Araua. Sie gehört jetzt zu den Vertrauten des Schlangengottes.