Operation Terra 2.0. Andrea Ross

Operation Terra 2.0 - Andrea Ross


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Observatorium. Marit taucht dort so gut wie niemals auf. Sie toleriert mein Hobby zwar halbwegs, aber teilen oder gar verstehen kann sie es offenbar zeitlebens nicht. Wir haben mit den Jahren eine Art Waffenstillstand erreicht. Ich darf nach Herzenslust HansguckindieLuft spielen, sie dafür zweimal pro Woche in ihren sauteuren Yogakurs gehen.«

      Solaras stellte das Gerät mitten in Rainalds Hobbyraum, aktivierte es. Schon als sich die samtene Schwärze überall ausbreitete, musste der Gastgeber sich mit weit aufgerissenen Augen hinsetzen. Sein Gesicht sah aus, als würde er jeden Augenblick einen Schlaganfall erleiden.

      Der Asteroid rauschte an ihm vorbei. »Das ist … das ist … «, stammelte er. Mehr brachte er nicht heraus. Nach dem dumpfen Einschlag hob er unwillkürlich die Füße von der brennenden Erdoberfläche, stellte sie auf die Vorderkante des Sessels und umschlang die Knie mit den Armen.

      Die Vorstellung war vorüber. Rainalds Hände zitterten, doch die Augen strahlten. »Und das blüht der Erde tatsächlich? Du meine Güte … ich habe erkannt, woher der Asteroid geflogen kam. Die Sonne muss ihn wohl lange vor irdischen Blicken verborgen haben, er war wie ein Geisterfahrer unterwegs. Das für die Asteroidensuche eigens letztes Jahr reaktivierte Infrarotteleskop Wise würde ihn viel zu spät entdecken. Kann man die Datenfolgen auch ohne die restliche Aufzeichnung abspielen?«, japste Hemmauer ergriffen.

      Solaras zog ein paar Blatt Papier aus seiner Tasche. »Natürlich. Ich habe sie in ausgedruckter Form mitgebracht. Sie sind übrigens der Erste, der sich mit der Möglichkeit befassen will, dass wir die Wahrheit sagen. Mithilfe der Berechnungen können Sie die Flugbahn anhand Ihrer Himmelskarte nachvollziehen. Vielleicht verstehen Sie jetzt, weshalb wir die Terraner … also, die Erdbevölkerung, warnen wollen. Die berechtigte Frage ist nur: Wie sollen wir das bewerkstelligen? Und werden Sie uns dabei helfen?«

      Hemmauer antwortete spontan. »Selbstverständlich, unbedingt! Leute … entweder seid ihr und dieser Asteroid die Entdeckung des Jahrhunderts, oder ich bin soeben auf den besten Schwindel ever hereingefallen. Wann soll das Ding auf der Erde einschlagen?«

      »Nicht zu unseren Lebzeiten, es dauert noch ein paar Generationen. Berechnet ist der 5. April 2272 hiesiger Zeitrechnung. Aber wirksame Vorkehrungen zur Abwehr dieses Planetenkillers kann man ja kaum von heute auf morgen treffen, da sind hundert Jahre schneller vorbei als man denkt.«

      »Stimmt! Es müssen erst neue Technologien entwickelt oder Evakuierungsmöglichkeiten für die Menschen geschaffen werden. Man muss so früh wie möglich damit anfangen, Möglichkeiten auszuloten.

      Klar … ich helfe euch, die Gefahr publik zu machen. In der offiziellen Fachwelt werden wir allerdings nicht weit kommen. Mein Ruf dort ist … hm … nicht der beste. Dieses Schicksal teilen die meisten Amateurastronomen, sie werden eher belächelt als dass man sie ernst nehmen würde. Wir sollten uns besser der sozialen Netzwerke sowie You Tube bedienen, um die Sache innerhalb kürzester Zeit auf breiter Front in die Öffentlichkeit zu tragen.

      Irgendwann müssen sich dann auch die renommierten Wissenschaftler damit befassen, schon weil sie äußerst interessiert daran sein werden, die vermeintlich getürkte Aufzeichnung zu widerlegen – was ihnen gleichwohl kaum gelingen dürfte. Ich überlege mir was! Bierchen gefällig?«

      Halbwegs zufrieden, aber total erschöpft, fuhren Kalmes und Solaras nach ausgiebigem Brainstorming und zwei Bieren in den frühen Morgenstunden nach Hause. Es ging auf der reifglatten Straße nur langsam voran. Die Fahrt und der nachfolgende Arbeitstag versprachen hart zu werden.

      

       Terra, 19. Juli 2028 nach Christus, Mittwoch

      

      Zum dritten Mal an diesem Tag bebte die Erde am Golf von Neapel. Um 11:28 Uhr Ortszeit begann der Boden zu zittern, im Hafenbecken kräuselten sich die Wellen im Rhythmus der Erschütterungen. Die Einwohner der Großstadt schraken auf, blieben wie gelähmt auf der Straße stehen oder unterbrachen ihre jeweilige Tätigkeit. Mancherorts fielen lockere Dachziegel zu Boden.

