Operation Terra 2.0. Andrea Ross

Operation Terra 2.0 - Andrea Ross


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mal jemand auf die Probe stellen, anstatt wichtigtuerisch Zeugnisse und Referenzen zu verlangen.«

      Diese Hoffnung hatte sich auch auf dem Capodimonte nicht erfüllt. Dennoch, bis zu den beängstigenden Erdstößen vor einigen Minuten hatten sie den Trip nach Kampanien in vollen Zügen genossen.

      »Hast du gesehen? An der Säule vor uns hat sich ein Riss gebildet. Es kam Staub von der Decke. Solaras, mir wäre lieber, wir würden im Freien auf dem Bahnhofsvorplatz warten. Es ist ja noch Zeit bis zur Abfahrt«, sagte Kalmes beunruhigt. Ihr Blick schweifte prüfend umher.

      »Falls der Zug überhaupt noch fährt. Wir wissen nicht, ob bei dem Beben Gleise beschädigt wurden. Es war ganz schön heftig«, sinnierte Solaras voller Sorge.

      In einem Pulk von weiteren, mehr oder weniger stark aufgeregten Fahrgästen strömten sie auf die Piazza Giuseppe Garibaldi hinaus. Man diskutierte gestikulierend, mutmaßte und fürchtete sich.

      Plötzlich sorgte ein ohrenbetäubender, dumpfer Schlag, der die gesamte Stadt erzittern ließ, für banges Innehalten.

      »Um Himmels willen, was war das denn?«, wisperte Kalmes erschrocken. Sie war im Gesicht kreidebleich geworden. Aller Augen richteten sich nach Südosten. Hochhäuser verstellten den Blick; die Einheimischen wussten jedoch sehr genau, dass dort der Vesuv über der Stadt thronte. Sirenengeheul ertönte, es kam augenblicklich Bewegung in die Massen.

      Den FluchtwegMarkierungen zum Trotz, liefen die Leute in ihrer Panik wild durcheinander. Die einen wollten zu Hause nach ihren Lieben sehen, andere wiederum zur nächstbesten Ausfallstraße gelangen, nur möglichst weit weg vom Feuerberg. Innerhalb weniger Minuten bildete sich auf den Straßen eine unüberschaubare Blechlawine, die kein Fahrzeug mehr vorankommen ließ. Überall krachte Metall aufeinander. Niemand wusste, was da genau vor sich ging, nur dass sich etwas Katastrophales ereignet haben musste. Die Menschen in den Orten Ottaviano, Torre del Greco, San Giuseppe Vesuviano und San Giorgio a Cremano hingegen wurden zu unfreiwilligen Zeugen, wie der in der Magmakammer des Vulkans über die Jahre stetig angewachsene Druck den Pfropfen aus Gestein und erkalteter Lava durch den Vulkanschlot heraus schleuderte. Die gesamte Spitze wurde weggesprengt.

      Danach stieg eine Eruptionssäule aus heißem Wasserdampf, Kohlenstoff und vulkanischem Auswurf über dem Kegel auf. Das 750 Grad heiße Magma spritzte mit Überschallgeschwindigkeit aufwärts, schwarze Lavabomben schlugen mit zweihundert Stundenkilometern in der Umgebung ein. Danach blies ein Gasstrahl das fein zerriebene Gestein der glühenden Schlotwände bis hinauf in die Stratosphäre. Der mäßig starke Wind trug leichtere vulkanische Produkte nach Südosten. Ein dichter Niederschlag aus Asche und Bimssteinen fiel auf die Häuser der umliegenden Ortschaften, tauchte die Landschaft in düsteres Grau.

      Solaras und Kalmes stiegen geistesgegenwärtig in ein Taxi.

      »Aus der Stadt, aber auf schnellstem Weg!«, kommandierte Solaras keuchend.

      Der ältere Mann starrte nur teilnahmslos aufs Armaturenbrett, schüttelte immer wieder den roten Kopf. Er schwitzte stark, hyperventilierte. Draußen hallten Schreie der Verzweiflung durch die Straßen. Er stand wohl unter Schock.

      »Haben Sie nicht gehört, was ich sagte? Sie sollen losfahren!«, schrie Solaras. Kalmes kauerte sich im Fond zusammen und wimmerte vor Angst.

      Endlich drehte der Fahrer mit irrem Blick den Zündschlüssel, lenkte das Fahrzeug mit hektischen Bewegungen in Richtung der Ausfahrt. Doch dort war kein Vorwärtskommen. Ein Auto reihte sich an das andere, nahezu jedes hupte. Alle wollten nach Westen, weg vom Vulkan. Sie konnten ja nicht ahnen, dass genau dort, in den Phlegräischen Feldern, aus mehreren Eruptionsherden ebenfalls grell leuchtende Feuerfontänen gen Himmel stiegen. Die Ortschaft Pozzuoli war bereits verloren.

      Solaras sprang kurz entschlossen aus dem Taxi, zog seine Begleiterin vom Rücksitz. Er packte ihre Hand, begann zu rennen. »Es hat keinen Sinn, wir müssen zu Fuß fliehen! Uns wird nur wenig Zeit bleiben, die Stadt zu verlassen, vielleicht zwei bis drei Stunden. Wir sollten uns nach Norden wenden, dort liegt meines Wissens der Flughafen. Ich habe allerdings keine Ahnung, ob dort noch Maschinen starten können. Vulkanasche kann die Triebwerke der Jets lahmlegen.«

      Am Nachmittag, etwa fünf Stunden nach dem Beginn des Ausbruchs, war Neapel mit einer mehr als fünfzig Zentimeter dicken Schicht vulkanischen Materials bedeckt, und die Dächer der halbverlassenen Stadt begannen einzubrechen. Der leer geschossene Schlot des Vulkans stürzte mehrfach ein und wurde anschließend durch heftige Explosionen wieder freigeräumt. Die AscheEruptionen steigerten sich, in der Stadt fiel der Strom aus. Kalmes und Solaras hatten ihre dünnen Sommerjacken über die Köpfe gezogen, atmeten durch Papiertaschentücher.

      Gegen Mitternacht, etwa zwölf Stunden nach dem Beginn, erreichte die erste Eruptionsphase ihren Höhepunkt. Sie war von heftigen vulkanischen Erdbeben begleitet, die viele Häuser vollends zum Einsturz brachten. Ein wolkenbruchartiger Eruptionsregen an der Westflanke des Feuer speienden Vulkans verwandelte die scharfkantigen Aschepartikel in zerstörerische Schlammströme, auch Lahare genannt. Sie ergossen sich zu Tal und vernichteten alles, was in ihrem Weg lag.

      Ein erster pyroklastischer Strom überrollte mit achthundert Stundenkilometern den Südosten Neapels und tötete zahlreiche Menschen, die am Ufer der Bucht Schutz gesucht hatten. Alle verfügbaren Boote waren gleich zu Beginn der Katastrophe in See gestochen, um dem Feuerinferno zu entkommen. Die zurückgebliebenen Leute saßen in der Falle, vor sich den tobenden Vulkan und hinter sich die aufgewühlte See. Beim schweren Ausbruch im Jahr 79 nach Christus war Ähnliches im benachbarten Herculaneum geschehen – nur mit erheblich weniger Menschen.

      Der Zusammenbruch der Eruptionssäule generierte mehrere Phasen. Er erzeugte fünf mit schwerem Material stark gesättigte, glühend heiße Ströme, deren schiere Wucht die aus den Fallablagerungen herausragenden Häuser zerstörte und den allerletzten Überlebenden im östlichen Teil Neapels und den Dörfern rings um den Krater den schnellen Tod brachte. Die Ausgrabungsstätte von Pompeji erlebte ein schreckliches Déjàvu.

      Solaras und Kalmes waren über die Via Arenaccia und die Calata Capodichino in Richtung des Internationalen Flughafens geflüchtet. Um sie herum tobte ein Meer aus Fahrzeugen, zusammenbrechenden Gebäuden und aschgrauen Menschen, die kraftund ziellos umherirrten. Es gab auch zu Fuß nahezu kein Vorwärtskommen. Verlassene Autos standen mit offenen Türen mitten auf der Fahrbahn, die mittlerweile mehr an einen unstrukturierten Parkplatz erinnerte.

      Die Zufahrt zum Flughafen kam im Morgengrauen in Sicht. Als die erschöpften Tiberianer dort voller Entsetzen feststellen mussten, dass der Flugbetrieb längst eingestellt war und das Passagierterminal, verlassen und seiner riesigen Fensterscheiben beraubt, nutzlos und völlig verwaist im gelblichen Zwielicht des Ascheregens lag, brach Kalmes weinend zusammen. Solaras kniete sich entkräftet neben sie, barg ihren Kopf in seinen Armen. Zärtlich strich er ihr mit einem Ärmel seines Hemdes den schmierigen grauen Belag vom Gesicht. Rehbraune, von Lachfältchen umgebene Kulleraugen sahen ihn forschend an.

      »Bereust du, dass wir von Tiberia geflüchtet sind? Dort gäbe es keine Vulkane und auch keine Erdbeben«, fragte er.

      »Nein. Wenn es so kommen soll, sterben wir hier eben zusammen. Ich liebe dich bis zu meinem Lebensende, das habe ich dir geschworen. Wenn es sein muss, auch jetzt gleich. Wir sind frei, Solaras, und wir kannten das Risiko. Am Ende muss man hier auf Terra immer bezahlen, das habe ich gelernt.«

      Der sechste und zugleich letzte pyroklastische Strom bäumte sich in diesem Moment drohend hinter dem Flugfeld auf. Er überrollte nur Sekunden später als mächtige todbringende Glutwalze die beiden Liebenden.

      

       Terra, 01. März 2051 nach Christus, Mittwoch

      

      Thomas Maier saß nach seiner Augenoperation wieder den ersten Tag vor der riesigen, leicht gebogenen Plexiglasfläche, auf der sich, jetzt gestochen scharf, das Bild einer Marslandschaft erstreckte. Er hatte sich nach dem Willen seiner Ehefrau Sheila lasern lassen müssen, um seine altmodischen, dicken Brillengläser endlich loszuwerden. Das jahrzehntelange, angestrengte Starren


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