      Furcht machte sich in der Bevölkerung breit. In den Nachrichtensendungen diskutierten sich renommierte Seismologen die Köpfe heiß, ob die jüngste Serie von Schwarmbeben und die sechs stärkeren Ereignisse mit einer Magnitude zwischen 3,1 und 4,7 auf der Richterskala seit vergangenem Freitag als Vorboten von etwas weitaus Schlimmerem zu bewerten seien. Manch ein Bewohner Neapels überlegte bereits, ob er seine Familie aus der bedrohten Stadt schaffen sollte.

      Unter solchen Umständen erinnerten sich die Leute schlagartig daran, dass man eigentlich in einer brandgefährlichen Gegend lebte. Direkt am westlichen Stadtrand begannen die Phlegräischen Felder, eine Gegend von rund hundertfünfzig Quadratkilometern Durchmesser mit extrem hoher vulkani scher Aktivität, die sich unterseeisch bis zu den Inseln Ischia, Procida und Nisida fortsetzte. An Land gab es Thermalquellen und Fumarolen, giftige Schwefeldämpfe stiegen an zahlreichen Stellen auf und färbten das Gestein gelb. Die bestens erhaltenen Ruinen von Pompeji legten ein beredtes Zeugnis davon ab, wozu der Vesuv fähig war.

      Erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts war durch ein internationales Konsortium von namhaften Vulkanologen festgestellt worden, dass der aktive Vulkan und die besagten Phlegräischen Felder eine gemeinsame Magmakammer besaßen, deren gewaltiger Umfang das gesamte Gebiet zu einem sogenannten Supervulkan machte. Seit dem Jahr 2012 hatten die Forscher zudem verstärkte unterirdische Aktivitäten festgestellt, weshalb der italienische Zivilschutz die Warnstufe für das Gebiet dauerhaft erhöht hatte.

      Bis vor ein paar Wochen hatte diese Tatsache niemanden in besonderem Maße geängstigt. Die mehr als eine Million Neapolitaner lebten seit Generationen mit der abstrakten Gefahr, sie liebten ihre Stadt über alles. Doch nun, da die Erdbeben den Boden unter ihren Füßen schwanken ließen, erinnerten sie sich unangenehm an die Schauergeschichten ihrer Großeltern, die im Jahr 1944 einen leichteren Ausbruch des Vesuvs miterleben hatten müssen. Seither schlummerte der trügerische Feuerberg, zierte das Panorama der Postkarten Neapels. Kündigte sich nun eine neue Phase der Aktivität an?

      Man benötigte eine Vorwarnzeit von mindestens zwei Wochen, um sämtliche Einwohner des dicht besiedelten Gebietes im Rahmen des Il Programma Vesuvìa – la scelta possibile zu evakuieren. Touristen aus aller Herren Länder, die beim entspannten Stadtbummel die PiktogrammSchilder zur Markierung der Fluchtwege entdeckten, verspürten meist kribbelnde Schauder, die ihnen die Wirbelsäule entlang liefen – und vergaßen dieses beunruhigende Gefühl der latenten Gefährdung gleich wieder, sobald sie sich bei strahlendem Sonnenschein und einem lauen Sommerlüftchen in einem der vielen Straßencafés niederließen. Jedenfalls war das bis zu jener Woche im Juli 2028 so gewesen.

      Zum Zeitpunkt des neuerlichen Erdbebens befanden sich auch Solaras und Kalmes in Neapel. Sie warteten am Bahnhof Napoli Centrale auf den Nachtzug, der sie in rund einer halben Stunde über Rom zurück nach Deutschland befördern sollte.

      Seit sich die Simulation des zu erwartenden Asteroideneinschlags mit Rainald Hemmauers Hilfe über YouTube, Instagram und ähnliche Plattformen im Netz verbreitete, wurden die beiden ehemaligen Tiberianer gelegentlich von Sternwarten zu Gesprächen eingeladen. Meist allerdings leider nicht, weil die dort arbeitenden Astronomen der Warnung vor dem Asteroid Glauben schenken wollten, sondern weil sie die tolle Machart des wirklichkeitsgetreuen 3DFilms brennend interessierte. Wie schon damals in Potsdam, so konnte man sich auch andernorts eine Verwendung dieser Technik für Seminare und Kurse für Studenten vorstellen.

      Insgesamt fiel das Echo im Internet bislang frustrierend aus. Jede Menge abgedrehte Endzeitjünger, selbst ernannte Katastrophenpropheten und andere Spinner kontaktierten Solaras und Kalmes, nur die wenigsten Zuschriften waren ernst zu nehmen. Als die schriftliche Anfrage des Osservatorio Astronomico di Capodimonte Napoli aus Italien gekommen war, hatte Solaras achselzuckend zu seiner Gefährtin gesagt:

      »Komm, lass uns einfach hinfahren. Italien muss wunderschön sein zu dieser Jahreszeit. Ich gebe die Hoffnung immer noch nicht auf, dass ich in solch einer Einrichtung einen Job finden könnte. Es muss doch zwei, drei Leute geben, die mich als Wissenschaftler gebrauchen könnten, meinen Wert erkennen. Ich habe es


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